Schlagwort: Linksradikalismus

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Slavoj Žižek – Blasphemische Gedanken – Islam und Moderne (2015)

Ratlose Beschwörung von linkem Wunschdenken aufgrund falscher Analyse

Slavoj Zizek gibt sich klar als linker Denker zu erkennen, der in der Schreckensherrschaft des Kommunismus und seiner Massen- und Völkermorde lediglich eine „Reaktion“ auf die „Zumutungen“ des liberalen Kapitalismus sieht. Dieser immerwährende Grundirrtum linken Denkens, der die vergleichsweise harmlosen Zumutungen des Kapitalismus (von den segensreichen Seiten des Kapitalismus ganz zu schweigen) als Ursache für die grausamen Taten des Kommunismus ansieht, könnte übergangen werden, wenn Zizek nicht denselben Grundirrtum in bezug auf den Islam beginge. Denn nun ist auch der grausame Islamismus für Zizek nur eine Reaktion auf die „Zumutungen“ des Westens. Für Zizek ist der Islamismus lediglich eine moderne Erscheinung. Dass hier wie beim Kommunismus eine falsche Ideologie bzw. religiöse Tradition dahintersteht, kommt nicht zum Ausdruck. Es ist dasselbe falsche Denken wie bei Peter Scholl-Latour: Wie wenn der islamische Traditionalismus nur deshalb grausam wäre, weil es einst den Kolonialismus gab, und heute die USA. Was für ein Unsinn! Denn die Geschichte der islamischen Grausamkeit reicht weit in die islamische Geschichte zurück.

Falsche Analyse

Zizek sieht die von ihm diagnostizierte liberale Zumutung u.a. darin, dass das westliche Denken von jeder Kultur verlangt, sich einzufügen in den liberalen Universalismus. Doch ist das überhaupt eine Zumutung? Es geht doch lediglich darum, dass die Kulturen falschen Traditionalismus überwinden und dadurch auch in ihrem je eigenen Sinne glaubwürdiger werden. Das Christentum hat durch den Fortschritt der Aufklärung sehr profitiert und zu seinen eigenen Wurzeln zurückgefunden. Die katholische Kirche ist durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht unglaubwürdig geworden, im Gegenteil: Die katholische Kirche ist immer noch konservativ – aber sie ist eben (weitgehend) nicht mehr traditionalistisch. Wo soll hier die Zumutung sein?

Das Problem mit dem Islam ist in Wahrheit doch, dass der Islam in einem riesigen Reformstau steckt, der sichtbar wurde, als er mit der westlichen Welt in nähere Berührung kam, wo man seine „Hausaufgaben“ in Sachen Christentum bereits gemacht hatte. Wenigstens den Moment dieser Berührung zweier Gesellschaftssyteme, die unterschiedlich weit entwickelt sind, hat Zizek erkannt, doch er macht nichts aus diesem guten Gedanken. Die aus dieser Berührung entstehende Zumutung ist aber keine Zumutung des Westens, es ist vielmehr die Zumutung des Blicks in den Spiegel, dem sich der Islam stellen muss.

Falsche Alternativen

Es ist erschreckend, dass Zizek nur zwei Auswege nennt: Entweder Selbstaufgabe des Islam und „Unterwerfung“ unter den Westen, oder Rückzug in den Traditionalismus und Kampf bis zum Untergang. Die Möglichkeit, dass der Islam seinen Reformstau aufarbeitet, so wie es das Christentum auch getan hat, und auf diese Weise liberal wird, ohne sich selbst aufzugeben, ist Zizek offenbar nicht in den Sinn gekommen. Es ist das alte Lied: Wer seine eigene Kultur nicht verstanden hat, der kann auch über andere Kulturen nicht richtig urteilen. Für einen Linken wie Zizek ist das Christentum vermutlich ein Rotes Tuch, bei dem nicht weiter differenziert wird. Dass es Reformen gab, wird nicht zur Kenntnis oder nicht ernst genommen, bzw. als eine echte „Reform“ gilt für einen Linken wie Zizek nur die Selbstaufgabe des Religiösen.

Wer eine falsche Analyse hat, kann nur zu falschen Schlüssen kommen. Wie wenn die Aufklärung eine Sache wäre, die nur typisch westlich wäre. Die Aufklärung ist aber ein Vorgang, der grundsätzlich jeder Kultur offen steht. Der Islam hatte hierzu in der Vergangenheit sogar schon Vorarbeit geleistet. Natürlich sind Reformen nicht von heute auf morgen möglich und für den Islam in Europa deshalb keine befriedigende Option, aber Zizek redet hier über den Islam insgesamt und weltweit, und auf dieser Ebene sind Reformen selbstverständlich langfristig der einzige Weg.

Reformdenken ohne Aktivierungsidee

Im weiteren bringt Zizek eine Reihe von theologischen und psychoanalytischen Deutungen vor, wie und warum der Islam sich doch reformieren könnte. An dieser Stelle fragt man sich, warum Zizek die Reform zuvor nicht als Möglichkeit nannte? Hier hat Zizek offenbar einen veritablen Knoten im Hirn.

Jedenfalls sind die folgenden Analysen von Zizek gar nicht so schlecht, doch begeht Zizek auch hier den grundsätzlichen Denkfehler vieler Linker: Die theoretische Möglichkeit zu Reformen ist das eine, die reale Umsetzung derselben ist aber etwas ganz anderes. Und dazu sagt Zizek nichts.

Zizek sagt in diesem ganzen Buch überhaupt nichts dazu, was die westliche Welt denn nun tun soll. Das ganze Buch ist formal in dem typischen Stil linker Theoriebücher gehalten, man vergleiche z.B. „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer / Adorno: Das ganze Buch ist ein einziger langer Schlauch von lose verknüpften Gedanken und Assoziationen, die ohne Punkt und Komma, ohne Kapiteleinteilung und ohne Fazit aufeinander folgen. Selbst wenn alles, was Zizek sagen würde, richtig wäre, wüsste man am Ende des Buches immer noch nicht, was er denn nun eigentlich will. Man hat das Gefühl: Nett, dass wir mal über alles gesprochen haben, aber ratlos sind wir jetzt immer noch. Solche Bücher dienen der Selbstbestätigung von Linken, damit sie sich auf der richtigen Seite wähnen können, auch wenn sie keine Rezepte mehr haben.

Existierende Reformer und Reformgruppen im Islam werden von Zizek mit keinem Wort bedacht. Der vordere Klappentext, der vermutlich vom Verlag und nicht von Zizek stammt, sagt, dass die säkulare Linke die Lösung wäre. Das steht so nicht im Buch. Aber vermutlich meinte Zizek tatsächlich „irgendetwas“ in dieser Richtung. Aber ein Buch über den Islam, das dem Leser die „säkulare Linke“ als „Lösung“ vor den Latz knallt (wie eigentlich genau?), und existierende Reformer nicht einmal nennt – noch nicht einmal, um sie zu ablehnend zu diskutieren – ist höchst fragwürdig.

Für diesen Quark – ja Quark! – die schlechteste Wertung. Bessere Empfehlungen: Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Tom Holland: Im Schatten des Schwertes.

Gefallen haben Gedanken wie:

  • Mit Islam und dem Westen berühren sich zwei Kulturen, die auf einem unterschiedlichen Entwicklungsstand stehen. Leider führt Zizek diesen guten Gedanken nicht weiter aus.
  • Im Islam soll die Geschichte von der nichtstattfindenden Opferung Isaaks durch Abraham so motiviert sein, dass Abraham den Befehl Gottes von Anfang an falsch verstanden habe. Das eröffnet natürlich einen großen Raum dafür, dass auch spätere Interpreten Gott falsch verstehen. Ob die Quellendeutungen von Zizek immer ganz richtig sind, sei allerdings dahingestellt. Das ist ein weiteres Problem mit Zizek. Wunschdenken herrscht manchmal über die Realität der Texte.
  • Ismaels Mutter Hagar wird im Koran nicht genannt, gewissermaßen verdrängt, was für die Psychologie des Islam von Bedeutung sei.
  • Mohammed wurde erst durch seine Ehefrau Chadidscha darin sicher, ein Prophet zu sein. Das ist richtig beobachtet.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2015)

J.J. Abrams und Doug Dorst: S. – Das Schiff des Theseus, von V.M. Straka (2013)

Wirklich ein intelligentes Buch – mit Potential zum Kultbuch

— — — Was den Leser zunächst erwartet — — —

Der Leser hat mit dem Buch „Das Schiff des Theseus“ ein altes Bibliotheksexemplar dieses Werkes in der Hand. Der Autor nennt sich V. M. Straka. Es handelt sich um eine hochsymbolische Erzählung, die in allegorischer Form die Geschichte der Geheimorganisation S darstellt, und wie die Hauptperson S., die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern kann, zum ausführenden Arm dieser Organisation wird. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches befinden sich außerdem teils verschlüsselte, teils im offenen Text versteckte Botschaften, die sich der Autor und seine Übersetzerin Kapitel für Kapitel gegenseitig zusandten.

