Schlagwort: Nationalsozialismus (Seite 1 von 2)

Ulf Poschardt: Shitbürgertum (2025)

Die Geburt des Shitbürgers aus dem Ungeist des NS-Wendehalses

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen neuen Begriff geprägt für etwas, was wir schon kennen: Das „linksliberale“ Bürgertum der BRD. In seiner anekdotischen Beschreibung des „linksliberalen“ Elends hat dieses Buch viele Überschneidungen mit anderen Werken zum Thema, etwa „Unter Linken“ von Jan Fleischhauer.

Das Besondere dieses Buches

Ulf Poschardt liefert allerdings keine heiter-gelassene Beschreibung des Shitbürgertums. Bei Poschardt kommt ein aggressiver Ton hinzu: Das Shitbürgertum muss weg. Weil es uns inzwischen kaputtzumachen droht. Die letzten Reste liberalkonservativer Bürgerlichkeit sind aufgezehrt, der Marsch durch die Institutionen ist vollendet. Niemand hindert das Shitbürgertum mehr an seinem selbstzerstörerischen Wirken. Die Antwort auf den Marsch durch die Institutionen muss die Schleifung der Institutionen sein.

Vor allem aber überrascht das Buch mit seiner Kritik an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Etwas ist gründlich schief gegangen bei der Vergangenheitsbewältigung, und zwar von Anfang an, und es zieht sich bis heute durch. Den Ursprung des Shitbürgertums sieht Ulf Poschardt in der inneren Abspaltung der bösen Vergangenheit durch NS-Wendehälse wie Günter Grass oder Walter Jens. Diese NS-Wendehälse belehrten uns ihr ganzes Leben lang, wie böse und faschistisch die BRD-Gesellschaft doch sei, aber dann stellte sich heraus, dass diese Gestalten selbst überzeugte Nazis gewesen waren!

Diese innere Abspaltung des eigenen Bösen hat eine manichäische Haltung von absolut rein und gut vs. absolut schmutzig und böse hervorgebracht, die bis heute beim „linksliberalen“ Bürgertum anhält. Das Shitbürgertum ist in diesem Sinne infantil und regressiv, weil es ein radikal simplifiziertes Weltbild hat: Das Böse, das ist immer das „Eigene“, also das Deutsche und das Normale, und die Bösen, das sind immer die anderen. Wer nicht „linksliberal“ ist, der ist „Nazi“. Dieser Manichäismus ist auch der Grund, warum dieses „linksliberale“ Bürgertum jeden selbstzerstörerischen und selbstverleugnenden Unsinn mitmacht, so dass sich die Gesellschaft immer mehr in einen autoritären Kindergarten verwandelt. Diese Kritik ist ein fulminanter Angriff gegen das juste milieu der BRD, und ja: Ulf Poschardt trifft den wunden Punkt unserer Gesellschaft sehr gut.

Für das Shitbürgertum dürfte allein die Tatsache, dass ihre „linksliberalen“ Ikonen wie Günter Grass und Walter Jens fast alle (!) ehemalige Nazis waren, eine ungeheure Provokation sein. Bislang nimmt man dieses Phänomen immer noch als Einzelfall wahr. Dass aber die BRD geistig dermaßen stark durch ehemalige Nazis geprägt wurde, die auf Wendehals machten, ist bislang noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Dieser Teil unserer Geschichte wird immer noch tapfer verdrängt, und mit ihm die üblen Konsequenzen bis heute.

Was dem gegenüber wieder gewonnen werden muss, ist die Fähigkeit zur Ambivalenz, die Integration der eigenen Schattenseiten in das eigene Bewusstsein, gewissermaßen ein Erwachsenwerden hin zum Realismus und weg von manichäischen Illusionen über sich und andere. Deutschland liegt bei Ulf Poschardt also auf der Couch und bedarf der Therapie. Auch das ist kein völlig neuer Gedanke.

Rettung sieht Ulf Poschardt von der Pop-Kultur her kommen: Diese ist rücksichtslos und frech, aber auch zur Ambivalenz fähig. Die Kettensäge von Milei oder Donald Trump sind für Ulf Poschardt popkulturelle Phänomene.

Kritik – Weiterentwicklungen des Shitbürgertums

Mindestens zwei historische Weiterentwicklungen des Shitbürgertums werden bei Ulf Poschardt nicht oder nicht ausreichend thematisiert. Die Urquelle des Shitbürgertums sind zweifelsohne die NS-Wendehälse. Das ist richtig.

Aber 1989/90 kam der Antifaschismus der DDR hinzu. Die DDR definierte sich kurzerhand als antifaschistischer Staat, was zur Folge hatte, dass die DDR zur Selbstkritik nicht mehr fähig war. Im ZK der SED tummelten sich die NSDAP-Funktionäre, die Freie Deutsche Jugend wurde maßgeblich von Hitlerjugend-Funktionären aufgebaut, die Volksarmee der DDR war von einer NS-Aufarbeitung so weit entfernt wie der Mond, und auch die starke Skinhead-Szene der DDR verdankt sich der völligen Unfähigkeit der DDR, die deutsche Vergangenheit adäquat aufzuarbeiten. Die DDR war gewissermaßen der Staat-gewordene NS-Wendehals, der manichäische Abspaltung betrieb. Mit der Wiedervereinigung kamen in diesem (Un-)Geist geprägte Gestalten aus der DDR an die Schaltstellen von Politik und Gesellschaft in der BRD.

Die zweite große Weiterentwicklung des Shitbürgertums kam aus dem angelsächsischen Raum: Dort hatte sich eine ganz ähnlich shitbürgerliche Deutung der dortigen Kolonialvergangenheit herausgebildet, die alles, was früher war, verteufelte. Zugleich hatten sich an den US-Universitäten postmoderne Ideologien durchgesetzt, die den klassischen Humanismus zersetzten: Vernunft, Realismus oder Freiheit sind für postmoderne Ideologen lediglich Machtmittel von „alten, weißen Männern“, die es zu dekonstruieren gälte. Dieser Ungeist schwappte mit voller Wucht in unsere Gesellschaft herüber und wurde von den hiesigen Shitbürgern begierig aufgesogen. Ein irrwitziger Multikulti-Fanatismus und eine realitätsverleugnende Gender-Ideologie machten sich breit, bis hin zur Zerstörung unserer geliebten deutschen Sprache. Teilweise wurde in sklavischer Übernahme angelsächsischer Shit-Ideen sogar versucht, den Holocaust gegenüber der deutschen Kolonialvergangenheit herunterzuspielen. Antisemitismus ist der heimliche Trumpf im heutigen Shitbürgertum.

Kritik – Zentraler Irrtum von Ulf Poschardt

In einem entscheidenden Punkt übernimmt Ulf Poschardt eine shitbürgerliche These der NS-Wendehälse, statt diese als einen wesentlichen Bestandteil ihrer inneren Abspaltung von allem Bösen zu erkennen: Ulf Poschardt meint, dass die deutsche Kultur vor 1933 tatsächlich schlimm, schlecht und böse gewesen sei und mehr oder weniger zwangsläufig zum Nationalsozialismus geführt habe. Also ganz so, wie die NS-Wendehälse es uns einzureden versuchten.

Dabei ist diese Art der Geschichtsbetrachtung doch allzu leicht als ein integraler Bestandteil der Abspaltungsstrategie zu durchschauen! Denn die totale Schlechtredung von allem, was früher war, ist gewissermaßen der Gipfel der inneren Abspaltung. Je reiner die NS-Wendehälse sich selbst fühlen wollten, desto schmutziger musste alles andere sein. Und der Gipfel des Schmutzes ist es natürlich, wenn nicht nur die Nazis Nazis waren, sondern am besten alle Deutschen, und das nicht nur 1933-45, sondern möglichst schon seit es Deutsche gibt. Das ermöglichte es den NS-Wendehälsen auch, sich über ihre Mitmenschen zu erheben: Denn wenn sie auch keine Nazis mehr waren, so waren sie doch immer noch Deutsche, trugen also das „böse Erbe“ in jedem Fall noch in sich. Die Flucht vor dem Deutschsein nach „Europa“, die Flucht in einen völlig irrwitzigen Multikulti-Fanatismus haben hier ihre Erklärung, und ebenso natürlich der Hass auf alles Deutsche, wie er in der Gendersprache zum Ausdruck kommt.

Dass Ulf Poschardt bei all seiner Einsicht in das Wesen der NS-Wendehälse dieses zentrale Märchen nicht erkannt hat, ist bedauerlich und fast schon seltsam. Es gibt übrigens noch eine weitere Steigerung dieses Märchens der NS-Wendehälse: Die nächste Steigerung wäre, dass alle Menschen verdorben und schlecht, mithin „Nazis“ sind, und dass die Übel der Welt nur durch die Überwindung des Menschen selbst ausgerottet werden können. Da sind wir dann bei den postmodernen Klimaapokalyptikern und Extinktionalisten angelangt, für die die „unberührte“ Natur alles ist, und der Mensch nichts.

Im den folgenden Abschnitten widerlegen wir im Detail die Argumente, mit denen Ulf Poschardt die ganze deutsche Vergangenheit vor 1933 zum Problem erklärt, danach nehmen wir den Faden der Kritik wieder auf.

Widerlegung: Gegen die Vollschuldigkeit aller Deutschen

Die These, dass die Deutschen im Nationalsozialismus gewissermaßen kollektiv und allesamt schwer schuldig geworden waren, ist völlig falsch. Diese These spiegelt nicht die Realität, sondern natürlich nur die manichäische innere Abspaltung der NS-Wendehälse. Denn wenn alle Deutschen mehr oder wenig schuldig waren, dann ist auch ihre eigene Schuld nicht mehr so groß. Außerdem kann man sich hinterher umso besser moralisch über seine Mitbürger erheben, wenn man sie alle für schuldig erklärt.

In Wahrheit ist die Schuld am Nationalsozialismus jedoch sehr ungleich verteilt. Für Humanisten gilt immer die individuelle Verantwortung. Jeder sündigt für sich allein. Es gibt keine Kollektivschuld und keine Sippenhaft.

Die meisten Deutschen waren keine Nazis. Thomas Mann und Karl Jaspers waren z.B. auch Deutsche: Wie sollte man auf die Idee kommen, ihnen eine nennenswerte Schuld zu unterstellen? Martin Walser erzählte von seiner Mutter, die für den NS-Seniorenbund Kuchen backte und sich dort mit älteren Damen zum Kaffeekränzchen traf: Diese Seniorinnen waren wohl kaum sehr schuldig, sondern hatten ganz einfach keine Ahnung von dem, was wirklich geschah. In den letzten wirklich freien Wahlen gewannen die Nationalsozialisten gerade einmal 33% der Stimmen. Das ist erstaunlich wenig. Und auch die meisten Wähler der NSDAP hatten vermutlich höchst naive Vorstellungen über die Politik, die von den Nationalsozialisten gemacht werden würde. Das war damals nicht anders als heute: Was weiß der durchschnittliche Wähler denn z.B. schon davon, was Angela Merkel mit ihrer Euro-Rettungspolitik angerichtet hat? Wenn die Medien nicht Alarm schlagen, wird es die Masse der Menschen nicht realisieren. So war es immer, so wird es immer sein.

Gerade weil die Deutschen meistens nur wenig oder gar nicht schuldig waren, war es 1945 eine effektive Methode zur Entnazifizierung, die Deutschen durch die KZs zu führen: Denn das, was die Deutschen da zu sehen bekamen, war nicht das, was sie gewollt hatten, jedenfalls die meisten nicht. Und es musste ihnen gezeigt werden, damit sie es glauben konnten, sonst hätten sie es – irrig aber ehrlich – rundweg abgestritten. Hätten die Deutschen diese Verbrechen gewollt, hätten die Führungen durch die KZs keinen Effekt gezeigt. Hier ist auch an Hannah Arendt zu erinnern, die nach den ersten Berichten aus den befreiten KZs an alliierte Propaganda glaubte und einige Tage benötigte, um zu begreifen, dass die Berichte wahr sind. Wenn schon eine Hannah Arendt es nicht wusste und erst nicht glauben konnte, wie dann erst ein Otto-Normal-Deutscher?

Eine größere Schuld trifft natürlich intellektuelle Menschen, die ideologische Texte zugunsten des Nationalsozialismus produziert hatten und in die NSDAP eingetreten waren. Das trifft auf die von Ulf Poschardt ins Auge gefassten NS-Wendehälse meistens zu. Es ist kein Wunder, dass gerade solche Leute das Märchen in die Welt setzen wollen, dass „die Deutschen“ insgesamt schuldig am Nationalsozialismus geworden seien. Das liegt doch auf der Hand! Warum hat Ulf Poschardt das nur nicht gesehen?

Widerlegung: Gegen eine pauschale Deutschfeindlichkeit

Von George Steiner, einem US-Literaturwissenschaftler, zitiert Ulf Poschardt zustimmend, dass man offenbar zugleich Goethe und Rilke lesen und Menschen in Auschwitz Menschen ermorden könne. Und: „For let us keep one fact clearly in mind: the German language was not innocent of the horrors of Nazism.“

Die Vorwürfe von George Steiner sind leicht zu widerlegen. Haben denn britische Kolonialoffiziere, die Verbrechen begangen haben, keinen Shakespeare gelesen? Was will man damit überhaupt aussagen, dass klassische Bildung angeblich nichts nütze gegen Verbrechen?! Das Gegenteil ist doch richtig: Natürlich kultiviert Bildung den Menschen. Natürlich trägt sie zur Humanisierung bei. Das ist doch gar keine Frage! Wer jedoch von den Ausnahmen her ein Argument gegen Bildung konstruieren will, der schüttet das Kind mit dem Bade aus. Es wird immer Menschen geben, die sich dem tieferen Sinn von Bildung gegenüber verschlossen zeigen und diese falsch und schief interpretieren. Das macht die Bildung aber nicht wertlos.

Genau dieser falsche Vorwurf an die klassische Bildung, womöglich zum Nationalsozialismus beigetragen zu haben, wurde von den NS-Wendehälsen erhoben, die Poschardt kritisiert. So z.B. Alfred Andersch in seinem Buch „Der Vater eines Mörders“, in dem auf groteske Weise versucht wird, dem Vater Heinrich Himmlers, der Direktor an einem humanistischen Gymnasium war, eine Mitschuld am Nationalsozialismus anzuhängen (mit der vergifteten Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“). Es ist völlig unverständlich, warum Ulf Poschardt diese falsche und freche Verleumdung der klassischen Bildung durch die NS-Wendehälse mitmacht, indem er George Steiner zustimmend zitiert.

Schließlich noch zu dem Vorwurf von George Steiner, dass schon die deutsche Sprache schuldig sei. Hier sind wird dann endgültig bei der These angekommen, dass die deutsche Kultur schlechthin verdorben und Nazi-artig sei. Wenn das wahr wäre, dann müsste man die deutsche Kultur tutto completto abräumen. Von Walther von der Vogelweide bis Michael Ende. Genau das ist ja auch das Ziel nicht weniger „Linksliberaler“. Es ist die reine Deutschfeindlichkeit. Aber sie ist natürlich nur dumm und falsch. Wer die 1000jährige deutsche Geschichte – oder auch die jahrhundertealte Geschichte Preußens – nur als ein Vorspiel zum Nationalsozialismus verstehen will, der hat schlicht eine Macke. Man kann es nicht anders sagen.

Gewiss kann und soll und muss die deutsche Kultur gereinigt und erhöht werden – aber nur, wie jede andere Kultur auch. Wer Adolf Hitler zum Inbegriff des Deutschen schlechthin macht, ist auf dem Holzweg. Ulf Poschardt verweist selbst auf Thomas Mann und dessen These von der Ambivalenz der deutschen Kultur (S. 150). Eine Ambivalenz existiert aber nur dort, wo es auch das Gute gibt.

Widerlegung: Gegen ein falsches Preußenbild

Ein zentrales Argument Poschardts für die Schuldigkeit der deutschen Kultur ist die Forschung der britischen Historikerin Helen Roche zu preußischen Militärschulen und zu nationalsozialistischen Napola-Militärschulen. Helen Roche glaubt, dass in beiden Fällen das „Härteideal Spartas“ eine zentrale Rolle gespielt habe, beidemale als Antwort auf Niederlagen (gegen Napoleon und 1918). Poschardt spricht auch von dem „unbarmherzigen Preußentum“. (S. 21)

Es hört sich zunächst martialisch und unmenschlich an: Das Härteideal Spartas an preußischen und NS-Schulen. Aber es handelt sich um eine große psychologische Irreführung. Die Wahrheit ist viel banaler.

Die Wahrheit ist zunächst, dass im 19. Jahrhundert die klassische Bildung in ganz Europa Hochkonjunktur hatte. Es dürfte überall in Europa an allen Militärschulen aller Länder über Sparta nachgedacht worden sein. Sparta steht im klassischen Bildungskanon für das Militärische wie nichts anderes, und nichts lag deshalb näher, als sich an Militärschulen mit Sparta zu befassen. Nicht nur in Preußen, sondern auch in England oder Frankreich. Rezensionen zur Forschung von Helen Roche merken an, dass ihre Belege für die Rezeption Spartas an preußischen Kadettenschulen weniger eindeutig sind als die für die NS-Napola-Anstalten und mehr als ein Hinweis auf die damals vorherrschende klassische Bildung zu deuten sind (z.B. Hagen Stöckmann auf H-Soz-Kult 31.03.2014).

Zum Militärischen gehören auch heute noch Dinge wie Pflicht, Gehorsam, Drill, Opferbereitschaft, Patriotismus. Ein Militär ist ohne diese Dinge schlicht nicht denkbar. Auch jede moderne Armee muss sich damit auseinandersetzen. Und warum sollte man das nicht mit dem antiken Sinnbild für das Militärische schlechthin tun? Man sollte hoffen, dass auch heute noch in den Bildungseinrichtungen der Bundeswehr klug über Sparta nachgedacht wird. Aber natürlich auch über Athen.

Denn im 19. Jahrhundert stand unter Gebildeten nicht Sparta, sondern Athen im Mittelpunkt. Wir lesen in der Gefallenenrede des Perikles, dass auch die Athener sich auf das Militär verstanden, und zwar nicht schlechter als die Spartaner. Das wusste man auch im 19. Jahrhundert. Die Ideen der preußischen Reformer hören sich jedenfalls wesentlich mehr nach Athen als nach Sparta an, darunter die Heeresreform mit ihrem Konzept des Bürgers als dem geborenen Verteidiger seines Landes. Auch die Flottenbegeisterung zur Kaiserzeit konnte wesentlich besser an Athen als an Sparta anknüpfen, denn Sparta galt als Landmacht, Athen jedoch als Seemacht.

Hinzu kommt, dass der Militarismus Spartas noch keinen Rassismus, ja, überhaupt nicht zwingend irgendeinen Antihumanismus bedeuten muss. Die „bösen“ Spartaner haben jedenfalls keinen Völkermord begangen, sondern ausgerechnet die „guten“ Athener, nämlich gegen die Bewohner der Insel Melos. Der berühmt-berüchtigte Melierdialog bei Thukydides gehört zum unverlierbaren Bildungsgut der Menschheit als Mahnung für alle Zeiten. Seit damals stellen sich Historiker die Frage, wie es möglich war, das gerade eine Bildungsnation wie Athen einen Völkermord begehen konnte. Es ist dieselbe Frage, die man sich im 20. Jahrhundert zu Deutschland und dem Holocaust stellte, denn auch Deutschland war ein Land der Bildung. Wer da in einer Befassung mit Sparta ein besonderes Problem sehen will, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.

Schließlich ist Ulf Poschardt einfach völlig auf dem Holzweg, wenn er von „unbarmherzigen Preußentum“ spricht. Das war die primitive Sicht der ungebildeten Nazis auf das Preußentum. Kadavergehorsam war eine Idee der Nazis, nicht Preußens. Preußen lebte auch von seinen Legenden und Mythen, und eine dieser unverlierbaren, wahren Legenden ist die des preußischen Generals von der Marwitz (1723-1781), der einen Befehl Friedrichs des Großen aus Gewissensgründen verweigerte. Ikonisch schrieb man auf seinen Grabstein: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“ Dieser Satz gehört fest zum kollektiven Gedächtnis Preußens. Und er hat Wirkung gezeigt, z.B. im bekannten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Gleichzeitig machte sich Hitlers Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel über diverse moralischen Bedenken der preußischen Offiziere in der Wehrmacht lustig. Keitel war eben kein Preuße, sondern ein Nazi.

In Wahrheit war Preußen einfach ein Staat wie jeder andere, sagen wir: wie England, mit Höhen und Tiefen, mit guten und schlechten Seiten. Die Kritik an Preußen ist bestens bekannt und teilweise auch berechtigt. Aber Preußen stand – durch Friedrich den Großen und Immanuel Kant – eben auch für die Aufklärung. Die preußischen Reformer und die Humboldt-Brüder standen für Fortschritt, Aufklärung, Geist und Moderne.

Das Spießrutenlaufen schaffte das „unbarmherzige“ Preußen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab, also genau in der Phase, in der an preußischen Militärschulen über das Härteideal Spartas nachgedacht wurde. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855.

In der Revolution von 1848 zeigte sich der preußische König mit der schwarz-rot-goldenen Fahne, nachdem ein versehentlicher Schuss (bis heute ungeklärt woher) zu Barrikadenkämpfen in Berlin geführt hatte. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das. Aber die Shitbürger plappern munter von der „Unbarmherzigkeit“ Preußens.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Preußen scheint also in den Augen der Frankfurter revolutionären Parlamentarier nicht der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Jeder weiß auch, dass Preußen die Kaiserkrone wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht.

Historiker wie Hedwig Richter haben darauf hingewiesen, dass das Kaiserreich moderner und demokratischer war als viele meinen.

Es ist einfach eine falsche und ungerechte schwarze Legende, dass Preußen „unbarmherzig“ und „hart“ gewesen wäre, und dass dies mehr oder weniger zielstrebig im Nationalsozialismus geendet hätte. Diese primitive Sicht auf Preußen wurde dann nahtlos von den NS-Wendehälsen in die BRD hineingetragen. Es macht traurig, dass Ulf Poschardt in diesem Punkt den NS-Wendehälsen auf den Leim gegangen ist.

Schließlich ist es Ulf Poschardt selbst, der Preußen auf S. 87 positiv konnotiert und damit seiner eigenen Preußenfeindlichkeit vom Anfang des Buches widerspricht. Dort echauffiert sich Poschardt darüber, dass Oskar Lafontaine „den preußischen Hanseaten“ Helmut Schmidt attackierte, um gegen die preußischen Sekundärtugenden zu polemisieren. Hier hat Ulf Poschardt die Verhältnisse wieder gerade gerückt: Oskar Lafontaine ist der Shitbürger, der die preußische Vergangenheit abspaltet und Sekundärtugenden nur verachtet, obwohl sie wertvoll sind, während Helmut Schmidt diese preußische Vergangenheit nicht abspaltet, sondern in seine Persönlichkeit inkorporiert, und auf vernünftige Weise für seine Gegenwart fruchtbar macht.

Ulf Poschardt wiederholt hier übrigens denselben Denkfehler, den auch Andreas Rödder in seinem Buch „Konservativ 21.0“ begangen hat: Erst sagt Rödder, dass es durch den Nationalsozialismus einen Traditionsbruch gegeben habe, und deshalb müsse man mit allem, was davor war, brechen. (Was für ein Unsinn! Gerade deshalb, weil der Nationalsozialismus ein Bruch war, kann man sehr wohl an das, was davor war, wieder anknüpfen.) Später dann beruft sich Rödder auf den Preußen Wilhelm von Humboldt und fordert Allgemeinwissen über Preußen und die Hohenzollern ein. Auch hier bei Rödder finden wir also diese völlig verklemmte Selbstwidersprüchlichkeit im Umgang mit Preußen: Erst verdammt man gut shitbürgerlich alles, dann erachtet man aber doch dies oder das oder jenes für wertvoll, und merkt den Widerspruch nicht.

Kritik – Keine konstruktive Vision

Fahren wir mit unserer Kritik fort: Ulf Poschardt erhofft sich Rettung von der Popkultur und deren respektlosen Zerstörung der Verhältnisse. Aber eine konstruktive Vision ist das eigentlich nicht. Gut, es ist eine libertäre Vision. Aber nach dem libertären Kettensägenmassaker muss eine Ordnung übrig bleiben, und die will konstruktiv gedacht sein. Hier schwächelt Poschardt.

Was fehlt, ist natürlich eine positive Vision für Deutschland. Ein geläutertes Nationalbewusstsein ohne Abspaltungen: Darum geht es Poschardt doch! Ein Deutschland, das mit sich im Reinen ist. Ein Deutschland, das stolz auf den – sprechen wir es aus – preußischen Humanismus ist. Ein Deutschland, das auch Zuwanderer gerne in seine wunderbare Kultur integriert, die eine offene und humanistische Kultur ist, aber keinesfalls eine selbstvergessene Kultur. Aber solche Töne fehlen bei Poschardt. Vielleicht hätte ihm das zu national gesinnt geklungen? Es wäre aber nur folgerichtig.

Man hätte z.B. die Vision entwickeln können, den Staat Preußen als ganz normales Bundesland, bestehend aus den historischen Gebieten auf dem Boden der ehemaligen DDR, wiederzuerrichten. Wer die falsche Abspaltung der NS-Wendehälse überwinden wollte, müsste genau das tun. Endlich die volle Versöhnung mit der eigenen Geschichte, endlich die volle Ambivalenz ins eigene Nationalbewusstsein integriert. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem!