Am Rand der Buchseiten dieses Bibliotheksexemplars befinden sich die Randnotizen der Studentin Jen und des Doktoranden Eric, die gemeinsam das Geheimnis von S ergründen, indem sie sich über diese Randnotizen austauschen. Diese Randnotizen sind nach vier verschiedenen Zeitebenen in vier verschiedenen Farbkombinationen gehalten. Hinzu kommen Einleger von Jen und Eric wie Briefe oder Postkarten, die im Zusammenhang mit den Randnotizen stehen.

Wer dieses Buch lesen will, sollte vor allem Geduld mitbringen. Notizen sind kein Muss, können aber helfen, den Überblick zu behalten (dafür gibt es aber inzwischen auch zahlreiche Internetseiten). Der Aufwand lohnt sich! Selten konnte der Leser eines Buches so unmittelbar erfahrbar an der Geschichte teilhaben.

— — — SPOILER-WARNUNG: Lese-Methode — — —

Um das Buch zu lesen, muss man zunächst das (gedruckte) Buch von vorne bis hinten lesen, und danach jeweils die Randnotizen mit den zugehörigen Einlegern mehrfach, je Zeitebene, von vorne nach hinten. Man kann aber z.B. auch die erste Zeitebene der Randnotizen zusammen bei der Lektüre des gedruckten Buches Kapitel für Kapitel mit erledigen. Es empfiehlt sich, die Information über die Farben der vier Zeitebenen der Randnotizen aus dem Internet zu besorgen, da sie sich dem Leser nur schlecht aus dem Kontext erschließen, zumal sich die verwendeten Farben der Zeitebenen teilweise überschneiden.

Anders als man vielleicht vermuten könnte, muss der Leser bei der Lektüre dieses Buches so gut wie keine Rätsel lösen. Vielmehr schaut der Leser passiv dabei zu, wie die Protagonisten des Buches die Rätsel lösen. Das Buch ist also im Prinzip wie ein ganz normaler Roman zu lesen, nur dass die Lesereihenfolge der einzelnen Passagen kein einmaliges Durchlesen von vorne nach hinten erfordert, sondern ein mehrfaches Lesen von vorne nach hinten auf den verschiedenen Zeitebenen.

— — — SPOILER-WARNUNG: Inhalte — — —

Die symbolische Erzählung des gedruckten Buches handelt von S., der eines Tages ohne Erinnerung an seine Vergangenheit auf ein Schiff entführt wird. Auf diesem Schiff haben alle Matrosen bis auf einen zugenähte Münder. Das Schiff bringt S. zu verschiedenen Orten, wo er verschiedene Dinge erlebt und verschiedene Aufträge zu erfüllen hat. Das Schiff erneuert sich immer wieder, deshalb die Anspielung auf das „Schiff des Theseus“. (Und wegen Theseus und Ariadne; aber eine Anspielung auf die Rolle des Schiffs des Theseus beim Tod des Sokrates findet sich nicht.) – Der große Gegenspieler von S. ist der Waffenfabrikant Vévoda, der unbotmäßige Arbeiter verschwinden lässt, ein Massaker unter streikenden Arbeitern anrichtet, und eine neue Massenvernichtungswaffe entwickelt hat: Die Schwarzranke, oder Schwarzrebe. Sie tötet mit klebriger Tinte. Ebenso mit klebriger Tinte schreiben die Matrosen im Bauch des Schiffes endlose Texte, die sie bisweilen an Land bringen. S. wird auch zu verschiedenen Mordaufträgen geschickt, und auch Vévoda ermordet Mitglieder der Organisation S.

Diese symbolische Erzählung verschlüsselt eine echte Geheimorganisation von Schriftstellern von Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich mit Vogelnamen tarnen und gegen den Waffenfabrikanten Bouchard zusammengetan haben. Mit ihm befinden sie sich in einem „Krieg der Erzählungen“. Während sie wie Enthüllungsjournalisten arbeiten bzw. Samisdat-Literatur verbreiten, hat Bouchard die Presse in der Hand, die die Menschen mit Tinte in Massen belügt. Die gegenseitigen Morde sind leider nicht symbolisch zu verstehen, sondern real. Bouchard kann auch einige Überläufer gewinnen. Straka und seine Übersetzerin FXC waren die Hauptpersonen von S.

Im Heute von Jen und Eric, 2012, scheint es ruhig um S. geworden zu sein, und nur noch wenige Literaturwissenschaftler wie Eric und sein Doktorvater Moody befassen sich mit V.M. Straka und seinen Werken, um die wahre Geschichte von Straka und der Organisation S zu ergründen. Als Jen und Eric Erfolge bei ihren Recherchen erzielen, werden ihnen plötzlich Steine in den Weg gelegt. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte um Recherche, Widerstand und Liebe, gedoppelt auf der Zeitebene von Straka und FXC, sowie auf der Zeitebene von Jen und Eric.

Das Buch schlägt u.a. folgende Themen an:

  • Erwachsenwerden, Eltern, Kindheit, Studium, Job, seinen Weg finden, eine Identität bilden, eine Aufgabe finden.
  • Beziehungen aufarbeiten, Liebe finden, Stärken und Schwächen kennen, zusammenwachsen, gemeinsam etwas erschaffen.
  • Wie soll man in Welt etwas bewegen, bzw. kann man überhaupt etwas bewegen?
  • Soll man sein Leben für eine Aufgabe opfern? Oder soll man einfach nur sein Leben genießen? Oder etwas dazwischen?
  • Der Einfluss von Industrielobbies auf das Weltgeschehen, hier speziell die Rüstungsindustrie.
  • Geheimorganisationen als Möglichkeit, das Weltgeschehen zu beeinflussen. (Man denke an: Freimaurer. Ku-Klux-Klan. Terrorgruppen. Kommunistische Partei.)
  • Krieg der Erzählungen, Worte als Waffe.
  • Literarische und philologische Analyse von Texten: Sehr gut.
  • Konstruktion und Dekonstruktion von Identität durch Erzählen.
  • Wahrnehmung von Zeit, das Vergehen des Lebens.

Es gibt eine ganze Reihe von Running Gags in diesem Buch, die teils anspielungsreich sind, teils geheimnisvoll bleiben, so z.B.:

  • Immer wieder taucht die Zahl 19 auf.
  • Vögel tauchen immer wieder auf, Chiffren für die S-Mitglieder.
  • Überall findet sich das Symbol „S“, und man weiß nicht, wie es dahin kam.
  • Sola, die Geliebte von S., taucht immer wieder auf, bleibt jedoch unerreichbar.

Das große Fazit am Ende des Buch ist die Erkenntnis, dass die Liebe im Zweifelsfall wichtiger ist als die „Sache“. Einen Beweis für die Identität Strakas haben Eric und Jen bis zum Schluss nicht gefunden, sie arbeiten aber weiter daran. Solange sie sich lieben, ist der Weg das Ziel.

— — — Bewertung — — —

Dieses Buch ist ein Volltreffer! Das originelle Buchkonzept lässt den Leser haptisch an der Story teilhaben, wie es nur ein echtes, gedrucktes Buch bieten kann. Es geht um eine düstere Story und zwei junge Leute, die nicht nur ein vergangenes Geheimnis, sondern auch das Leben und die Liebe erkunden. Der Leser ist in akuter Gefahr, sich in dieser Welt zu verlieren und paranoid zu werden: Dieses Buch hat das Potential zu einem Kultbuch! Die Welt scheidet sich fortan in Menschen, die es gelesen haben, und solche, die es nicht gelesen haben.

Es werden eine Menge Themen auf intelligente Weise bearbeitet. Hier wird Bildung auf interessante und vergnügliche Weise geboten! Und zwar eine Bildung, die den Menschen als ganzes erfasst, in allen Facetten seines Daseins. Eine wahrhaft humanistische Bildung. Unbedingte Leseempfehlung! Jedoch mit einem deutlichen Caveat, siehe die Kritik.