Vielleicht scheitert Ulf Poschardt aber gerade deshalb an einer solchen positiven Vision, weil er den Shitbürgern in einem Punkt auf den Leim gegangen ist: Dass Deutschland und die deutsche Kultur vor 1933 durchweg „böse“ und schuldig seien. Auf dieser ideologischen Basis kann man nie mehr zu einer Geisteshaltung ohne Abspaltung kommen.

Kritik – Shitbürgertum von Rechts kaum thematisiert

Ulf Poschardt erwähnt, dass die starken Männer in der AfD gegen den Westen und gegen den Liberalismus sind (S. 144). Aber leider zieht er nicht die direkte Verbindung zum Shitbürgertum, die hätte gezogen werden müssen!

Wenn wir Alexander Gaulands Buch „Anleitung zum Konservativsein“ lesen, finden wir dort im Zentrum des Buches in mehreren Kapiteln (!) eine fundamentale Kritik an Preußen. Gauland zieht alle nur erdenklichen Register der preußenfeindlichen Propaganda. Schließlich meint Gauland, dass Preußen gesellschaftlich und territorial verloren sei, und will auf gar keinen Fall – und niemals nicht! – dass Preußen wieder sei. Das ist schon auffällig nahe am Shitbürgertum.

Gleichzeitig freut sich Gauland darüber, wie die Osteuropäer wieder an die Zeit vor 1933 anknüpfen, bevor sie durch Nationalsozialismus und Kommunismus geknebelt wurden. Und das, obwohl diese Länder kaum weniger als Preußen „gesellschaftlich und territorial“ gelitten haben. Auch hat Alexander Gauland überhaupt kein Problem mit Bayern, und das, obwohl Bayern das Bundesland mit den engsten Bindungen zum Nationalsozialismus war: München war die Hauptstadt der Bewegung, Nürnberg die Stadt der Reichsparteitage, und in Bayreuth residierte der große Inspirator des Nationalsozialismus auf dem Grünen Hügel. Für Gauland kein Problem. Aber Preußen mit seiner Rationalität und seinem preußischen Humanismus, das ist für Gauland ein Riesenproblem.

Auch sonst ist Gauland der typische Shitbürger: Sein Antiamerikanismus ist unübersehbar. Sein Antiliberalismus ist penetrant. Und konservativ ist er eigentlich auch nicht, wenn man es recht bedenkt. Sondern unangenehm bräunlich. Eine Fixierung auf Hitler scheint offensichtlich.

Schließlich missbraucht Alexander Gaulands Freund Björn Höcke Preußen immer wieder als Projektionsfläche für seine schrägen Phantasien. Höcke kann dies tun, weil das juste milieu der BRD ihm Preußen völlig überlassen hat. Höcke kann über Preußen den größten Unsinn verzapfen, wie einst die NS-Wendehälse, und niemand widerspricht ihm.

Insbesondere aber denkt Höcke keine Sekunde daran, Preußen als Bundesland wiederherzustellen. Das wahre Preußen wäre für Höcke ein Problem. Das wahre Preußen ließe sich nicht so leicht missbrauchen. Es stünde Höckes Visionen von Deutschland nur im Wege. Wir erinnern uns, wie Kaiser Wilhelm II. in seinem Exil in Doorn mehrere Stunden vergeblich versuchte, Göring zu erklären, dass man Deutschland nur in Ländern regieren könne: „Zwei Stunden lang habe ich diesem Rindvieh klarzumachen versucht, dass man Deutschland nur auf der Grundlage des Föderalismus regieren kann.“

Kritik – Kleine Fehler

Richard von Weizsäcker wird von Ulf Poschardt den Shitbürgern entgegengestellt (S. 37). Er hätte seine Rede vom 8. Mai 1985 nur deshalb halten können, weil er selbst aufgrund seiner Familiengeschichte die Ambivalenzen integriert hätte. Doch das ist falsch. Ganz falsch. Bekanntlich wurde Weizsäckers Rede für die Aussage gefeiert, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war. Doch diese Einseitigkeit der Perspektive auf den 8. Mai ist genau die Abspaltung von allem Bösen und Problematischen, das Ulf Poschardt anprangert. Denn viel besser als Richard von Weizsäcker hatte es der erste Bundespräsident Theodor Heuss gesagt, der in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 eine andere Deutung des 8. Mai präsentiert hatte, die bis 1985 unter Liberalkonservativen unbestritten war: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Hier, bei Theodor Heuss, finden wir die Integration der Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, während Richard von Weizsäcker einfach nur ein weiteres abspalterisches Dogma des Shitbürgertums bestätigt hat.

Martin Walser wird bei Ulf Poschardt zu den Shitbürgern und Antisemiten gezählt, seine Friedenspreisrede in der Paulskirche scharf kritisiert (S. 32). Diese Perspektive ist fragwürdig. Martin Walser hatte sich von der linksliberalen Schickeria losgesagt und gründlich zu denken begonnen („Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil“), weshalb er ausgegrenzt blieb. Auch seine Paulskirchenrede ist nicht einfach antisemitisch, sondern im Gegenteil ein Versuch, die Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, wieder sichtbar zu machen. (Es wäre interessant zu wissen, was Ulf Poschardt von Hans Magnus Enzensberger denkt.)

Fazit

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen laut vernehmbaren Weckruf in die Welt gesandt, der hoffentlich zu einer vermehrten Bewusstseinsbildung beiträgt, indem Realitäten auf Begriffe gebracht werden, vor allem den Begriff des „Shitbürgertums“. Völlig richtig ist, dass Ulf Poschardt den Kern des Übels in einer falschen Vergangenheitsbewältigung sieht. Leider ist Ulf Poschardt selbst nicht völlig frei von den Lebenslügen der Shitbürger. Deshalb bleibt seine positive Vision für Deutschland auch seltsam dünn. Aber es ist eine Streitschrift, lanciert zum Streiten. Und das ist gut, denn es ist der Anfang von aller besseren Erkenntnis.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Necla Kelek: Himmelsreise – Mein Streit mit den Wächtern des Islam (2010)

Eine gute Einführung, die gegen Naivität immunisiert

Keleks Himmelsreise ist anders als das Cover vermuten lässt keine autobiographische Darstellung, sondern eine gute Einführung in das Thema Islam in Deutschland. Der Leser bekommt alles geboten:

  • „Den Islam“ gibt es nicht – und es gibt „ihn“ doch.
  • Was macht das „System Islam“ aus? Eine geschlossen hierarchische Gesellschaftsstruktur.
  • Warum auch die Männer darin unfrei sind.
  • Das Scheitern der Aufklärung im Islam.
  • Deutsche Islamverbände heute.
  • Deutsche Geschichte und Islam: Karl der Große, Preußen, Lessing, Goethe, Hitler, BRD.
  • Sind die „Reformer“ wirklich Reformer?
  • Realistische Wege zur Islamreform.

Keleks Buch ist kein Buch für Träumer, aber auch nicht für Islamhasser, sondern für Leute, die es wirklich wissen wollen. Nicht umsonst war es Kelek, die Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ der Öffentlichkeit vorstellte. Gefallen hat u.a. der Abschnitt, in dem Kelek aufzeigt, dass man Lessing und Goethe nicht einfach als Islamfreunde vereinnahmen kann.

Sehr gut gelungen ist der Abschnitt, in dem Kelek den meisten „Reformern“ die Maske vom Gesicht reißt. Es gibt sicher glaubwürdige Reformer, aber die prominenten Vorzeigereformer gehören oft leider nicht dazu.

Interessant war auch die Erkenntnis, dass z.B. die Politik Karls des Großen, die bis heute wirksame Weichenstellungen getroffen hat, in Wechselwirkung zur Politik seines Verbündeten, des Kalifen von Baghdad, gesehen werden kann.

Kelek hinterfragt auch mit großem Erfolg die Legitimation der deutschen Islamverbände.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. August 2012)

Ernst Bertram: Vineta (2023)

Dunkle Gedichte von einem dunklen Autor, etwas dunkel präsentiert

Der im Castrum-Verlag erschienene Band „Vineta“ versammelt Gedichte aus den letzten Lebensjahren des Kölner Germanisten Ernst Bertram (1884-1957). Ernst Bertram war – auch durch seine Homoerotik – stark vom George-Kreis beeinflusst und stand ganz im Banne Nietzsches. Damit war er einer dunklen Romantik zugeneigt, die die Helligkeit der Vernunft nicht kennt. Seine langjährige Freundschaft mit Thomas Mann, die zu einem umfangreichen Briefwechsel führte, änderte daran nichts.

Ernst Bertram begrüßte 1933 den Anbruch des Nationalsozialismus in einer Rede gegenüber seinen Studenten, und er beteiligte sich auch an der Verbrennung von Büchern. Dass er vom Nationalsozialismus bald enttäuscht wurde und auch die Bücherverbrennung unter Protest verließ, als er nicht verhindern konnte, dass auch die Bücher von Thomas Mann verbrannt wurden, ändert nichts an seiner antihumanistischen Einstellung, die klar zum Ausdruck kommt. Manche möchten Ernst Bertram seine Naivität zugute halten. Doch soviel Naivität ist bei einem Gelehrten nicht erlaubt. Ernst Bertram war nationalsozialistisch gesinnt, wenn auch auf naive Weise. Ein Mitglied der NSDAP war er nicht.

Die Gedichte haben die legendäre Stadt Vineta, die einst in der Ostsee versank, zum Thema. Vineta dient dabei als dichterische Chiffre für Untergang und Verlust, es geht nicht um das historische Vineta. Die dunkle Romantik Bertrams verklärt Untergang und Verlust und sucht darin eine Mahnung für die Gegenwart oder ein mystisches Versenken in ewiger Erinnerung. Die Gedichte sind oft pessimistisch: Der Untergang ist nicht aufzuhalten, sondern schicksalhaft und unvermeidlich. Die meisten bemerken den Beginn des Untergangs nicht und schlagen Warnungen in den Wind, und für Gegenwehr ist es immer zu spät, sobald man den Untergang bemerkt. Ergebenheit in das Schicksal ist ein Thema. Musik ist immer wieder Medium der Ewigkeit.

Das versunkene Vineta hatte für Ernst Bertram einen ähnlichen Stellenwert wie der Hades für die alten Griechen: Ein Ort der Schatten und der unendlichen Verlorenheit. Ein Verdacht von Nekrophilie liegt in der Luft, Zuversicht findet sich nirgends. Als humanistisch eingestellter Mensch kann man nur wenig aus diesen Gedichten mitnehmen.

Atlantis wird als eine weitere Chiffre für Untergang und Verlust verwendet: Vineta ist das „Atlantis des Nords“. An keiner Stelle wird der Gedanke an Atlantis als einen realen Ort auch nur angedeutet. Es ist alles Chiffre und dichterische Phantasie. Auch das Adjektiv „atlanten“ wird verwendet, als poetische Form von „atlantisch“.

Konrad Adam gibt in einem Nachwort seinen persönlichen Erinnerungen an Ernst Bertram Raum. Offenbar wurde Konrad Adam als Kind – er war 15 als Bertram starb – von Ernst Bertram ein wenig unter die Fittiche genommen: Bertram schenkte ihm Bücher mit Widmungen und sie gingen gemeinsam ins Museum. Wie dieses Verhältnis zustande kam und wie es genau aussah, wird jedoch nicht gesagt. Das ist ein Manko. Man kann vermuten, dass Konrad Adam, dessen Vater mit dem George-Kreis in Berührung war, durch diesen in Kontakt mit Bertram kam. Aus anderen Quellen erfährt man, dass Konrad Adams Vater Ernst Bertram bei dessen Entnazifizierungsprozess half. Man fragt sich, warum Konrad Adam das nicht klarstellt. Ebenso bringt Konrad Adam nicht deutlich genug zum Ausdruck, dass Ernst Bertram ernstlich mit dem Nationalsozialismus verstrickt war.

Fazit

Ein dunkles Buch, von einem dunklen Dichter, auf eine etwas dunkle Weise herausgegeben.

Fehler

Eines der Gedichte heißt „Ankona“. Der Name wird im Gedicht mehrfach wiederholt. Es handelt sich um einen Fehler, es müsste „Arkona“ heißen. Ancona ist eine Stadt in Italien. Arkona hingegen ist der nördlichste Punkt der Insel Rügen, wo auf Kreideklippen einst ein heidnischer Tempel für die Gottheit Swantewit stand, um den es in dem Gedicht offensichtlich geht.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten (1945/2016)

Sehr authentischer und berührender Bericht von Verfolgung und Flucht

Die polnische Jüdin Françoise Frenkel hatte in Paris studiert und dann 1921 in Berlin eine französische Buchhandlung eröffnet. In ihrem 1945 erschienenen und kaum beachteten Buch „Nichts um sein Haupt zu betten“ berichtet sie über ihre Verfolgung und Flucht in der Zeit des Nationalsozialismus: Wie alles begann, mit den Pogromen in Berlin. Wie sie nach Frankreich floh. Wie nach dem Einmarsch der Deutschen auch dort die Verfolgung begann. Und wie sie mithilfe guter Menschen sich verstecken und schließlich fliehen konnte. Weniger guten Menschen begegnete sie ebenfalls in ausreichendem Maße.

Dieses jetzt von Patrick Modiano wiederentdeckte Buch überzeugt durch die authentischen Erlebnisse der Autorin mehr als viele literarische Verarbeitungen des Themas. Die Darstellung ist erstaunlich nüchtern und sachlich. Teilweise wird die Situation mit Sarkasmus und Galgenhumor getragen. Es ist die Persönlichkeit der Autorin, die überzeugt.

Eine wahre Entdeckung, eine Top-Empfehlung.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon in etwas anderer Fassung am 11. Juli 2018)

Knut Hamsun: Pan – Aus Leutnant Glahns Papieren (1894)

Hymne auf den faschistischen Charakter – ein schreckliches Buch

Die Erzählung „Pan“ von Knut Hamsun ist keine Liebesgeschichte, wie vielfach behauptet wird, sondern die Geschichte eines äußerst merkwürdigen jungen Mannes. Es geht um Leutnant Thomas Glahn, Ende 20, der im größten Teil des Buches im Norden Norwegens gezeigt wird: Bei einem offenbar monatelang ausgedehnten Aufenthalt auf einer Hütte am Waldrand, nahe einer kleinen Ansammlung von Häusern „in the middle of nowhere“.

Am Anfang finden wir Thomas Glahn in einsamer Harmonie mit der Natur. Doch fragt sich der Leser, wie denn ein junger Mann Ende 20 ein solches Leben führen kann?! Monatelanges Nichtstun! Diese Form des Lebens eignet sich für Kinder, die geistig noch nicht erwacht sind, oder für Rentner, die in ihrem Leben schon genug geleistet haben, um gelassen darauf zurückblicken zu können. Aber so lebt und denkt doch kein lediger junger Mann Ende 20! Ein solcher sollte tunlichst einen inneren Drang danach verspüren, etwas zu werden und zu bewegen und zu erreichen in der Welt. Man fühlt sich spontan an den „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset erinnert, der als eines der Symptome des Heraufdämmerns des Faschismus in Europa den „zufriedenen jungen Herrn“ nennt. Einen solchen sollte es nämlich eigentlich gar nicht geben, und wo es ihn doch gibt, da ist er ein Symptom für eine Krankheit der Gesellschaft.

Dann finden wir Glahn verliebt in Edvarda, die Tochter des örtlichen Kleinkrämers. Diese Liebesgeschichte nimmt sich jedoch sehr merkwürdig aus. Sie ist etwa 16, er kurz vor 30, also ungefähr doppelt so alt. Dieser Altersunterschied ist in jungen Jahren von einigem Gewicht. Im Grunde „vernarrt“ sich Glahn in die junge Frau, „Liebe“ ist das falsche Wort. Es entwickelt sich eine Art von Liebelei, aber er kommt nicht richtig aus sich heraus, und sie ignoriert ihn immer wieder systematisch, und man weiß nicht, warum. Das ganze macht schon einen sehr verklemmten Eindruck. Von beiden Seiten.

Nach dem ersten Drittel des Buches erfährt man, dass Edvarda in Wahrheit 20 Jahre alt sein soll. Sie sei ein ungezogener Charakter und liebt es angeblich, sich die Wirklichkeit irrational zurechtzubiegen, und ihre Umgebung zu manipulieren und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Doch gegen Ende des Buches erfährt man, dass Edvarda während des Sommers gewachsen war: Sie kann also nicht 20 gewesen sein, sondern wohl doch eher 16. Da der Erzähler in diesem Teil Glahn selbst ist, hat er uns wohl angelogen.

Glahn nimmt die Frauen wie im Flug für sich ein, und es sind jeweils die Frauen, die den ersten Schritt auf ihn zu machen. Neben Edvarda entwickelt sich auch eine Liebelei mit Eva, der Tochter des Schmieds, die sich als die Ehefrau des Schmieds entpuppen wird, und ganz am Rande auch noch eine Henriette, von der wir nicht viel erfahren. Es ist mit diesen Liebeleien ein ewiges Hin-und-her, auch Eifersucht spielt natürlich hinein, doch teilweise vergisst Glahn seine Freundinnen auch erstaunlich schnell wieder. Frauen tauchen in diesem Buch durchweg als dienstbare Geister ihrer Väter und Ehemänner auf; selbständiges Denken ist hingegen nicht gefragt, aber das ist bei diesem Buch auch kein Wunder, wie wir gleich sehen werden.

Eine weitere Merkwürdigkeit ist Glahns Unfähigkeit, sich in Gesellschaft geschickt zu benehmen. Doch dabei bleibt es nicht: Glahn begeht wiederholt völlig aus dem Ruder laufende Unvernünftigkeiten:

  • Glahn wirft unvermittelt den Schuh von Edvarda vor aller Augen ins Wasser, und im nächsten Moment weiß er selbst nicht mehr, was das sollte.
  • Glahn schießt sich buchstäblich selbst in den Fuß, mutwillig und sinnlos.
  • Glahn spuckt einem Baron vor aller Augen unvermittelt ins Ohr.
  • Glahn nimmt eine sinnlose Sprengung vor, durch die Eva zu Tode kommt.
  • Glahn erschießt seinen treuen Hund (So ein A…loch!), um ihn dann wie versprochen (allein das schon unsinnig) an seine inzwischen zu Eis erkaltete Liebe Edvarda zu verschenken.

Und in seiner Rückschau, als die die Erzählung angelegt ist, schreibt uns Glahn, dass er über alle diese Dinge schreibe, weil es ihm „Vergnügen“ (!) mache, als Zeitvertreib, weil er angeblich – schon wieder – nichts besseres zu tun habe.

Hier geht es nicht um sinnreiche Themen wie z.B. Schüchternheit und Ungeschick im gesellschaftlichen Umgang, die durch Ermunterung, Humor und eine geänderte Einstellung überwunden werden. Oder gar um das Thema des eigenwilligen, klugen Menschen, der mit der Gesellschaft naturgemäß im Clinch liegt, und sich einen Platz in der Gesellschaft als geduldeter Exzentriker, gefragter Querdenker oder bewunderter Erfolgsmensch erobern muss. Das alles ist es nicht.

Es ist vielmehr eine Art Krankheit, eine pathologische Charakterschwäche, eine psychische Gestörtheit. Glahn ist ein kindischer Tiermensch mit „Tierblick“, ein irrationales Wesen, dessen Willkür und Emotionalität nicht durch Rationalität und Pflichtbewusstsein gezähmt und gezügelt worden sind. Glahn ist irre und wild, letztlich barbarisch. Die glatte Gegenthese zu Humanität und Aufklärung. Im Schlussteil des Buches erfahren wir, dass Leutnant Thomas Glahn auch andernorts in dieser Art fortfährt, in irrer Willkür zu handeln, bis er schließlich einen Kameraden provoziert, ihn zu erschießen.

Der zentrale Satz des Buches lautet: „Ach, es war kein klarer Gedanke in meinem Kopf.“ (S. 120), und ein häufig verwendetes Adjektiv ist „berauscht“. Glahn „fühlt“ in der Natur auch Gott in allen Dingen. Dies ist kein philosophisches Weltbild, kein Pantheismus des Gedankens, sondern eher ein Schamanismus des religiösen Gefühls, eine abergläubische Ideologie.

Und hier sind wir am Kern der Sache:

Knut Hamsun feiert in „Pan“ das barbarische „Denken“, den „freien“ Geist als Gegenthese zu Humanismus und Rationalität. Der knorrige Pan ist der Tiermensch aus den Wäldern, der Inbegriff des von jeder Zivilisation „verschonten“ Barbaren schlechthin, dem rauschhaften Gotte Dionysos zugehörig. Dionysos ist traditionell der Gegenspieler zu Apollon, dem Gott der Vernunft und der Ordnung, des Wahren und des Schönen, dem die Musen zugehörig sind.

Offenbar wird Knut Hamsun mit Recht als ein faschistischer Autor eingeordnet. Hamsun begrüßte den Aufstieg von Hitler, dessen Weltanschauung und Charakter genau denselben Gesetzen gehorchte, die wir bei Thomas Glahn finden. Und wir finden dieses „Denken“ auch bei Richard Wagner, dem Vorbild Hitlers. Es stimmt alles überein, bis hin zum nekrophilen Charakter und der Selbsttötung. Wir sehen hier nicht den Triumph eines rationalen Willens, sondern den Triumph einer barbarischen Willkür, die letztlich ins Verderben führen muss, und eigentlich nur lächerlich ist. Offenbar nicht für Knut Hamsun.

Ein weiterer Fingerzeig auf Hamsuns Einstellung ist sein Vorsprechen bei Hitler, um die Greueltaten der Nationalsozialisten in Norwegen, deren Anwesenheit Hamsun grundsätzlich begrüßte, zu mildern. Was eine Heldentat hätte sein können, denn Hamsun war einer der ganz wenigen, die Hitler ins Angesicht widerstanden, war natürlich einfach nur der naive Schildbürgerstreich eines politischen Kleingeistes. Was dabei aber auffällt, ist die Wortwahl Hamsuns. Hamsun zu Hitler: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“

Die Methoden der Nazis als „Preußerei“ zu bezeichnen ist wahrlich der Gipfel. Wenn es denn nur „preußisch“ zugegangen wäre in Norwegen! Denn Preußen steht (auch) für Immanuel Kant, den Eckstein des Rationalismus, oder für Friedrich den Großen, der die Aufklärung in Deutschland populär machte, oder für Karl Friedrich Schinkel, der Berlin in ein „Spree-Athen“ verwandelte, oder für Wilhelm von Humboldt, der mit Gymnasium und Universität die Institutionen für die humanistische Bildung schuf und zudem den politischen Liberalismus begründete, oder für Alexander von Humboldt, der für Menschenrechte und Wissenschaft steht. Preußen steht für eine Rezeption der Antike im Hinblick auf Humanismus und Aufklärung, sowie für Selbstdisziplin und Rechtsstaatlichkeit. Selbst ein verunglückter Charakter wie Kaiser Wilhelm II. widerstand noch den Nationalsozialisten und ihren Umwerbungsversuchen in seinem Exil. Und noch Marcel Reich-Ranicki fand wiederholt lobende Worte für das „preußische Gymnasium“ mitten im Nationalsozialismus, während er negative Geschehnisse lieber mit dem Wort „deutsch“ charakterisierte. Wer Preußen in einen Topf mit den Nationalsozialisten und ihren Untaten wirft, hat intellektuell schon verloren. Der derbe Pöbelgeist des Faschismus und ein moderner, liberaler Konservativismus sind eben nicht dasselbe, sondern grundverschieden. Doch Knut Hamsuns Irrtum ist noch verrückter: Denn für ihn ist Preußen das Böse, und der Nationalsozialismus das Gute. Verkehrte Welt …

Literarisch gelungen sind an diesem Buch lediglich die Passagen, die Leutnant Glahn in seiner einsamen Verbundenheit mit der Natur zeigen. Die Harmonie, Zeitverlorenheit und die Geborgenheit, die Glahn inmitten der Natur erlebt, wird gut geschildert, und ist auch schön zu lesen. Ebenfalls noch literarisch gekonnt ist die Schilderung, wie diese Harmonie verloren geht, als Glahn Edvarda kennenlernt, noch bevor er sich bewusst wird, dass er sie liebt. Danach kommt nichts mehr. Die Erzählung ist als Gedankenschau Glahns angelegt. Teils erzählt er für sich selbst, teils gibt er unvermittelt Dialoge wieder. Das eine geht fließend ins andere über. Es ist oft schwerfällig zu lesen, hölzern und unlebendig. Hamsun benutzt außerdem Mythen, Märchen, Metaphern und dunkle Andeutungen. Rational fassbare Dinge kann man von diesem Autor wohl eher nicht erwarten.

Fazit

Ein schreckliches Buch! Wie dtv mit dem Spruch „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“ Werbung dafür machen kann, erschließt sich nicht.

Empfehlung einer besseren Alternative

Wer über Harmonie mit der Natur lesen möchte, wer ein strebendes Leben ohne Müßiggang erleben möchte, wer eine schöne, schwungvolle, geistig niveauvolle Liebesgeschichte vorgeführt bekommen möchte, und wer ein tragisches Ende sehen will, aber tragisch im Vollsinn des Wortes, d.h. unter bejahender Annahme des Schicksals, dem sei unbedingt „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin empfohlen! Das ist wirksames Gegengift.