— — — Kritik — — —

Zunächst: Keine nennenswerte Kritik sollte man an dem Umstand üben, dass die Geheimorganisation S offensichtlich eine „linke“ Gruppierung ist. Straka versteht sich zwar nicht als Kommunist (S. 222), hat aber Sympathien für Trotzki (S. 363). Die Stoßrichtung der Organisation ist simpel gegen Kapitalismus und Waffenhandel und für die Arbeiterschaft. Das ist nicht per se kritikwürdig, denn irgendeine Geheimorganisation musste es nun einmal sein, und da ist jede auf ihre Weise einseitig. „S“ könnte man übrigens auch als Chiffre für „Sozialismus“ lesen. So konkret wird das Buch aber an keiner Stelle.

Sehr kritikwürdig ist hingegen der Umstand, dass die „andere“ Seite, der Bösewicht Bouchard, allzu simpel gezeichnet wird. Hier hätte man sich mehr von jener Lebensweisheit gewünscht, dass jede Seite einen Zipfel der Wahrheit in Händen hält. Die Menschlichkeit der „anderen“ Seite bleibt völlig unterbelichtet. Sie wird nur an wenigen Stellen thematisiert (Suizid der Ehefrau von Bouchard; Liebe unter Agenten).

Sehr kritikwürdig ist, dass die Geheimorganisation S mordet. Denn immerhin zeigen die Protagonisten Jen und Eric klare Sympathien für Straka und FXC. Das wäre völlig in Ordnung, wenn S wirklich nur einen „Krieg der Erzählungen“ geführt hätte. Ein Kampf mit den Mitteln des Wortes und der Überlegenheit der Intelligenz. Sympathie für diese Methode des Kampfes, und für die Tatsache an sich, dass man für irgendetwas kämpft, ist immer angebracht. Aber S begann auch zu morden. Damit hat S sich nicht nur von den Prinzipien des Humanismus abgewandt, sondern zudem auch die Intelligenz verraten, denn man tötet die Hydra nicht, indem ihr einige Köpfe abschlägt.

Damit weckt dieses Buch Sympathien für eine höchst einseitige „Sache“, und senkt bei den Lesern zugleich die Hemmschwelle, auch Mord als politisches Mittel zu begreifen. Denn eine klare Absage an Straka aufgrund seiner Morde findet sich in diesem Buch nirgends. FXC formuliert sogar den unglaublichen Satz, dass solche Dinge zwar vorgekommen seien, dass sie aber darüber hinweggesehen habe (S. 300). Und die Sympathie von Jen und Eric für FXC und Straka bleibt ungebrochen. – Mit diesem anti-humanistischen mindset sind einst die linksradikalen Massenmörder um Pol Pot von westlichen Universitäten (namentlich Paris) nach Kambodscha aufgebrochen, um dort ihr ideologisches Werk in den Killing Fields zu beginnen. Auch bloße Worte können reale Folgen haben, deshalb klarer Widerspruch!

Ebenfalls kritikwürdig sind einige Passagen, in denen behauptet wird, wir könnten uns selbst völlig frei definieren. Wir seien die Erzählungen, die wir über uns erfinden (S. 430 Brief Jen, S. 452, u.a.). Hierzu gehört auch der völlige Gedächtnisverlust von S. am Anfang der Geschichte, mit dem er zu leben lernt. Dabei handelt es sich offenbar um die im linken Milieu der US-Universitäten verbreitete Ideologie des Poststrukturalismus [Postmoderne; 29.09.2023]. Auch das ist eine Einseitigkeit, die man von zwei Seiten her hätte beleuchten sollen. Den meisten Lesern wird es aber kaum aufgefallen sein.

Die Umsetzung des Buchkonzepts ist teils etwas unglücklich. Die verschiedenen Zeitebenen erschließen sich nicht so einfach, zumal für verschiedene Zeitebenen teilweise dieselbe Farbe verwendet wird. Auch der Code des 10. Kapitels ist nicht wirklich einfach zu knacken. – An einigen Stellen wurde die falsche Schriftfarbe verwendet, so dass es kleine Brüche in der Chronologie der Ereignisse gibt. Insbesondere die Schriftfarben der Postkarten verwirren. – Das alles berührt das Lesevergnügen aber nur am Rande.

— — — Anschlussempfehlung — — —

Ein gutes, aber einseitiges Buch darf legitimerweise mit einer ebenso einseitigen, guten Buchempfehlung gekontert, nein besser: ergänzt werden, nämlich mit „Atlas wirft die Welt ab“ von Ayn Rand. Auch in diesem Buch geht es um eine Geheimorganisation, deren Umfang und wahres Ziel sich erst im Laufe einer spannenden Geschichte enthüllt. Auch diese Geheimorganisation verwendet antike Chiffren, doch anders als S mordet diese Geheimorganisation nicht, sondern hat einen genialischen Plan, sich der „anderen“ Seite zu erwehren. Doch die Akteure sind nicht „links“, sondern im Gegenteil Unternehmerpersönlichkeiten (übrigens auch Frauen, während S ziemlich patriarchalisch erscheint), die sich gegen die Zerstörung von Wohlstand und Gerechtigkeit durch linke Akteure zur Wehr setzen! Natürlich: Auch hier liegt die Schwäche des Buches in der Einseitigkeit. Doch wer von S redet, kann zu Atlas nicht schweigen. Die Ähnlichkeiten von S und Atlas sind so groß, dass man sich fragt, ob Abrams und Dorst sich ihre Inspiration für S bei Ayn Rand geholt haben?

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21.01.2019)

Zafer Senocak: Deutschsein – Eine Aufklärungsschrift (2011)

Verklärung statt Aufklärung – Warum Senocak irrt

Der äußere Eindruck von Zafer Senocaks Büchlein „Deutschsein – Eine Aufklärungschrift“ weckt hohe Erwartungen:

  • Aufklärung und Humanismus sollten unsere Leitzivilisation sein, nicht Religionen.
  • An diese Grundlage können alle Kulturen anknüpfen, auch der Islam.
  • Deutschland muss dieses große, von Goethe u.a. geprägte Kulturideal aus der Zeit vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wiederbeleben.
  • Voraussetzung von Integration ist eine gelingende Selbstdefinition der Deutschen, die Formulierung eines „deutschen Traumes“.
  • Das alles betrachtet aus der Perspektive und in der Sprache des Literaten, der ein Gefühl für Zwischentöne und das Menschliche hat.

Wer würde hier nicht zustimmen? Doch Senocak enttäuscht die geweckten Erwartungen auf fast schon brutale Weise! Seine Vorstellungen sehen radikal anders aus und sind alles andere als aufgeklärt. Listen wir einige seiner wunderlichen Thesen auf, und analysieren wir dann, wie Senocak zu diesen seltsamen Ideen gekommen ist. Denn das ist das eigentlich Interessante daran!

  • Integrations- und Islamkritiker sind für Senocak grundsätzlich fundamental-christlich und nationalistisch motivierte, spießige McCarthyisten mit beschränktem Horizont und irrationalen Verlustängsten. Sie seien durchweg „selbsternannte Experten“ und „Feierabendautoren“. Wenn sie mit der Aufklärung argumentieren, ist das für Senocak ein Missbrauch der Aufklärung, hinter dem sich die vorgenannten Motive verbergen würden.
  • Der Islam „an sich“ ist für Senocak überhaupt kein Problem. Der zentrale Grund für Kritik am Islam speziell in Deutschland ist nach Senocak die pure Fremdheit des Islam, nicht jedoch dessen theologisch-moralische Inhalte.
  • Senocak ist Anhänger der Vielfalt-Ideologie, nach der Nation und Religion nur zwei unwesentliche Aspekte in einem viel größeren Spektrum von individuellen Eigenschaften eines Menschen seien. Man dürfe Zuwanderer unter keinen Umständen unter der Perspektive von Kollektividentitäten betrachten. Den Kritikern unterstellt Senocak, sie forderten letztlich die 100prozentige Assimilation der Zuwanderer.
  • Der Begriff „deutsches Volk“ wird von Senocak abgelehnt, weil Deutschsein damit angeblich durch Abstammung definiert würde. Die Deutschen seien aber heute nicht mehr ein Volk, sondern lebten praktisch in einem Vielvölkerstaat wie es die Türkei sei.
  • Senocaks Vision von Integration entspricht der Vision des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan von einer „Integration“ der Zuwanderer als 100prozentigen Türken in die deutsche Gesellschaft. Dass deutsche Staatsbürger sich nicht als Deutsche verstehen, auch und zuerst die türkische Staatsbürgerschaft haben, in Deutschland sendende türkische Medien konsumieren, in türkische Moscheen gehen und ihre Kinder in Deutschland auf türkische Schulen, türkische Universitäten und in türkische Fußballvereine schicken, sieht Senocak als vielfältige und moderne Bereicherung für Deutschland. Dass die Zuwanderer aufgeklärte Menschen seien, genüge zur Integration völlig.
  • Auch die Deutschen lebten in Deutschland nur in ihrer Parallelgesellschaft. Wir Deutschen hätten kein Recht, den Zuwanderern ab der zweiten Generation noch irgendwelche Vorschriften zu machen.

Soweit ein ganz kurzer Abriss. Wie kommt Senocak zu diesen absonderlichen Thesen? Statt an den zahllosen Irrtümern zu verzweifeln muss man auf deren gemeinsame tiefere Ursache sehen. Es muss die „Seele“ von Senocaks Irrtümern aufgefunden werden! Dann entschlüsselt sich alles wie von selbst.

Ein romantisches Bild der Türkei

Die tiefere Ursache und der Schlüssel für Senocaks Irrtümer ist ein völlig falsches Bild von der Türkei, das schwärmerisch und romantisch die türkische Staatsideologie verklärt. Für Senocak verkörpert die Türkei das Ideal eines aufgeklärten, demokratischen Vielvölkerstaates; formale Modernisierungsdefizite erwähnt Senocak jedenfalls mit keinem Wort. Atatürks Reformen seien „eine der großen Kulturrevolutionen der Menschheit“ gewesen. Atatürk habe laut Senocak die Parole ausgegeben: „Es gibt viele Kulturen, aber nur eine Zivilisation.“ Diese türkische Staatsideologie, dass in der Türkei viele Völker und Religionen gleichberechtigt zusammenleben würden, hört man in der Tat gerade auch von gebildeten Türken immer wieder einmal. Deshalb ist für Senocak auch das Wort von der „Leitkultur“ ein Anschlag auf die Freiheit, denn auch in der Türkei gäbe es schließlich keine Leitkultur, sondern nur die eine „Zivilisation“ über den verschiedenen „Kulturen“. Exakt dasselbe fordert Senocak nun für Deutschland.

Es ist klar, dass Senocak auf der Grundlage dieses weltfremden Idealbildes auch noch dem harmlosesten Integrationskritiker eine bösartige, antiaufklärerische Motivation unterstellen muss. Senocak ist also der Auffassung, dass es eine „reine“, kulturfreie Aufgeklärtheit gäbe, und dass diese vollauf genüge, um in einem aufgeklärten Land völlig integriert zu sein. Senocak unterstützt damit praktisch vollkommen die Aufforderung von Erdogan an die Türken in Deutschland, sich als 100prozentige Türken zu „integrieren“.

Senocak übersieht natürlich völlig, dass in der Türkei eine massive nationaltürkische und staatsislamische Leitkultur am Werke ist, unter der ethnische und religiöse Minderheiten schlicht nichts zu lachen haben. Da helfen auch keine Märchen von angeblich kurdischen Ministerpräsidenten und dergleichen. Immerhin gibt Senocak wenigstens soviel zu, dass die Landbevölkerung in der Türkei dem Ideal nicht entspreche. Er gibt auch zu, dass die türkischen Zuwanderer in Deutschland überwiegend dieser Landbevölkerung enstammen, womit er sich sehr stark selbst widerspricht. Aber es seien nach Senocak die Deutschen, die den Zuwanderern Kollektividentitäten überstülpten! An einer Stelle unterliegt Senocak peinlicherweise dem typisch türkischen Abwehrreflex, als er eine ultraorthodoxe Familie aus der Türkei nicht als Türken, sondern als Kurden ansprechen möchte – wie denn: Sind Kurden für Senocak nicht auch zivilisierte, gleichberechtigte türkische Staatsbürger? Senocak widerspricht sich hier zumindest atmosphärisch massiv selbst, und das ist bei einem Schriftsteller ein schwerer Vorwurf.

Aufklärung und Nationalkultur

Senocak übersieht, dass Aufklärung immer in real existierenden Kulturen entsteht. Eine aufgeklärte Integration muss deshalb mindestens die Übernahme der nationalen Inkulturationsgeschichte der Aufklärung umfassen. In Deutschland gehören dazu z.B. Immanuel Kant oder 1848. Selbst in den USA, die vielleicht noch am ehesten dem Ideal von Senocak entspricht, ist die Zivilisation stark mit der Kultur der White Anglo-Saxon Protestants verwoben bzw. es hat sich eine Metakultur von Traditionen herausgebildet, die die Zivilisation für alle Amerikaner gemeinsam kulturell erdet. Eine kulturfreie Zivilisation gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben, nirgendwo auf der Welt.

Doch Senocak ist radikaler Idealist: Dass Mesut Özil als deutscher Staatsbürger und Repräsentant Deutschlands bei internationalen Wettbewerben die deutsche Nationalhymne nicht mitsingt, was uns Deutsche sehr verletzt, ist für Senocak völlig in Ordnung, denn diese Hymne ist für ihn kein Teil der „reinen“ Aufklärung, der „Zivilisation“, wie er es nennt. Die deutsche Hymne ist für Senocak nur Folklore der deutschen Kultur, die heute nur noch eine Parallelkultur unter vielen in Deutschland sei. Die deutsche Aufklärungsnationalkultur zählt für Senocak definitiv nicht zu den Erfordernissen der Integration in Deutschland! Analog könnte man sich auch einen „aufgeklärten“ Franzosen vorstellen, für den Voltaire und Marseillaise nicht zu seiner Kultur gehören. Eine Farce!

Aber auch diverse Konventionen und Gebräuche gehören unverzichtbar zu einer aufgeklärten Nationalkultur, allen voran die Sprache als wichtigste Konvention zur Verständigung, oder z.B. die deutsche Ordnungsliebe. Es ist ein Gebot der Vernunft und des Anstandes, mithin also ein Gebot der Aufklärung, sich den guten Gepflogenheiten des Zuwanderungslandes in maßvoller Weise anzupassen. Das kann man auch guten Gewissens abverlangen. Maßlos, wer da wie Senocak unterstellt, Muslime müssten Schweinefleisch essen, um als integriert zu gelten. Senocak beklagt auf der anderen Seite, dass man das positive Deutschlandbild der Zuwanderer nicht aufgreift: Aber dieses positive Deutschlandbild der Zuwanderer hat eben oft Dinge wie die Ordnungsliebe im Sinn, wie Senocak selbst von seinem Vater berichtet, also „kulturelle“ Dinge, und nicht nur die „reine“ Aufklärung. Auch hier kommt sich Senocak also mit seiner eigenen Argumentation ins Gehege.

Senocak redet von „Vielfalt“ und „Bikulturalität“ als Ideal, gibt aber gleichzeitig zu, dass viele Türken in Deutschland im Grunde sehr monokulturell orientiert sind und seinem Vielfalt-Bild in keiner Weise entsprechen. Senocak rechtfertigt diese Monokulturalität aber, denn er hält eine Übernahme deutscher Kultur für die Integration in keiner Weise für erforderlich; zwar hat Senocak nichts dagegen, wenn Zuwanderer sich freiwillig anpassen, aber abverlangen dürfe man den Zuwanderern nur eine kulturunabhängige Aufgeklärtheit. Peinlich, dass sich Senocak gleichzeitig darüber beklagt, dass er von Deutschen immer als deutsch-türkischer Schriftsteller, und nicht als deutscher Schriftsteller wahrgenommen werde – hat er wirklich das Recht, sich vor dem Hintergrund seiner verquasten Pseudo-Integrationsideologie darüber noch zu beklagen?

Verschweigen von Andersdenkenden

Senocak verschweigt konsequent längst entwickelte alternative Konzepte wie z.B. die „Transkulturalität“ im Sinne von Seyran Ates: Zuwanderer können und sollen nach Ates ihre Herkunftskultur durchaus bewahren und pflegen, aber sie müssen zusätzlich und vor allem die deutsche Kultur hinzugewinnen. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus, so wie man auch mehrere Sprachen gleichzeitig beherrschen kann. Nur wo es harte Widersprüche gibt, ist die Herkunftskultur aufzugeben. Staatsbürgerschaft kann es nur eine geben: Die des Zuwanderungslandes. Solche maßvollen, vernünftigen, wahrhaft aufgeklärten Überlegungen existieren in Senocaks Buch nicht.

Senocak hält die doppelte Staatsbürgerschaft für Deutsch-Türken für eine Riesenchance für Deutschland. Wer die doppelte Staatsbürgerschaft ablehne, denke in den Kategorien eines autoritären, vormodernen Staates. Dass ein moderner Staat eine Solidargemeinschaft ist, in der es auch Pflichten gibt und Loyalitäten notwendig sind, und dass sich nur im Kommunikationsraum des Nationalstaates mit einem Staatsvolk, dass sich zu verpflichten weiß, Demokratie effektiv verwirklichen lässt, und dass dem eine massiv ausgeweitete doppelte Staatsbürgerschaft völlig entgegen steht, sieht Senocak nicht; dass dies Erfordernisse der Aufklärung sind, diskutiert er nicht. Das Empfinden des Schriftstellers Zafer Senocak für das Beziehungsverhältnis von Kultur und Aufklärung ist taub und blind.