Nicht zufällig schrieb einer der großen Hölderlin-Kenner, Pierre Bertaux, auch eine Rede zum 200. Todestag von Friedrich dem Großen für eine Feier auf Schloss Hohenzollern. Er charakterisierte diesen Preußenkönig als „Philosophen im französischen Sinn“, denn er habe „Vernunft als gesunden Menschenverstand kultiviert.“ – Der knorrige Pan jedoch, und diese verkrüppelte Geschichte des finsteren Herrn Hamsun, sie sollen uns gestohlen bleiben! Weg damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. Dezember 2018)

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Julia Voss: Darwins Jim Knopf (2009)

Michael Endes Jim Knopf als positive „Bannung“ und Umprogrammierung negativer Mythen und Bilder

Der deutsche Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende (1929-1995) begann seine Karriere 1960/62 mit dem zweibändigen Werk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13, das zu einem Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur wurde. Lange Zeit galt das Werk als ein gelungenes Erzeugnis der freien Phantasie des Autors. Doch 2009 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss eine Untersuchung, derzufolge Michael Ende mit den Motiven dieses Jugendbuches Motive des Nationalsozialismus aufgriff, um sie durch eine alternative Bilderwelt zu überschreiben und umzuprogrammieren, mithin also positiv zu „bannen“.

Der schwarze Junge und Held des Buches Jim Knopf entspricht dem realen Jemmy Button, dem Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle begegnete: Damit ist das Thema des Darwinismus gesetzt. Die Drachenwelt Kummerland, zu der keine Halbdrachen Zugang haben, entspricht der Welt des Nationalsozialismus, die auf Reinrassigkeit wert legte. Der autoritäre Lehrerdrache Frau Malzahn verwandelt sich später in einen Drachen der Weisheit und des Glücks. Und schließlich führt die Reise von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer in eine versunkene Stadt, die am Ende der Geschichte aus den Tiefen des Meeres wieder auftaucht. Dabei entpuppt sich die kleine Insel Lummerland, die Heimat von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, als die höchste Bergesspitze eines versunkenen Kontinentes. Aus allen Himmelsrichtungen ziehen die Völker herbei, um in trauter Eintracht in dem neuen Land zu leben. Der Name „Atlantis“ wird bei Michael Ende zwar nicht explizit genannt, doch ist das Motiv unverkennbar. Ähnlich wie in Thomas Manns Joseph und seine Brüder ist Atlantis bei Michael Ende nicht der Ursprungsort einer „reinen“ Rasse, sondern im Gegenteil ein Ort, an dem verschiedene Kulturen zusammenleben. Ähnlich wie bei Thomas Mann ist bei Michael Ende nicht etwa die Vernichtung des Bösen, sondern die Erneuerung und Verwandlung des Bösen zum Guten das Ziel: Der Drache Mahlzahn verwandelt sich in einen Drachen der Weisheit und des Glücks, und das versunkene Atlantis taucht wieder auf.

Woher Michael Ende die Idee hatte, dass es eine Verbindung zwischen Atlantis und Nationalsozialismus gab, ist unbekannt. Die Schulszene mit dem Lehrerdrachen Frau Mahlzahn lässt vermuten, dass Michael Ende seine persönlichen negativen Eindrücke über den Nationalsozialismus hauptsächlich in der Schule gewonnen hatte. Einzelne Lehrer können ihre Schüler mit dem Thema Atlantis traktiert haben, obwohl dies nicht der offiziellen Parteilinie entsprach. Eine wichtige Rolle der Schule vermutet auch Julia Voss, allerdings verengt auf den Biologieunterricht. Vielleicht würde man fündig, wenn man statt des Biologie- den Geschichts- oder Geographieunterricht in den Blick nehmen und statt nach offiziellen Lehrplänen nach den konkreten Lehrern des Schülers Michael Ende fragen würde?

Fehler

Leider sind Julia Voss einige typische Irrtümer unterlaufen, die im Zusammenhang mit dem Thema Atlantis und Nationalsozialismus im Umlauf sind, die wir an dieser Stelle kurz aufklären wollen. So schreibt sie z.B.: „Atlantis, der alte Mythos, den die Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kinderbüchern zu einer biologischen Rassenparabel umkodiert hatten. … … … Mit dem Nationalsozialismus war die Wahnvorstellung massentauglich geworden. … … … … fand … der Atlantis-Mythos seinen größten Umschlagplatz in der Kinder- und Jugendbuchliteratur.“

Natürlich spielte Atlantis im Nationalsozialismus keine Rolle, erst recht keine öffentliche Rolle, und Julia Voss kann natürlich keine „unzähligen Kinderbücher“ vorweisen, in denen das Atlantisthema im Nationalsozialismus verarbeitet worden wäre. Das einzige Beispiel, das Julia Voss vorweist, ist die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis. Das ist aber erstens kein Kinderbuch, und zweitens ist diese Serie keine Erfindung der Nationalsozialisten. Ganz im Gegenteil: Unter Einfluss der Nationalsozialisten musste eine der beiden Hauptfiguren der Serie – ein Schwarzer – erst künstlich aus der Serie entfernt werden, wie Julia Voss selbst beschreibt. Schließlich ist Sun Koh eine Phantasiegeschichte, die keinen Wahrheitsanspruch erhebt. Wegen Sun Koh hat im Nationalsozialismus gewiss niemand an Atlantis geglaubt, geschweige denn vermutet, dass Atlantis etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben könnte. Im Gegenteil hat Sun Koh dazu beigetragen, dass Atlantis als ein literarischer Topos für phantasievolle Groschenromane und nicht als ein realer Ort wahrgenommen wurde.

Dass die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis nicht als Ausdruck eines engen Verhältnisses von Nationalsozialismus und Atlantis gesehen werden kann, wird auch daran deutlich, dass es seit 1941 eine US-Comicserie gab, die eine ganz ähnliche Thematik hatte und ein ganz ähnliches look and feel aufwies: Aquaman. Aquaman ist ein moderner Mensch, der sich unter Wasser bewegen kann und dessen Mutter von Atlantis stammt. Die bevorzugten Gegner von Aquaman während des Zweiten Weltkrieges waren nationalsozialistische U-Boote: Hier waren Atlantis und Nationalsozialismus also Gegensätze. Aquaman ist bis heute eine feste Größe in der US-amerikanischen Popkultur. Im Jahr 2018 erschien der Kinofilm Aquaman, der Kinostart in Deutschland war am 20. Dezember 2018.

Auch bei den möglichen Ursachen der angeblichen Atlantisbegeisterung der Nationalsozialisten folgt Julia Voss den klassischen Irrtümern: Theosophen und Ariosophen werden als Quellen dieser Idee genannt. Doch Julia Voss weiß weder etwas von Gleizès und Richard Wagner, noch vom Artamanenbund.

Diese populären Irrtümer schmälern natürlich in keiner Weise die großartige Entdeckung von Julia Voss, dass Michael Endes Jim Knopf der Versuch einer systematischen Umprogrammierung vermeintlicher oder echter Motive des Nationalsozialismus war.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung als Unterkapitel in Thorwald C. Franke: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis, 2016)

PS 28.02.2024

Am 22. Februar 2024 ging die Schreckensmeldung durch die Presse: Nun ist auch Michael Endes Jim Knopf im Sinne des Wokismus sprachlich und bildlich „bereinigt“ worden. Das Wort „Neger“ wird vermieden und als angeblich rassistisches „N-Wort“ geschmäht, und auch das schöne Wort „Mandelaugen“ fiel dem Rassismusvorwurf zum Opfer. Die bekannten Grafiken wurden retuschiert, z.B. um die „schwarzen“ Eigenschaften von Jim Knopf weicher zu zeichnen.

Der Vorgang ist an sich schon grotesk, aber im Falle von Michael Endes Jim Knopf zeigt sich die ganze Lächerlichkeit des Wokismus mit besonderer Deutlichkeit: Denn eine zentrale Technik in den Werken Michael Endes ist die positive „Bannung“ von Vorurteilen und Stereotypen, indem diese positiv gewendet und „umprogrammiert“ werden, wie oben beschrieben. Der Effekt dieser positiven Bannung geht nun jedoch teilweise verloren, denn umprogrammieren kann man nur das, was man auch offen und unverblümt darstellt!

Durchgeführt wurde die Säuberungsaktion vom Verlag Thienemann, in Abstimmung mit den Erben Michael Endes. Der ganze Vorgang ist an Dummheit und Unverschämtheit kaum zu überbieten. Es handelt sich um nichts anderes als um einen Anschlag auf einen sehr wertvollen Teil unserer deutschen Kultur. Denn wo sonst finden wir einen so konstruktiven und aufbauenden Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom (1954) – Teil 3 der Trilogie des Scheiterns

Erdenschwere Auseinandersetzung um Täter, Schuld, Söhne, Bewältigung

Der dritte Roman „Der Tod in Rom“ aus der „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen befasst sich mit weiteren Gruppen von Deutschen: Den Tätern, den willigen Mitläufern, deren Söhnen und deren Bewältigungsstrategien, aber auch mit Opfern. Im ersten Roman ging es noch um die kleinen Leute, im zweiten Roman um die Politiker und Journalisten des Wiederaufbaus.

Im Zentrum des Romans steht die Familie Pfaffrath-Judejahn, deren Teile sich durch Zufall alle in Rom aufhalten und dort treffen. Wieder laufen verschiedene Handlungsfäden nebeneinander her, bis sie sich immer mehr berühren und verstricken.

Judejahn, der alte NS-General, arbeitet inzwischen für ein arabisches Regime, für das er als Waffenhändler mit Diplomatenpass, Limousine und Chauffeur in Rom ist. Im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wurde er in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Judejahn ist der uneinsichtige Nazi, ignorant, befehlsgewohnt, aber auch alt geworden und leidet daran, dass er nicht mehr befehlen kann. Psychologisch wird immer wieder auf den infantilen kleinen Gottlieb angespielt, der in dem General steckt. Literarisch werden ihm die Symbole von Tod und Teufel zugeordnet.

Friedrich Wilhelm Pfaffrath war vor dem Krieg Oberpräsident, als der er dem Dirigenten Kürenberg die Scheidung von seiner jüdischen Frau aus der Kaufhausfamilie Aufhäuser nahegelegt hatte. Kürenberg lehnte ab und emigrierte. Heute ist Pfaffrath demokratisch gewählter Bürgermeister. Er sieht die Verbrechen der Nazis als „Fehler“, meint aber, man könne danach weitermachen wie bisher, wiederaufbauen, evtl. sogar einen weiteren Krieg zum Ausgleich führen.

Seine Frau ist die Schwester von Eva, der Ehefrau Judejahns. Eva ist NS-gläubig und versteht die Welt nicht mehr. Sie wollen sich mit Judejahn treffen, zum ersten Mal nach dem Krieg, und über eine mögliche Rückkehr Judejahns beraten, dem Pfaffrath einen Beamtenposten verschaffen möchte.

Dietrich Pfaffrath ist Sohn von Friedrich Wilhelm Pfaffrath, und ein Karrierist. Er bemisst alles und alle nur danach, ob es ihm auf dem Karriereweg nützen kann. Friedrich Wilhelm und Dietrich Pfaffrath sind eigentlich die zwei Charaktere, die den Leser am meisten verzweifeln lassen, denn sie sind zwar definitiv keine Nazis, aber eben doch willige Mitläufer, Karrieristen, deren Ideologie das Mitmachen und das Erfolghaben ist. Die Plage aller Zeiten.

Siegfried Pfaffrath ist Sohn von Friedrich Wilhelm Pfaffrat und hat sich komplett von der Familie losgesagt. Als Kind hat er mitbekommen, wie sein Vater Kürenberg die Scheidung von Ilse Aufhäuser nahelegte, wie das Kaufhaus Aufhäuser brannte, und später stöberte er in der geplünderten Bibliothek der Aufhäusers. Siegfried war auf einer NS-Ordensschule, ist Komponist geworden, und zu einem Musikkongress in Rom, auf dem Kürenberg seine Symphonie aufführen wird, ein Stück voller Verzweiflung und Zerstückung des Geistes. Siegfried Pfaffrath ist zum Päderasten geworden. Ein Menschenleben in dieser Welt zu zeugen ist ihm ein Greuel.

Adolf Judejahn ist der Sohn von Judejahn, der Priester wurde. Er war zusammen mit Siegfried auf einer NS-Ordensschule, und liefert sich im Laufe des Romans zwei hochinteressante Gespräche um die Verstrickung und um das Entkommen daraus, welches Handeln Sinn hat, und wie es weitergehen soll. Beide sind ratlos und wissen um die Brüchigkeit der rationalen Legitimation ihres Weges. Sie fragen sich, ob sie es sich nicht zu einfach machen usw.

Die Klimax des Romans ist mehrfach: Alles trifft sich im Konzert zur Aufführung der Symphonie von Siegfried. Danach trifft sich alles in den Künstlerräumen hinter der Bühne. Dann trifft sich alles in einer Schwulenbar. Zum Schluss erschießt Judejahn Ilse Kürenberg, und stirbt an einem Schlag.