Senocak ignoriert auch konsequent, dass die Deutschen niemals gefragt worden sind, ob und auf welche Weise sie Zuwanderung haben wollen, beklagt aber ständig deren fehlende Bereitschaft zur Akzeptanz des „Fremden“, und betont, dass die Deutschen sich die Zuwanderer selbst ausgesucht hätten. Auch müssten die Deutschen lernen, sich in ihr eigenes Land zu integrieren. Wenn es um Deutsche geht, spricht Senocak von der kulturellen Auflösung in „Vielfalt“, wenn es hingegen um Zuwanderer geht, spricht Senocak von deren Recht, ihre Herkunftskulturen auf deutschem Boden hemmungslos auszuleben, solange sie nur „aufgeklärt“ sind.

Islam und Aufklärung

Auch beim Thema Islam liegt der Schlüssel zu Senocaks Irrtümern in dessen Türkeibild: Der Islam ist nach Senocak in der Türkei offenbar vorbildlich reformiert worden. Senocak macht an seinen Familienerfahrungen die Aussage fest: „Ich stehe in der Tradition eines türkischen Islam, der wie selbstverständlich aufgeklärt und europäisch ist.“ Der Islam „an sich“ ist für Senocak kein Problem. Was in Pakistan und andernorts geschieht, sind für Senocak Entartungen des Islam aufgrund sozialer Schieflagen. Wenn man den Islam sich in offenen Gesellschaften entfalten lasse, dann würde er sich schon öffnen, meint Senocak zuversichtlich.

Es ist klar, dass Senocak auf dieser kruden Grundlage auch den harmlosesten Islamkritiker als christentümelnden Aufklärungsmissbräuchler ansehen muss. Senocak macht natürlich den Riesenfehler, seinen Familienislam mit „dem Islam“ zu verwechseln. „Der Islam“ ist der historisch gewachsene, traditionelle Konsens der mit Autorität versehenen Religionsgelehrten weltweit, wie er in deren Religionsgutachten (Fatwas) formuliert wird, und dieser Islam sieht leider ganz anders aus als der schöne Islam von Senocaks Familie. Dass gewisse Koranverse „Makulatur“ sind, wie Senocak sagt, ist leider alles andere als islamischer Weltkonsens. Auch unter türkischen Muslimen dürfte Senocaks Idee von Koranversen, die „Makulatur“ sind, kaum eine Mehrheit finden. Senocaks Bild von der Türkei und den Türken erweist sich einmal mehr als Illusion.

Senocak hat eine völlig falsche Vorstellung von der „Reform“ des Islam in der Türkei: Unter Atatürk wurde der Islam keineswegs „reformiert“; das hätte nämlich bedeutet, dass von staatlichem Einfluss unabhängige und mit der nötigen Autorität versehene Religionsgelehrte (Theologen, Muftis, Ulema usw.) ausgehend von der islamischen Lehrtradition den Islam organisch und begründet weiterentwickeln und „in dem Lichte vertiefter Einsichten“ neu interpretieren – und dass sie die veränderten Standpunkte in Fatwas offiziell festhalten und auf diese Weise einen neuen theologischen Konsens begründen. Das ist aber nicht geschehen.

In Wahrheit wurde der Islam in der Türkei durch den Staat ganz einfach reglementiert und beschnitten. Von der türkischen Religionsbehörde hört man, dass sie den Imamen die Predigten wörtlich vorschreibt oder diverse Hadithe „streicht“. Das wäre so, wie wenn Bundeskanzlerin Merkel für alle deutschen Bibelausgaben die Streichung der potentiell antisemitischen Passagen aus dem Johannes-Evangelium anordnen würde! Dass das keine glaubwürdige und dauerhafte „Reform“ sein kann, weiß jeder. Heilige Texte kann man nicht „streichen“ oder unterdrücken, man kann sie nur „in dem Lichte vertiefter Einsichten“ neu interpretieren.

Eine solche kulturelle Unterdrückung kann immer nur für eine bestimmte Zeit Bestand haben, dann bricht das Verdrängte wieder auf. Genau das geschieht jetzt unter Erdogan. Ausgerechnet in Erdogan aber sieht Senocak die endgültige Versöhnung von Islam und Moderne. Ein bedauerlicher Irrtum. Die Versöhnung von Islam und Moderne ist im Prinzip möglich, da hat Senocak Recht, aber in hinreichendem Maße realisiert ist sie nicht. Die „Schule von Ankara“ wäre hier sicher als ein Hoffnungsträger zu nennen, auch wenn sie bis jetzt nur in ihrem akademischen Elfenbeinturm existiert.

Senocak erwähnt die „Schule von Ankara“ übrigens mit keinem Wort, was doch sehr verwundert. Vielleicht deshalb, weil der türkische Islam nach der Lesart von Senocak eine Reform gar nicht mehr nötig hat? Sind echte Reformbewegungen wie die „Schule von Ankara“ gar am Ende ein Dorn im Auge von Senocak, weil ihre Existenz nämlich aufzeigt, wie unaufgeklärt der Islam an sich noch ist, auch der türkische Staatsislam? Oder weil der wichtigste Vertreter der „Schule von Ankara“, Yasar Nuri Öztürk, ein scharfer Kritiker von Erdogans politischem Islam ist, den Senocak für die Versöhnung von Islam und Moderne hält? [PS 25.07.2023: Yasar Nuri Öztürk ist nicht der „Schule von Ankara“ zuzurechnen.]

Wenn Senocak über den Streit um Moscheebauten schreibt, befremdet seine sture Islamophilie besonders. Welche Moschee in Deutschland vertritt denn einen reformierten Islam wie den von Senocak? Bei Menschenrechtsfragen wie z.B. nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau flüchten die Moscheegemeinden sich entweder in verquaste Formulierungen, oder aber sie behaupten einfach, dass sie für Menschenrechte wären, ohne eine nachvollziehbare und von Religionsgelehrten in Fatwas offiziell vertretene theologische Begründung dafür angeben zu können. In keiner Moscheegemeinde werden Koranverse als „Makulatur“ bezeichnet. Auch hier lebt Senocak offenbar in einer Traumwelt.

Verbrechen wie Ehrenmorde möchte Senocak als kriminell motivierte Einzelfälle bestraft wissen. Mit dem Islam hätten sie direkt nichts zu tun, der Problem-Islam sei eine Randerscheinung von einzelnen Extremisten. Wie Senocak schon die Kurden von den Türken getrennt sehen möchte, so möchte er im Zusammenhang mit dem Islam auch die Türken und Araber getrennt sehen. Auch damit verrät sich Senocak einmal mehr und widerspricht sich selbst in allem. Denn hat Senocak nicht selbst gesagt, man dürfe solche Kollektivzuschreibungen nicht vornehmen? Und sind die Araber für die Definition von Islam eine derart unwichtige Gruppe, dass man sie ausklammern dürfte?

Fast schon zum Lachen ist die völlig weltfremde Auffassung von Senocak, dass das islamische Andalusien in Deutschland praktisch totgeschwiegen würde; dabei kommt es uns schon zu den Ohren raus! Den islamischen Philosophen Averroes führt Senocak an und dass die islamische Blütezeit sich auf die antike Kultur gründe. Dass aber Averroes niemals Akzeptanz bei islamischen Religionsgelehrten fand, verschweigt Senocak, und dass diese Blütezeit lange vorbei ist, gibt Senocak selbst zu: Die islamische Kultur habe ihre Neugier und ihre Skepsis längst eingebüßt, schreibt er. Wieder entlarvt sich Senocak selbst als großer Verharmloser, der im Grunde weiß, dass er verharmlost.

Warum Senocak die Islam-Rede von Bundespräsident Wulff lobt, bleibt völlig unklar, denn wie Henryk M. Broder im Berliner Tagesspiegel richtig kommentierte, verschweigt diese Rede ja gerade Aufklärung und Humanismus, und tut so, als ob Deutschland eine Ansammlung von Religionsgemeinschaften sei. Während sich Senocak mit Recht darüber echauffiert, dass die deutsche Islamkonferenz jeden Menschen aus einem islamischen Land als Muslim vereinnahmt, schweigt er völlig von den deutschen islamischen Verbänden, die dort mit am Tisch sitzen und die deutschen Moscheen tragen. Sie kommen in seinem Büchlein schlicht nicht vor. Wie wenn es sie nicht gäbe. Wie wenn sie bei Integrationsfragen keine Rolle spielten. Wie wenn sie einen problemlosen Islam vertreten würden, über den nicht weiter geredet werden müsste.

Linkes und Aufklärung

Eine weitere tiefere Ursache für die fundamentalen Irrtümer von Senocak könnte in dessen Verwurzelung in linken Ideologien liegen. Er führt wiederholt die Frankfurter Schule an und hat sich auch deren sprachliche Diktion zu eigen gemacht, wie der Leser anhand folgenden Satzes schnell bemerken wird: „Stattdessen spricht man nur über andere, die man vom Hörensagen kennt, viel zu oft in einer Form, in der man schon einmal über andere gesprochen hatte, bevor man dazu überging, sie zu liquidieren.“ Aus diesen Worten spricht präzise der Ungeist der Frankfurter Schule, der alles Spießige nicht als etwas typisch Menschliches, sondern als etwas typisch Deutsches interpretiert, das zudem immer und unweigerlich in Auschwitz enden muss. Konsequent vergleicht Senocak die Integration von Muslimen mit der schlussendlich gescheiterten Integration von Juden bis 1933.

Senocak erwähnt auch mit keinem Wort jene linke Geistesströmung in Deutschland, die nur scheinbar zuwanderungsfreundlich ist, in Wahrheit aber die Zuwanderung dazu instrumentalisiert, einerseits Zuwanderer als linke Wähler ins Land zu holen und andererseits das deutsche Wesen zu „verdünnen“. Aus deutschem Selbsthass blockiert diese Sorte Linke die Integration wo immer es geht, während bürgerliche Kräfte sich schwer tun, Gegenpositionen zu behaupten, ohne als Nazis verschrieen zu werden. In einer Untersuchung über deutsche Identität und Integration hätte das nicht fehlen dürfen, denn schießlich rührt ein ganz wesentlicher Teil des ganzen Schlamassels von diesem Grund her. Aber Senocak wühlt lieber in den romantischen Untiefen der deutschen Seele als linke Lebenslügen zu entlarven, wie es z.B. Seyran Ates tut.

Die durch Auschwitz gebrochene Identität der Deutschen könnte nach Senocak vielleicht am Ende sogar eine bessere Grundlage für Integration sein als die ungebrochenen Nationalidentitäten von Frankreich oder England. Das erinnert an Joschka Fischer, der die deutsche Nation in Auschwitz begründet sehen möchte. Hier ahnt man einmal mehr, was Senocak unter einem „deutschen Traum“ verstehen könnte.

Senocak sieht in Deutschland „zu viele Türsteher, aber nur wenige Empfangsdamen“ – von der übermäßig entwickelten Integrationsindustrie jedoch schweigt er. Sie kommt bei ihm nicht vor. An keiner Stelle seines Buches.

Lesung

Zur offiziellen Buchpräsentation am Abend des 17.03.2011 in der Alten Nikolaischule in Leipzig: Die Atmosphäre auf der Autorenlesung war vom Geist einer linksliberalen Schickeria geprägt. Senocak riss z.B. den allzu billigen Witz von den Bayern, die selbst nicht richtig Deutsch könnten. Den EU-Beitritt der Türkei sieht Senocak als große Chance für Deutschland. Dass sich dann viele Türken auf den Weg nach Deutschland machen würden, hält Senocak für ein Hirngespinst. Thilo Sarrazin galt auf dieser Lesung als eine Witzfigur, deren äußerst bedenkenswerte Thesen in keiner Weise ernst genommen wurden – dies ist selbst wiederum eine Haltung, die man kaum ernst nehmen kann.

Die Moderatorin sprach das Wort „Migrationshintergrund“ mit betonter Verlegenheit aus: Wie schlimm dieses Wort doch sei, aber sie müsse es doch in den Mund nehmen. Sie echauffierte sich auch, wie schlimm es sei, dass wir Deutschen immer noch nicht gelernt hätten, wie die Namen unserer türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgesprochen werden; über die Unmöglichkeit, sämtliche Schriftsysteme dieser Welt zu beherrschen, sprach sie nicht. Die Grenze des Zumutbaren ist ja bereits bei den Aussprachen der Zeichensysteme der direkten Nachbarländer Deutschlands, Tschechien, Dänemark, Niederlande, Luxemburg, Belgien, Frankreich, Polen usw. überschritten.

Ich weiß bis heute nicht, wie sich der Name „Zafer Senocak“ mit Cedille am großen S ausspricht, denn der anwesende Vertreter der Körber-Stiftung und die Moderatorin sprachen den Namen an diesem Abend … unterschiedlich aus! Da Zafer Senocak ein Deutscher ist, sollte er seinen Namen vielleicht einmal mit Buchstaben schreiben, die auf einer deutschen Tastatur auffindbar sind, ich vermute: „Safer Schenodschak“. Wladimir Kaminer hat auch keine kyrillischen Buchstaben in die deutsche Sprache eingeführt, als er seinen Namen eindeutschen ließ (er hatte mit der deutschen Schreibung seines Namens bekanntlich ganz andere Probleme!).

Zafer Senocaks Buch ist im Verlag der Körber-Stiftung erschienen. Die Körber-Stiftung initiierte u.a. auch das „Netzwerk türkeistämmiger MandatsträgerInnen“ in deutschen Parlamenten.

Fazit

Zafer Senocak hat auf der Grundlage eines schwärmerisch-romantischen Traumbildes von türkischer Staatsideologie und türkischem Islam und auf der Grundlage einer linksradikalen Ideologie von einer kulturfreien Pseudo-Aufklärung, die er „Zivilisation“ nennt, ein Machwerk randvoll mit Irrtümern veröffentlicht. Die Befolgung seiner Vision würde die – ja! – Zivilisation, d.h. die aufgeklärte deutsche Kultur in Deutschland zerstören, dem unaufgeklärten Islam breiten Raum geben und das unaufgeklärte national-islamische Türkentum in Deutschland massiv unterstützen.

Senocak ist ganz offensichtlich Teil jenes irren Völkchens geworden, das man Deutsche nennt, das seit jeher Träume und fixe Ideen ungeachtet der Realität bis zum Exzess durchexerziert. Senocak ist in diesem Sinne ein allzu deutscher Deutscher, weniger Deutschsein wäre bei ihm mehr gewesen. Die individuelle Integrationsgeschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg, die Senocak nebenbei auch noch erzählt, ist übrigens wesentlich „kultureller“, als man angesichts der puristischen Ideen von Senocak meinen könnte, und verdient Respekt.

Senocak unterschlägt konsequent seine ideologische Konkurrenz, so z.B. das Konzept der „Transkulturalität“ von Seyran Ates oder die „Schule von Ankara“. Senocak unterschlägt ebenso konsequent die real existierenden deutschen Islamverbände, die real existierende deutsche Integrationsindustrie und den real existierenden linken deutschen Selbsthass.

Es besteht die Gefahr, dass die aufklärungsfeindlichen, romantischen Träumereien von Zafer Senocak im Sinne des eingangs dargelegten guten äußeren Eindruckes seines Büchleins in der Öffentlichkeit unter dem Stichwort „Aufklärung“ diskutiert werden. So wird ja auch die Vielfalt-Ideologie unter dem Stichwort „Integration“ angepriesen, obwohl sie genau das Gegenteil von Integration anstrebt.

Dem Leser sei als alternative Lektüre folgendes Buch empfohlen: Seyran Ates: „Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“.

Hinweis: Auch Seyran Ates mit Cedille am kleinen s würde gut daran tun, sich kurzerhand deutsch zu schreiben: „Atesch“. Würde diese Eindeutschung der Schreibung denn so weh tun? Sie ändert die Aussprache ja nicht, sondern im Gegenteil, sie schützt die Aussprache vor Veränderung – sonst heißen die Nachfahren eines Tages „Ates“ ohne Cedille am kleinen s! Und wie gesagt: Wir können unmöglich sämtliche Zeichensysteme der Welt bei uns einführen, selbst bei bestem Willen nicht. [PS 25.07.2023: Grundsätzlich ist und bleibt die Schreibung des eigenen Namens natürlich auch eine sehr persönliche Sache. Wir können hier nur zuraten.]