Kritik

Wolfgang Koeppen malt auch hier zu schwarz. Für ihn ist die ganze Geschichte eine Orgie von Macht und Sinnlosigkeit. Ganz so verdorben ist die Menschheit dann doch nicht. Außerdem gerät Koeppen durch diese Sicht in Gefahr, das Besondere der NS-Verbrechen zu relativieren. Würde Koeppen seine Verzweiflung über die Menschheit konsequent zu Ende denken, würde er beim Pfaffrathschen Denken herauskommen: Fehler sind geschehen, aber nichts besonderes, und jetzt muss wieder aufgebaut werden – das ist eben zu einfach gedacht.

Koeppen beobachtet vieles richtig, repräsentiert aber dennoch eine extreme Überreaktion auf den Nationalsozialismus. Dies wird auch deutlich an seiner für ihn selbst fragwürdigen Vision einer Nation ohne jedes nationale Pathos. Lösungen bietet dieses Buch gar keine. Nur Zweifel und Verzweiflung.

Für einen Menschen wie Koeppen, der in einem Interview mit Marcel Reich-Rarnicki angab, doch lieber an Gott zu glauben, und sich auch sonst versöhnlicher zeigte, ist das eigentlich erstaunlich. Vielleicht ist es mit seinen Büchern wie mit seinem Interview: Erst auf Nachfrage relativiert und präzisiert Koeppen eine anfänglich allzu harte, allzu einseitige Aussage. Ein Buch lässt sich leider nicht befragen.

An einer Stelle blitzt kurz doch so etwas wie die Idee eines anderen, besseren Weges auf. Dort nämlich, wo ausgerechnet Friedrich Wilhelm Pfaffrath an eine Zeit vor dem Nationalsozialismus zurückdenkt, an seine Jugend, wo er einen besseren Weg ging, den er aber verließ (S. 562, als Judejahn aus der Schwulenbar wieder herauskommt).

Zusammenfassung

Wolfgang Koeppen thematisiert die Uneinsichtigkeit der Täter und ihr Davonkommen ohne Urteil, und wie sie nach dem Krieg in Luxus leben. Dann die Fortsetzung ihrer Schlechtigkeit in der nächsten Generation. Die hilflosen Versuche der Nachgeborenen, sich von ihren Täterfamilien zu lösen, und ihre Zweifel, ob es gelingt und welchen Sinn ihr Dasein hat.

Noch mehr als sonst in der „Trilogie des Scheiterns“ malt Koeppen schwarz, was nur als extreme Überreaktion auf den Nationalsozialismus gedeutet werden kann. Man nimmt es dem guten Koeppen nicht ganz ab.

Literarisch ist das Buch wieder besser gelungen als der zweite Roman, es gibt wieder mehr gelungene überraschende Effekte und Übergänge von einer Szene zur nächsten, aber es reicht nicht an den ersten Roman heran.

Nebenbei

Der Roman klappert alle bekannten touristischen Orte Roms ab, und verknüpft so die Fragen von Schuld und Bewältigung mit einem Sehnsuchtsort der Deutschen. Der Name „Judejahn“ ist wohl eine Anspielung auf den General Guderian, dessen Namen berlinerisch ausgesprochen „Judejahn“ nahe kommt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Oktober 2018)

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben (1999)

Ein sehr lehrreiches Buch und allein schon deshalb ein gutes Buch!

Dieses Buch ist für den aufmerksamen Leser in vielerlei Hinsicht lehrreich: Man erfährt etwas über deutsche Geschichte, über den linksliberalen Zeitgeist der BRD, und nicht zuletzt erhält man auch zahlreiche Anregungen für die eigene Lektüre.

Was die deutsche Geschichte anbetrifft, fallen zwei Dinge auf: MRR lobt immer wieder das „preußische Gymnasium“ und dessen humanistischen Geist. Negative Assoziationen werden hingegen mit dem Wort „deutsch“ verknüpft. Das ist schon bemerkenswert. – Was den Holocaust anbetrifft, so liest man hier (wie oft auch anderswo), dass sich quasi bis zu allerletzt niemand vorstellen konnte, auch unter Juden nicht, dass Hitler die Juden nicht nur schikanieren und vertreiben, sondern einfach massenhaft töten würde. Das wird von MRR mehrfach betont.

Was den linksliberalen Zeitgeist anbelangt, so war MRR natürlich ein Teil davon. Aus den Ausführungen von MRR kann man Dinge entnehmen, die die negativen Seiten dieser Szene betreffen, also die Charakterschwächen, die Seilschaften und die Machtspiele um die Meinungshoheit. Man erkennt, dass die Generation von MRR durch den Nationalsozialismus so verschreckt war, dass sie in ihrem Trauma offenbar zu pauschal alles abwehrte, was nicht links war. Es war also keinesfalls böse Absicht, sondern ein verständliches Trauma, das sie leitete und ihre Sensibilität störte.

Natürlich war es gut, dass es MRR gab. Ganz so simpel linksliberal wie manch anderer war er nämlich auch gar nicht. Für MRR stand es außer Frage, dass es eine erhaltenswerte deutsche Kultur gibt. Schließlich hatte er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Werbung für die deutsche Literatur zu machen, wie er selbst sagt. Das eigentliche Problem war eher, dass es keinen liberalkonservativen Gegenspieler zu MRR gab, sondern nur MRR allein auf weiter Flur. Dann hätte die Balance gestimmt, und MRR wäre erst dann richtig zu Höchstleistungen herausgefordert gewesen. Für dieses Fehlen eines Gegenspielers kann man aber nicht MRR verantwortlich machen. MRR hat seinen Part gut gespielt, und er hat viel Gutes bewirkt.

Was schließlich die zahllosen Lektüre-Anregungen in diesem Buch anbetrifft: Hier findet wirklich jeder was. Nur zu! Übrigens gibt es bei Wikipedia eine Liste aller Sendungen des literarischen Quartetts, mit allen Teilnehmern und den dort besprochenen Büchern, und alle diese Sendungen findet man bei youtube: Auf geht’s!

Fazit: Ein Top-Buch. Kaufen. Lesen. In Kultur und Intellektualität eintauchen. Aber nicht nur mit MRR, bitte *schmunzel*

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2018)

Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig: Nie zweimal in denselben Fluss (2018)

Versuch einer sachlichen Rezension – Kein gutes Urteil

Über Björn Höcke wird viel Unsinn geschrieben. Meistens erklärt man ihn mit haltlosen Gründen zum Rechtsradikalen. So meinten anfangs manche, Höcke wäre deshalb als Rechtsradikaler erkennbar, weil er davon sprach, dass Deutschland schon 1000 Jahre alt sei und noch 1000 Jahre Bestand haben möge. Sie sahen darin eine Anspielung an das „tausendjährige Reich“. Das ist so natürlich Unsinn, denn Deutschland ist tatsächlich 1000 Jahre alt, und wenn das alles wäre, was seine Gegner gegen ihn ins Feld führen könnten, dann wäre Höcke natürlich kein Rechtsradikaler. So dachte damals auch der Autor dieser Rezension, der sich in diesem Urteil auch dadurch bestärkt sah, dass der vermeintliche Konservative Alexander Gauland Björn Höcke „meinen Freund“ nannte.

Inzwischen ist wesentlich mehr von Björn Höcke bekannt, und auch Alexander Gauland wurde als ein pseudo-konservativer Preußenfeind erkannt (siehe die Rezension zu dessen Konservativ-Buch). Es bleibt die Aufgabe, eine Rezension zu Björn Höcke zu schreiben, die versucht, ohne Zorn und Eifer herauszuarbeiten, dass es tatsächlich Probleme mit Björn Höcke gibt, und welche es sind – dennoch ist natürlich auch diese Rezension letztlich ein persönlicher Kommentar. Der Leser wird wie bei jeder Rezension sehen müssen, wo er mitgehen kann und was er davon mitnimmt.

Wo Höcke Recht hat und Sympathien sammelt

Das vorliegende Buch ist ein Marathon-Interview mit Björn Höcke, das sich entlang seiner Lebensgeschichte von Thema zu Thema hangelt, von der Kindheit und Jugend über die Zeit als Lehrer bis zum Engagement als Politiker, um schließlich mit der Frage nach Höckes Zukunftsvisionen für Deutschland und Europa zu enden.

Wie jede Biographie hat auch die Lebensgeschichte von Björn Höcke jenseits der Politik manchen sympathischen und menschlichen Zug zu bieten. Darauf werden wir hier nicht weiter eingehen, aber um das Bewusstsein nicht zu verlieren, dass hinter dem Politiker auch ein Mensch steht, lohnt sich die Lektüre. Darüber hinaus streut Höcke natürlich viel berechtigte Kritik an den etablierten Parteien und deren Politik ein. Darum soll es in dieser Rezension aber gerade nicht gehen, denn dass die etablierten Parteien der AfD viele wichtige und richtige Themen überlassen und sie auf diese Weise stark gemacht haben, ist jedem Beobachter sowieso klar. Die eigentliche Frage, um die es nur gehen kann, ist, ob Björn Höcke und seiner AfD zu trauen ist: Sind sie demokratisch oder sind sie rechtsradikal?

Höcke zeigt sich belesen und intellektuell und jongliert mit zahlreichen Namen namhafter Denker aller Couleur. Darunter sind z.B. Karl Popper (S. 57), Dietrich Bonhoeffer (S. 60, 77, 291), Theodor Fontane (S. 63), Carl Gustav Jung (S. 63), Jakob Böhme (S. 72), Schopenhauer (S. 73), Ludwig Klages (S. 77), Martin Heidegger (S. 77), Martin Luther (S. 212), Caspar David Friedrich (S. 80), Martin Buber (S. 83 ff.), Thomas Hobbes (S. 119), Georg Christoph Lichtenberg (S. 123), Ortega y Gasset (S. 148), Josef Isensee (S. 152), Macchiavelli (S. 226), Friedrich Naumann (S. 281) sowie Goethe, Schiller, Herder, Fichte, Schelling und Hegel (S. 75). Neben Klassikern ist auch vielfach von der Antike die Rede, so z.B. von Vergil (S. 62) oder von der antiken Idee, dass sich die Verfassung eines Staates in Zyklen entwickelt (S. 225). Das Wandern wird als die deutsche Form der antiken griechischen Peripatetiker bezeichnet (S. 80), und schließlich wird die Bildung als solche „klassisch“ genannt, und dass man sich für alle Sichtweisen offenhalten sollte (S. 148).

Viele Themen werden sehr „weich“ gehandhabt. Patriotismus wird z.B. als eine psychologisch notwendige Selbstbefreundung, die zudem unspektakulär sein sollte, vorgestellt (S. 121). An solchen Thesen ist nichts auszusetzen.

Erster Widerspruch: Dialog oder Durchregieren?

Generell versprüht Björn Höcke in diesem Buch viel jugendliche Lebensfreude, Optimismus und Gestaltungskraft, und immer wieder betont er – ganz wohlwollender Lehrer und Pädagoge – dass er sich mit seinen politischen Gegnern offen aussprechen möchte, um zu gemeinsamen Lösungen und zu einem Ausgleich zu kommen (z.B. S. 85, 249). Hier beeindrucken vor allem auch seine Ausführungen zum dialogischen Wesen des Menschen nach Martin Buber (S. 83 ff.). Höcke will angeblich Reformen, keine Revolution (S. 213) und gestaltet lieber, als immer nur dagegen zu sein (S. 287). Ein einzelner Führer könne die nötige Umgestaltung nicht bewerkstelligen, sondern dazu bedürfe es der Pluralität und der Abstimmung mit dem Volk (S. 286). Parteien seien ihrem Namen nach – pars – immer nur Teil, nie das Ganze (S. 149). Der nötige Neubau der Gesellschaft könne nicht von oben angeordnet werden, sondern müsse in Aussprache ermittelt werden (S. 265).

Doch hier stoßen wir zum ersten Mal auf einen unaufgelösten Widerspruch in Höckes Ausführungen. Denn während er immer wieder seinen Willen zum Dialog betont, betont Höcke gleichzeitig auch immer wieder seine Kompromisslosigkeit. Höcke träumt von einem „konsequenten Durchregieren“ (S. 234) und legt sich fest: „Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben“ (S. 221). Wenn es nicht friedlich gehen wird, dann „wird ein neuer Karl Martell vonnöten sein, um Europa zu retten.“ (S. 252). Mit denen, die aus seiner Sicht das gemeinsame Haus komplett abreißen wollen, will er nicht diskutieren (S. 95). Für Höcke gehören eine „gewisse Unbedingtheit, Kühnheit und Wirklichkeitsverachtung“ dazu (S. 61). Eine Zusammenarbeit gibt es nur bei einer grundlegenden Richtungsänderung im Sinne Höckes (S. 224). Höcke kokettiert auch mit der Eigenschaft der Deutschen, Dinge ohne Rücksicht auf Verluste radikal bis zum Ende durchzuziehen (S. 258, vgl. auch S. 215), statt diesen Charakterzug zu kritisieren. Politik versteht Höcke nach dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt (S. 274). Nach dem gelungenen Machtwechsel will Höcke aber „Gnade“ walten lassen (S. 223): Das impliziert natürlich eine Art von Unterwerfung, denn Gnade übt man nur bei Besiegten, nicht unter gleichrangigen Partnern.