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 25. März 2011)

Saša Stanišić: Herkunft (2019)

Idealistischer Romantiker verstrickt sich tragisch-wunderbar in seiner Herkunft

In diesem Buch arbeitet sich Sasa Stanisic an der Herkunft seiner Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien, ihrer Flucht nach Deutschland und seiner Integration in Deutschland ab. Er „arbeitet sich ab“, denn er versucht ein Ding namens „Herkunft“ zu fassen zu bekommen, mit dem er eigentlich nicht viel anfangen kann. Für ihn ist Herkunft rein zufällig. Herkunft sei ein übergestülptes Kostüm und hätte nichts mit Eigenschaften und Talenten zu tun (S. 32, 284). Er wehrt sich gegen die Fetischisierung von Herkunft (S. 221). Herkunft wird in diesem Buch zum lächerlichen Nostalgiekitsch (S. 34), oder zum bösen Nationalismus, wo die Bilder von Kriegsverbrechern auf Häkeldeckchen in der Vitrine stehen (S. 49).

Und doch hat Sasa Stanisic ein ganzes Buch über Herkunft geschrieben. Wie das?

Zunächst: Gefunden hat Sasa Stanisic seine Herkunft vor allem in Menschen (Vgl. S. 64): Das ganze Buch zeichnet immer wieder größere und kleinere Portraits wunderbarer Menschen. Allen voran seine Großmutter, aber auch seine Eltern und andere Verwandte, seine Freunde von der Aral-Tankstelle, wo er über Rollenspiele zum Erzählen und zur Literatur fand, die gebildeten Eltern seines Freundes Rahim, diverse Lehrer, ein serbischer Kellner, oder auch sein Zahnarzt mit dem sprechenden Namen Dr. Heimat. In Menschen – und in den Sprachen – hat Sasa Stanisic seine Herkunft und seine Heimat gefunden. Diese literarischen Portraits von Menschen sind es, die dieses Buch lesenswert machen. Dass Sasa Stanisic unfreiwillig noch viel mehr gefunden hat, dazu gleich mehr.

Die Sprache von Sasa Stanisic ist sehr modern und sehr direkt. Teilweise experimentiert er mit Sprachformen der Zeit, wie WhatsApp oder Soziolekt. Das letzte Kapitel ist sogar wie ein FantasyAbenteuerSpielBuch gestaltet. Der Erzählstrang ist sehr sprunghaft und assoziativ. Dadurch bauen sich Pointen oft sehr überraschend und witzig auf. Viele Pointen enden allerdings in einem recht trockenen Sarkasmus. Sasa Stanisic ist ein großer Beobachter. Er beschreibt viel lieber, als darauf aufbauend theoretische Gedanken zu entwickeln.

Rührend und treffend ist die Einbeziehung von Flucht, Vertreibung und Spätaussiedlung aus dem deutschen Osten, namentlich Schlesien und Danzig (S. 162, 165 f., 177).

Kritik

Sasa Stanisic ist ein Idealist reinsten Wassers. Er ist definitiv ein guter Mensch, jemand, dem man jenseits aller Meinungsverschiedenheiten jederzeit seinen Geldbeutel oder auch sein Leben anvertrauen könnte, jemand, dem es nicht egal ist, wenn Böses geschieht. Stanisic geht es um die Menschheit. Sein verlorener Traum ist das Zusammenleben der verschiedenen Völker im ehemaligen Jugoslawien. Nichts davon ist falsch. Und dennoch ist so vieles daran so unglaublich falsch.

Das Grundproblem von Sasa Stanisic ist sein ungeläuterter Idealismus. Ideale sind schön und gut, aber die Realität sieht oft anders aus. Es bedarf einer Übersetzung in die Realität. Einer Abstufung der Ideale. Einer realistischen Sicht auf die Dinge. Und beim Blick in die Realität würde man vielleicht auch manches Ideal entdecken, das man bisher übersehen oder gar verachtet hatte.

Beginnen wir mit Jugoslawien. Die Verklärung von Jugoslawien als einem multiethnischen Paradies geht in diesem Buch – trotz einer kurz eingeschobenen Kritik (S. 93, 96) – entschieden zu weit (S. 14, 93 f., 102). Jeder weiß doch, wie das in solchen multiethnischen Ländern läuft: Eine Volksgruppe gibt den Ton an, die anderen leiden. In diesem Fall gaben die Serben den Ton an. Das Bestreben der Völker, sich von Serbien abzulösen, kam doch nicht aus dem Nichts! Diese Menschen hatten bittere Erfahrungen gemacht, die in diesem Buch leider nicht vorkommen. In rücksichtsloser Multikulti-Manier wischt Sasa Stanisic die Existenz von verschiedenen Nationen, Völkern und Kulturen in Jugoslawien beiseite: Auf dem Balkan seien doch alle Völker mal durchgekommen, nichts sei so multikulturell wie der Balkan, meint er flapsig (S. 99 f.). Dass er mit diesem historischen Relativismus auf der gegenwärtigen Identität von Menschen herumtrampelt, ist ihm offenbar nicht klar.

Dass Sasa Stanisic den Begriff „nationale Interessen“ verachtet (S. 64), spricht Bände. Denn auch in der besten Demokratie vertreten die Politiker natürlich die Interessen ihres Wahlkreises oder ihres Bundeslandes! So funktioniert die Welt nun einmal. Kommt denn in dem Eid der jugoslawischen Pioniere, den Sasa Stanisic wohlwollend zitiert (S. 93), nicht auch das Wörtlein „selbstverwaltet“ vor? Aha! An nationalen Interessen ist nichts falsches, solange sie nicht in Nationalismus überschlagen. Es ist völlig legitim, erst einmal Selbstbestimmung erlangen zu wollen, bevor man sich dann – auf Augenhöhe – vielleicht wieder zusammenschließt, z.B. in der EU. Sehr vorbildlich, nämlich völlig friedlich, haben sich z.B. Tschechien und die Slowakei voneinander getrennt, und beide sind heute in der EU.

Sasa Stanisic kann von jedem Spieler der jugoslawischen Nationalmannschaft die Volkszugehörigkeit nennen (S. 14). Ein „melting pot“, den er selbst hier sehen will, sähe anders aus. Es erinnert an den Witz, in dem der Generalsekretär der KPdSU den US-Präsidenten fragt: „Im Moskauer Staatsorchester gibt es drei jüdische Geiger, zwei jüdische Trompeter usw., also können wir keine Antisemiten sein! Und wieviele Juden gibt es im New York Philharmonic Orchestra?“, worauf der US-Präsident die geniale Antwort gibt: „I don’t know!“ – Auch bei seinen Freunden von der Aral-Tankstelle kennt Stanisic die Herkunft von jedem einzelnen sehr genau. Sie war wohl doch nicht egal.

Ganz unfreiwillig gibt Sasa Stanisic auch zu, dass Herkunft auch ein Ort sein kann, sogar ein kultureller Raum. Also ein Ort, der sich durch die dort vorherrschende Kultur definiert. Denn genau das war das ehemalige Jugoslawien bzw. das war sein Heimatort Visegrad. Diese Orte gibt es heute noch, aber die Kultur, die damals dort herrschte, ist verloren. Die Kultur des ehemaligen Jugoslawien war zwar – wie schon gesagt – eine fragile und unehrliche Kultur; der Punkt ist aber, dass Sasa Stanisic diesem verlorenen kulturellen Raum definitiv nachtrauert, und damit unfreiwillig zugibt, dass kulturelle Räume Herkunft und Heimat sein können. Man verletzt Menschen, wenn man ihnen ihren kulturellen Raum wegnimmt und zerstört. Da kann Stanisic seine Großmutter noch so lange sagen lassen „Es zählt nicht, wo was ist.“ (S. 337) Es zählt eben teilweise doch: Manche Dinge können nur an bestimmten Orten geschehen.

Das gilt nicht nur für den Kulturraum einer einzelnen Kultur, sondern auch für die friedliche Begegnung verschiedener Kulturen an einem Ort. Denn ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen geht weder das eine noch das andere. Meistens ist es ja so, dass Orte, an denen sich verschiedene Kulturen friedlich begegnen, in Wahrheit durch eine Monokultur eingerahmt sind. Das trifft z.B. bei den multikulturellen Metropolen der Welt zu: Ob New York oder Frankfurt am Main, ohne die Einrahmung in die jeweilige Nationalkultur würden diese Orte sofort in unverbundene Parallelgesellschaften zerfallen, die sich im Extremfall auch bekriegen würden, Stadtviertel um Stadtviertel, Häuserzug um Häuserzug. Sasa Stanisics Idee, dass für das Zusammenleben der kleinste gemeinsame Nenner genüge (S. 222) ist grober, idealistischer Unfug. Das funktioniert nur für Touristen und Gastarbeiter auf Zeit ohne Familie. Auch seine Klage, dass man bei den Vilen (Wilen, weibliche Naturgeister) nur nach deren Sinn integriert ist, nämlich weder gleichberechtigt noch frei (S. 353), zeugt von utopischem Multikulti-Denken. Die Gesellschaft fordert von jedem Anpassung. Auch „Urdeutsche“ sind in der deutschen Gesellschaft nicht gleichberechtigt und frei, wenn sie vom Mainstream abweichen.