Der Widerspruch zwischen einem Regieren durch Dialog oder einem Durchregieren zieht sich durch das ganze Buch hindurch und bleibt bis zuletzt unaufgelöst bestehen.

Ebenfalls bedenklich ist die Aussage gegen eine „falsche konservative Loyalität zu Institutionen, die die Zukunft unseres Volkes gefährden“ (S. 239) als Antwort auf Bedenken, dass die AfD extremistisch sei. Hier hätte an erster Stelle ein Bekenntnis zur Erhaltung der Demokratie und ihrer grundlegenden Institutionen stehen müssen. Es mag zwar auch institutionellen Reformbedarf im Detail und in Randbereichen unserer Demokratie geben, z.B. Amtszeitbegrenzungen oder die Medienordnung, aber wo die Frage nach dem Extremismus gestellt wird, muss ein Bekenntnis zur Demokratie und ihren Kerninstitutionen an erster Stelle stehen. Und das ist hier nicht der Fall.

Moralisch bedenkliche Aussagen

Auch mit der Moral hat Björn Höcke offenbar gewisse Schwierigkeiten, wie vor allem einige Passagen auf den Seiten 254 und 255 zeigen. Dort wird eine „wohltemperierte Grausamkeit“ angekündigt, die „so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig“ ist. Die Regierenden, die solche Anordnungen treffen, würden laut Höcke „schwere moralische Spannungen“ auszuhalten haben, weil sie „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“.

Hier stellt sich zunächst die Frage, wovon Höcke eigentlich konkret spricht? Denn die gesetzlich vorgeschriebene Ausweisung von Illegalen im Wege normaler polizeilicher Maßnahmen, um ein konkretes Beispiel zu nennen, mag vielleicht manchmal „hart“ sein, doch „grausam“ ist sie keinesfalls, und „Grausamkeit“ ist dazu auch gar nicht nötig. Auch „schwere moralische Spannungen“ entstehen durch solche Maßnahmen nicht. Höcke muss etwas anderes meinen, sagt aber nicht, was.

Höcke sieht offenbar einen Widerspruch zwischen Konsequenz und Humanität, sonst würde er nicht von moralischen Spannungen sprechen. Er hat also keine Vorstellung von Humanität und Moral, die auch dann noch trägt, wenn es hart auf hart kommt und Entscheidungen im Sinne eines kleineren Übels getroffen werden müssen. Denn auch die Entscheidung für ein kleineres Übel ist immer noch eine moralische Entscheidung, die moralische Grenzen kennt. Statt dessen sind für Höcke „Grausamkeiten“ gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ denkbar. Der Terminus „Grausamkeit“ für sich allein genommen wäre vielleicht noch kein Problem, weil man auch umgangssprachlich von „Grausamkeiten“ spricht. Aber indem diese „Grausamkeiten“ als Gegensatz zu „humanem“ Vorgehen verstanden werden, sowie in Kombination mit der Aussage, dass gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ gehandelt werden soll, kann man sich nur noch schlecht mit einer bloß sprichwörtlichen Bedeutung im übertragenen Sinn herausreden. Zumal der vorliegende Text kein spontanes Presseinterview ist, sondern ein gedrucktes Buch. Wenn das eine unglückliche Formulierung war, dann war sie sehr, sehr unglücklich.

Wie würden es Konservative sagen? Vergleichen wir anhand des konkreten Beispiels der Abschiebung Illegaler. Für Konservative bleiben Humanität und Moral immer Grundlage der Abwägung, doch Höcke sieht hier einen Gegensatz zur Humanität. Das hört sich an, wie wenn es hier zu Entgleisungen und Grenzüberschreitungen kommen würde. Und genau diese werden von Höcke ja auch explizit angedeutet, nämlich durch „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“. Ein Konservativer würde so etwas niemals sagen. Ein Konservativer würde von „Härte“ und „Konsequenz“ sprechen, die „moralisch geboten“ ist (und deshalb immer noch moralische Grenzen kennt), und keinesfalls von „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“ (so dass also keine moralischen Grenzen mehr da sind, denn die sind ja dann schon überschritten).

Höcke bestätigt diese Deutung durch eine weitere Argumentation: Denn Höcke will die Schuld für die „Grausamkeiten“, die dem moralischen Empfinden zuwiderlaufen, einfach auf andere abwälzen, nämlich auf die verfehlte Politik der Etablierten, die solche Maßnahmen notwendig werden ließen (S. 255). Doch auch das ist sichtlich nicht moralisch gedacht. Denn es ist zwar wahr, dass die verfehlte Politik die Verantwortung für die Zuspitzung der Lage trägt, und es ist wahr, dass eine zugespitzte Lage harte Maßnahmen erfordert. Doch auch in einer zugespitzten Lage bleibt die Moral in Geltung und die handelnden Personen dürfen zwar im Rahmen eines moralischen Kalküls durchaus vieles aber nicht alles tun, um die Lage zu bewältigen. „Grausamkeiten“ gegen das moralische Empfinden sind keine Option.

Zwei historische Beispiele: In der AfD wurde einmal debattiert, ob man zur Schließung von Grenzen von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfe. Weniger gebildete AfDler meinten, das sei so, auch weil man eine Grenze sonst nicht schließen könnte. Der politmediale Mainstream bestärkte diese weniger gebildeten AfDler in dieser Auffassung nach Kräften und diese fielen darauf herein. Die Pointe ist, dass der Gebrauch der Schusswaffe gar nicht nötig ist, um eine Grenze effektiv zu schließen, sofern man es nicht mit bewaffneten Banden zu tun hat! Ob Spanien, Ungarn, Mazedonien oder Griechenland: Alle sind perfekt dazu in der Lage, ihre Grenzen zu schließen, ohne dafür einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. – Ein anderes historisches Beispiel ist der Völkermord an den Armeniern durch die Türkei im Ersten Weltkrieg. Zwar ist es richtig, dass die Armenier teilweise eine Art „inneren Feind“ innerhalb der Landesgrenzen der damaligen Türkei darstellten. Doch war ein Völkermord natürlich eine weit über jedes legitime Ziel hinausschießende Maßnahme zur Lösung des Problems.

Es gibt immer moralische Grenzen, auch in zugespitzten Situationen, und wer allen Ernstes sagt, dass er gegen das moralische Empfinden handeln will, muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Merken wir am Rande noch kritisch an, dass Moral hier wie ein Gefühl behandelt wird. Moral ist aber mehr als nur ein Gefühl, sondern vor allem auch harte Rationalität, die man nicht einfach beiseite schieben kann. Moral ist nur für Romantiker ein Gefühl.

Politische Philosophie: Edgar Jung

Wir sahen, dass Höcke z.B. Karl Popper, Martin Buber oder die Klassiker Goethe und Schiller anführte. Doch auf die Frage, welche Denker des 20. Jahrhunderts ihn geprägt haben, nennt er diese vier Namen: Ludwig Klages, Edgar Jung, Dietrich Bonhoeffer, Martin Heidegger (S. 77). Dietrich Bonhoeffer und Ludwig Klages scheinen unproblematisch. Zu Martin Heidegger sagt Höcke nur wenig (S. 59, 77-79). Man könnte kritisieren, dass Höcke das rechtsradikale Gedankengut von Heidegger ungerechtfertigt kleinredet (S. 78). Aber dem Fass den Boden schlägt der Name Edgar Jung aus. Denn Edgar Julius Jung (1894-1934) war eindeutig ein Rechtsradikaler!

Laut Wikipedia gehörte Edgar Jung der Bewegung der „Konservativen Revolution“ an, die bekanntlich mehr revolutionär als konservativ war. Jung wirkte bei der Ermordung des Präsidenten der Autonomen Pfalz Franz Josef Heinz mit. Er traf Adolf Hitler persönlich und verhandelte über seinen Beitrtt zur NSDAP, wozu es wegen Differenzen nicht kam. Den Rassegedanken der Nationalsozialisten lehnte Edgar Jung ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Edgar Jung strebte die Verhängung des Ausnahmezustandes unter Einbeziehung von Hitler und Göring an, die er für weniger radikal hielt als andere NS-Größen. Edgar Jung war gegen die Demokratie, weil sie alle Stimmen gleich zählt, polemisierte gegen Juden, weil diese in seinen Augen für Aufklärung und Individualismus standen, war gegen eine bürgerliche Elite, weil er das Leistungsprinzip ablehnte, und wollte eine neue Aristokratie errichten. 1934 wurde Edgar Jung im Zuge des Röhm-Putsches von den Nationalsozialisten ermordet.

Doch der Sachverhalt bleibt in diesem Buch völlig undiskutiert! Der Name Edgar Jung wird lapidar genannt, sonst nichts. An einer anderen Stelle wird noch eine ungefährliche Binsenweisheit von Edgar Jung zitiert (S. 28). Das war’s.

So geht es nicht. Das ist hochgradig unglaubwürdig. Wenn Höcke ehrlich mit seinen Lesern hätte sein wollen, hätte er den Rechtsradikalismus von Edgar Jung zum Thema machen und sich dazu erklären müssen.

Politische Philosophie: Nietzsche und Schopenhauer

Ebenfalls zentral für Höckes Denken ist ausgerechnet Friedrich Nietzsche. Höcke berichtet, wie er im Alter von 17 Jahren Nietzsche entdecke: „Mich beeindruckte, wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 56 f.) Höcke bekennt, dass er Nietzsche lesen wird, solange er lebt (S. 73).

Doch Nietzsche ist ein gefährlicher Denker. Er reißt alles nieder, was die westliche Welt ausmacht. Auch die Vernunft. Und an die Stelle Gottes tritt der Übermensch. Auch als Atheist sollte man da Fragen haben. Nicht zuletzt lässt sich auch der aktuelle Wokismus über die französische Postmoderne bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Auf kritische Nachfragen des Interviewers meint Höcke, dass er eben nicht nur konservativ sei (S. 58) und dass er kein „Nietzsche-Jünger“ sei, sondern lediglich gewisse geistige Impulse von Nietzsche empfangen habe (S. 74). Die Frage nach der Irrationalität Nietzsches wiegelt Höcke genauso wie beim Thema Romantik ab: Seiner Meinung nach sei Nietzsche gar nicht so irrational (S. 75).

Durch Nietzsche sei Höcke dann auf Schopenhauer gestoßen, und auch hier ging es Höcke vor allem um Widerstand gegen Autoritäten und Kritik am Establishment (S. 76). Von Schopenhauer habe Höcke auch die Mitleidsethik übernommen, sagt er. Wie der Optimismus, der ihn bei Nietzsche faszinierte, mit dem Pessimismus von Schopenhauer zusammenpasst, sagt Höcke nicht.

Politische Philosophie: Romantik

Ein weiterer weltanschaulicher Schwerpunkt Höckes ist die Romantik. Für Höcke ist sie die „fruchtbarste geistig-literarische Epoche unserer Kulturgeschichte“ (S. 156), womit er die Klassik von Goethe und Schiller auf die Plätze verweist. Höcke wendet sich gegen die Generalkritik an der Romantik, dass sie irrational sei. Für Höcke ist Romantik eine Form der Weltzugewandtheit (S. 25).

Romantik gründe auf der platonischen Erkenntnis, dass es eine Wirklichkeit hinter den Dingen gibt (S. 158). Doch Platon war einer der Begründer des Rationalismus, der die Sphäre des Mythischen, des Unbekannten, durch die Vernunft einhegen wollte, und eine klare Absage an haltlose Irrationalität und Schwärmerei formulierte. – Höcke kritisiert die Aufklärer, die bemängelten, dass Mythen nicht wahr sind: Denn darauf käme es nicht an, meint Höcke, sondern darauf, dass die Mythen Identiät stiften! Mythen müssten nur „authentisch“ sein, im Sinne von George Sorel, und das beschreibt Höcke als die Ermöglichung verschiedener Lesarten (S. 159 f.). Doch seit Platons Zeiten kommt alles darauf an, dass Mythen gut und wahr sind. Die Taten und Worte der Vergangenheit, auf die eine Gemeinschaft ihre Identität stützt, sollten real sein, nicht erfunden. Denn wer, der bei Verstand ist, sollte das dann glauben? Wer sollte es ernst nehmen? Und eine Offenheit für verschiedene Lesarten macht alles nur noch schlimmer, denn wie soll dann eine gemeinsame Identität zustande kommen?!

Höcke meint, dass die Deutschen auch als Romantiker bereits ökonomischen Erfolg gehabt hätten, ohne die Übernahme der Ideen der Angelsachsen, die er „smarte Praktikusse“ nennt (S. 157). Doch das ist sehr fraglich, denn vor der Romantik kam bekanntlich die Klassik mit Goethe und Schiller, und auch die Aufklärung mit Friedrich dem Großen und Immanuel Kant. Preußen wurde durch seine Rationalität bekannt und erfolgreich, nicht durch seine Romantik. Das gilt auch für die Ökonomie. Außerdem stand Preußen damals mit England im Bunde. Schließlich hat Höcke beobachtet, dass auch die Naturwissenschaften sich von einem rein materialistischen Weltbild abwenden und zur Verzauberung der Welt zurückkehren (S. 162 f.). Das ist nicht falsch, doch findet diese „Verzauberung“ natürlich unter den strengen Auspizien der Rationalität statt.