Ganz unfreiwillig gibt Sasa Stanisic auch zu, dass Herkunft eben doch Einfluss auf unsere Eigenschaften und Talente hat. Die Erzählkunst soll er von seinem Großvater haben (S. 87 f.). Die Angst vor Schlangen hat er von seinem Vater geerbt (S. 339). Am Ende dankt Sasa Stanisic seinen Eltern, Großeltern, Freunden: Wofür, wenn er von ihnen nichts bekommen hat? (S. 363) – Die Idee des „blank slate“, der Sasa Stanisic in diesem Buch frönt, ist genauso falsch wie die Idee, dass ein Mensch qua Geburt völlig festgelegt wäre. Den richtigen Weg zwischen den Extremen hat Sasa Stanisic noch nicht gefunden. Die Frage ist auch, warum Sasa Stanisic an der nichtdeutschen Schreibweise seines Namens festhält. Bedeutet sie ihm am Ende doch etwas?

Auch Religion sieht Sasa Stanisic extrem einseitig (S. 117, 120, 211 f.). Sie spielt im Grunde immer die Rolle des Bösen. Das kam auch in seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis heraus, als er sarkastisch anmerkte, dass die katholische Kirche Peter Handke schon zum Literaturnobelpreis gratuliert habe. Aber könnte man das nicht auch als eine Geste der Versöhnung sehen? Immerhin sympathisierte die katholische Kirche mit den katholischen Kroaten, während Handke mit den orthodoxen Serben sympathisierte. Wie sieht Stanisic eigentlich die historische Rolle des katholischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, oder des islamischen Humanisten Averroes? Und wie sieht Stanisic die Rolle des Katholiken de Gaulle und des Katholiken Adenauer, die sich in der Kathedrale von Reims trafen, um die deutsch-französische Freundschaft zu besiegeln, und damit den Grundstein für die EU zu legen? Diese radikale Ablehnung von Religion ist nicht nur historisch und philosophisch falsch, sondern auch extrem unrealistisch und politisch völlig unklug. Man kann Religion besser oder schlechter machen, man kann sie aber nicht einfach abschaffen. Dass Sasa Stanisic am Ende nicht selbst das Kreuz zur Beerdigung seiner Großmutter trug, ist hingegen sehr verstehbar: Das ist seine ganz persönliche Entscheidung (S. 331, 360).

Sasa Stanisic zeigt sich offen linksradikal: Er zitiert Karl Marx mehrfach und lässt die Zitate unkommentiert stehen, was ohne Zweifel Zustimmung zum Ausdruck bringt. So z.B., dass Religion der Geist geistloser Zustände sei, oder dass Arbeiter kein Vaterland hätten, oder dass Karl Marx gute Ideen gehabt hätte; alles ohne jede Einschränkung dem Leser präsentiert (S. 120, 176). Bei Wahlen stört ihn nur, dass die AfD gute Werte erzielt, aber dass die SED-Nachfolgepartei ebenfalls gute Werte erzielt, stört ihn offenbar nicht (S. 102). Schließlich kritisiert Stanisic den Satz von Czaja: „Antifaschisten sind auch Faschisten“ (S. 142). Zugegeben: Vor „Antifaschisten“ hätte das Wörtlein „sogenannte“ gehört, um den Satz wirklich korrekt zu machen. Aber Sasa Stanisic weiß natürlich auch so, wie Czaja es meinte. Wenn Sasa Stanisic wirklich glaubt, dass die Antifa antifaschistisch ist, dann glaubt er auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.

Unfreiwillig zeigt Stanisic das Scheitern der deutschen Integrationspolitik (z.B. S. 132, 151): Die in großer Zahl ins Land kommenden Ausländer werden erst einmal in ein Ausländerviertel abgeschoben. Sowas gibt es also auch im schönen Heidelberg. Nach einer Schule, auf der es überhaupt nur Ausländer gab, ging er dann auf die „Internationale Gesamtschule Heidelberg“. Die Unehrlichkeit des Systems zeigt sich in dem euphemistischischen Namen der Schule: Bei „international“ denkt man an eine Privatschule, wo die Kinder von Gastprofessoren, ausländischen Managern und den oberen Zehntausend von Heidelberg unterrichtet werden. Es ist aber nur die Schule vom Viertel. In manchen Klassen seien die Deutschen in der Minderheit gewesen. Stanisic meint, das sei sicher eine gute Erfahrung, auch mal in der Minderheit zu sein. Was es bedeutet, im eigenen Land ungefragt in die Minderheit zu geraten, reflektiert er nicht.

Grenzen hält Sasa Stanisic offenbar für überflüssig. Jedenfalls meint er, dass er Grenzen nichts verdanke (S. 217). Was für ein Unsinn! Denn warum flüchtet ein Flüchtling über eine Grenze, wenn sie keine Bedeutung hätte? Die Grenze bietet Schutz, denn die Verfolgung endet an der Grenze. Irgendwie hat Stanisic nicht verstanden, dass Grenzen einen geschützten Raum konstituieren. Er meint auch, dass seine Flucht aus Jugoslawien heute an einem ungarischen Grenzzaun enden würde (S. 123). Auch das ist falsch. Damals kamen in 2-3 Jahren rund 350000 zumeist echte Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland. Das ist gar kein Vergleich zu den 1,5 Millionen Migranten von 2015, unter denen mehr Trittbrettfahrer als echte Flüchtlinge waren. Wieso hätte Ungarn damals die Grenzen schließen sollen? Die Situation war eine völlig andere! Wie man Horden junger Männer mit Smartphone und Designerklamotten in einen Topf werfen kann mit echten (Bürger-)kriegsflüchtlingen, nämlich eher Frauen und Kinder ohne Männer (wie meine schlesische Großmutter z.B.!), werde ich nie verstehen. Wieviel Energie zum Selbstbetrug muss jemand haben, um so zu denken? Stanisic übernimmt ja auch vorgegebene Sprachregelungen und redet konsequent von „Geflüchteten“, nicht von „Flüchtlingen“ (S. 125, 129, 152, 185, usw.). Man muss ja froh sein, dass Stanisic nicht mit Binnen-I schreibt.

Ganz im Stil der maßlos übersteigerten EU-Ideologie, mit der sich die EU tragischerweise gerade selbst zerstört, wettert Stanisic auch gegen die „Kleinstaaterei“ (S. 64). Haben kleinere Staaten nicht ihren eigenen Charme? Etwa die Schweiz? Oder Norwegen? Sind große Staaten nicht eher unpersönliche Machtblöcke ohne Individualität, denen jeder Charme fehlt?

Fazit

Sasa Stanisic ist literarisch und menschlich auf einem guten Weg. Er hat ein lesenswertes Denkmal für seine Herkunft aus Jugoslawien und seine Ankunft in Deutschland gesetzt. Auf tragisch-wunderbare Weise, denn manches an diesem Denkmal konterkariert, was er an anderer Stelle sagt. Leider ist Sasa Stanisic ein unaufgeklärter Idealist und politisch völlig auf dem Holzweg. Er steckt beim Thema Herkunft in einigen Selbstwidersprüchen fest, und er hat nicht verstanden, dass er die Dämonen selbst heraufbeschwört, die er so gerne bannen möchte. Er ist ein guter Beobachter, aber ein schlechter Denker.

Der Deutsche Buchpreis ging an dieses Buch, weil es den Zeitgeist der Eliten in Politik, Medien und Kultur traf, aber nicht, weil es ein Stachel im Fleisch wäre. Zu einem Stachel im Fleisch zu werden, dorthin muss Stanisic erst noch kommen. Man möchte ihm eine Midlife Crisis wünschen, in der er gegen das dumme öffentliche Geschwätz eine bessere Vereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit findet, in der er seine radikalen Einseitigkeiten zugunsten eines großen Sowohl-als-Auch fallen lässt.

Sasa Stanisic ist seit 2013 deutscher Staatsbürger, und mit Heidelberg-Romantik, Multikulti-Romantik und dem Romantiker Eichendorff steckt er mitten drin im deutschen Wald und Sumpf. Deutsch sein hieß aber schon immer auch, Wälder zu roden und Sümpfe trocken zu legen, um gutes Ackerland zu gewinnen, auf dem dann tausendfältige Frucht wachsen kann. Dazu muss man aber die Romantik fallen lassen, und sich für die Aufklärung öffnen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. November 2019)