Gegen Romantik wäre nichts einzuwenden, wenn sie unter der klaren Prämisse der Rationalität stünde. Klassik geht vor Romantik. Dann wäre die Gefährlichkeit der Irrationalität gebändigt. Doch genau diese Einhegung der Romantik findet sich bei Höcke nicht.

Politische Philosophie: Antimodernismus

Für Höcke ist der Inbegriff der Moderne die Entstrukturierung, die totale Auflösung von allem, bis hin zur Auflösung von Nationen und Geschlechtern. Die Moderne ist für ihn die Verfallsform der Neuzeit (S. 261-263). Deshalb will er die Moderne beseitigen und eine Nach-Moderne anstreben (S. 258). Er möchte von der Dekomposition zur Re-Komposition kommen (S. 264).

Die Kritik an der völligen Auflösung aller Strukturen in Ehren, aber ist die Zuschreibung der Verantwortung für diese Auflösung ausgerechnet an die Moderne wirklich berechtigt? Die Moderne als Verfallsform der Neuzeit beginnt für Höcke anscheinend mit der Aufklärung und ihrer analytischen Rationalität. Diese Analytik sieht er vermutlich als „auflösend“. So genau sagt er das nicht.

Aber ist es wirklich so, dass der Aufklärung der Drang zur Auflösung aller Strukturen innewohnt? Ist es aufgeklärt und rational, nützliche und sinnvolle und begründbare Gegebenheiten wie Nationen oder Geschlechter aufzulösen? Ist es nicht vielmehr anti-rational und unaufgeklärt? Steckt dahinter nicht etwa die Moderne, sondern vielmehr der sogenannte Postmodernismus und Wokismus? Diese Ideologien formulieren eine Absage an die Vernunft. Für diese Ideologien ist die Rationalität eine koloniale, „weiße“ Beherrschungsstrategie. Dahinter steckt Nietzsche und dessen irrationale Ablehnung von allem, was wahr, gut und schön ist. Jener Nietzsche, von dem Höcke so fasziniert ist.

Und wie will Höcke etwas re-komponieren, wenn nicht mithilfe der Vernunft? Ist es nicht die Vernunft, mit deren Hilfe wir die Welt ordnen? Ist nicht z.B. der Nationalstaat bereits eine Art von Re-komposition der voraufgeklärten Wirklichkeit, die wir der Aufklärung verdanken, also der Moderne?

Politische Philosophie: Nur ein Humanismus des Gefühls?

Höcke schreibt sich selbst eine humanistische Gesinnung zu: „In der irdischen Welt sind Licht und Schatten wild miteinander verwirbelt. Durch alles – also auch durch uns selbst – geht ein ‚tragischer Riss‘. … … … Aus dem Wissen und dem Gefühl über dieses gemeinsame Schicksal speist sich mein tief verankerter Humanismus. Diese Einheit des Menschseins in Anbetracht der inneren Wunde ist elementar.“ (S. 62 f.)

Doch Höcke definiert seinen Humanismus nur vom Gefühl her. Wie wir oben sahen, geht es Höcke um das menschliche Leiden (Schopenhauer) und um moralisches Empfinden (wohltemperierte Grausamkeiten), aber es geht immer nur um Gefühl. Rationalität hingegen findet in Höckes Humanismus eher keine Erwähnung und spielt eine sichtlich zurückgesetzte Rolle. Höcke schwärmt für die Romantik und für Nietzsche, während Klassik und Aufklärung ganz offensichtlich nicht so sehr sein Ding sind. Die Moderne gilt ihm gar als Verfallserscheinung. Platon deutet Höcke nicht als Rationalisten, und ob Mythen auch wahr sind, ist für Höcke nicht entscheidend. An einer Stelle spricht Höcke sogar von „Wirklichkeitsverachtung“ (S. 61).

Ein klassischer Humanist würde das nicht tun, denn ohne Rationalität geht es nicht. Auch wenn Höcke durch name-dropping wiederholt in Richtung Klassik und Vernunft „blinkt“, biegt er doch sichtlich in die andere Richtung ab.

Einzelthemen: Staatsbegriff

Höcke strebt einen Staat in „neuzeitlich-klassischer Form“ an. Es ist „das von uns präferierte Modell eines erneuerten Nationalstaates – von dessen klassischen Modell des 19. Jahrhunderts sicher einiger Ballast abgeworfen werden muss“ (S. 269 f.). Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ist also nicht (!) das Modell, sondern Höcke geht weiter zurück in der Geschichte. Das entspricht auch seiner Gegnerschaft zur Moderne, die er als Verfallsform der Neuzeit deutet. Die Staaten der Neuzeit waren die ständisch und absolutistisch verfassten Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Es bleibt etwas nebulös, wie sich Höcke einen solchen Staat konkret vorstellt.

Jedenfalls möchte Höcke, dass der Staat „bändigend, ordnend und gestaltend“ wirkt; er will also eine „politisch gesteuerte Nationalökonomie“ und einen „starken Staat“, um die „zerstörerischen Kräfte der Emanzipation in produktive Bahnen zu lenken“ (S. 259-261). – An anderer Stelle meint Höcke, dass der Staat sich auf die Grundlinien der Politik beschränken sollte, und dass Staat und bürgerliche Gesellschaft getrennt sein sollten (S. 272). Auch gehört zu seinem Bild des neuzeitlichen Staates die Entfesselung von Wissenschaften, Technik, Ökonomie und Kultur (S. 259).

Es bleibt unklar, wie diese beiden Ideale von Staat miteinander vereinbar sein sollen, die sich gegenseitig widersprechen: Auf der einen Seite ein steuernder und starker Staat, auf der anderen Seite ein beschränkter Staat, der Freiheit entfesselt.

Einzelthemen: Volkskirche

Höcke möchte eine „neue Volkskirche, die wie das alte Gotteshaus im Dorf in der Mitte der Gemeinschaft steht.“ (S. 268) Diese Volkskirche „müsste die tradierte Volksfrömmigkeit, die sich bis heute in verschiedensten Bräuchen und Ritualen erhalten hat, mit der idealistisch-romantischen Vorstellung einer beseelten Natur und dem ursprünglichen spirituellen Impuls des Christentums verbinden – ohne gleichzeitig im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu geraten.“ (S. 268). Die neue Volkskirche müsste „mit Schopenhauer den allegorischen Charakter der hergebrachten Religion“ akzeptieren und sollte sich ausschließlich auf das Seelenheil konzentrieren, also klar aus der Politik heraushalten (S. 268).

Diese Ideen sind hochproblematisch. Zunächst dürfte es schwierig sein, in einer halbwegs freien Gesellschaft eine gemeinsame Volkskirche aufzubauen, in der alle Mitglied sind. Egal wie attraktiv die Lehre dieser Volkskirche auch sein mag, eine solche religiöse Einheit dürfte freiheitlich kaum herstellbar sein. Das nächste Problem ist der vorgeschlagene Synkretismus: Eine Totgeburt! Denn wer soll eine solche Konstruktion religiös glauben? Höcke meint offenbar, dass der allegorische Charakter genüge, ganz im Sinne seines Glaubens, dass es bei Mythen egal sei, ob sie wahr sind (s.o.). Aber so funktioniert Religion nicht. Religionen wurden zwar schon immer politisch verbogen, aber immer nur graduell und ausgehend von einem bereits vorhandenen Glauben. Die Vorstellung, dass Politik Religion beliebig konstruieren könnte, ist grundfalsch. Es ist nicht ohne Ironie, dass Höcke hinzufügt, dass man „immer die conditio humana im Auge behalten“ müsse, „die sich nicht endlos ohne böse Folgen verbiegen lässt.“ (S. 269) Ohne eine solche Verbiegung wird eine solche Volkskirche nicht möglich sein.

Übrigens führt auch dieser Gedanke einer Volkskirche ideengeschichtlich hinter die Aufklärung zurück, ganz im Sinne von Höckes Deutung von der Moderne als einer Verfallserscheinung der Neuzeit. Für die Staaten der Neuzeit galt „cuius regio eius religio“, d.h. es gab eine einheitliche Religion im ganzen Staatsgebiet. Wer andersgläubig war, musste auswandern, wie z.B. die französischen Hugenotten oder die Salzburger Protestanten.

In einem Punkt hat Höcke allerdings Recht: Ein Gemeinwesen kann sich nicht in Materialismus erschöpfen (S. 162). Der Mensch braucht eine sinnstiftende Weltanschauung. Und eine Gemeinschaft benötigt eine „große Erzählung“, sie benötigt Symbole, Rituale und Mythen. Die Lösung kann aber nicht in einer Volkskirche bestehen, sondern müsste einerseits pluraler ansetzen, andererseits partielle Gemeinsamkeiten suchen.

Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist nicht hintergehbar. Man müsste allerdings damit aufhören, nur ganz bestimmte Anschauungen zu fördern, andere aber zu vernachlässigen. Das würde schon viel helfen. Die Gemeinsamkeit liegt ebenfalls auf der Hand: Sie liegt im Humanismus, den es in allen großen Religionen und Weltanschauungen bereits gibt. Die große Forderung müsste deshalb sein, dass sich alle Religionen und Weltanschauungen darum bemühen, ihre Lehre nach humanistischen Maßstäben zu entfalten, d.h. mit Rationalität und Mitgefühl. Entscheidend ist nicht, welche Religion oder Weltanschauung es ist, sondern entscheidend ist die humanistische Perspektive. Fanatismus jeder Art, ob religiös oder atheistisch, muss hingegen geächtet werden. Der Staat wiederum sollte seine Geschichte und seine Verfassung symbolisch und mythisch zelebrieren. Stichwort Zivilreligion. Natürlich nur mit Mythen, die gut und wahr sind. Unsere Geschichte ist voll davon.

Einzelthemen: Frauen

Es ist in Ordnung, konservative Lebensentwürfe von Frauen und das Familienleben wieder aufzuwerten, aber Björn Höcke bleibt dabei in gewissen Klischees stecken (S. 112-117). Es ist in Ordnung, Männern „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung“ und Frauen „Intuition, Sanftmut und Hingabe“ zuzuschreiben, aber für sich allein klingt das einfach zu holzschnittartig (S. 115). Das Thema endet mit dem Zitat „Die Frau ist stärker als der Mann, wenn sie einen hat.“ (S. 117)

Das ist für einen modernen Konservativismus einfach zu wenig. Höcke befürwortet Emanzipation dort, wo sie „sinnvoll“ ist, was sich nach einer Einschränkung anhört (S. 113). Wenn es ein Islamist wäre, den man so über Frauen reden hören würde, würden sämtliche Alarmglocken schrillen.

Einzelthemen: Islam

Zum Islam nennt Höcke die Islam-Broschüre von Dr. Michael Henkel, die Höckes Thüringer AfD-Fraktion im Jahr 2016 herausgab (S. 174). Die darin enthaltenen Grundthesen werden auch hier von Höcke wiedergegeben: Höcke wendet sich gegen eine „Verwestlichung“ des Islam, sondern vielmehr müsse man das Andersartige achten (S. 196). Die Lösung für die Probleme mit dem Islam in Europa ist für Höcke ganz einfach: „Wir können uns also im Grunde die ganze Islam-Debatte sparen: Hätten wir nicht die Massen an Orientalen und Muslimen in Europa und Deutschland, hätten wir auch kein elementares Problem mit dem Islam.“ (S. 197 f.)

Diese Einstellung ist natürlich in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig. Zunächst entspricht diese Haltung dem bekannten Satz des Methusalix aus dem Asterix-Band XXI (Geschenk des Caesars, S. 17): „Nein! Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben wo sie hingehören.“ Diese Einstellung ist dann doch etwas zu plump. Und sie löst auch unsere Probleme nicht. Oder will Höcke etwa ausnahmslos alle Muslime, also auch die Muslime aus der Generation der Gastarbeiter, wieder wegschicken? Höcke will nach eigener Auskunft die Remigration von nicht integrierbaren Migranten (S. 284). Doch je länger die Einwanderung dieser Migranten zurückliegt, desto unglaubwürdiger und schwieriger wird eine Remigration zu bewerkstelligen sein.

Indem Höcke den Islam überhaupt nicht kritisieren sondern sogar „achten“ will, solange er uns fern bleibt, verrät Höcke auch unsere westlichen Werte – oder verrät er unfreiwillig etwas über seine wahren Werte? Jedenfalls enthält der unreformierte Islam in seiner traditionalistischen Form Elemente, die von uns unmöglich geachtet werden können, sondern deutlich kritisiert werden müssen! Jemand, der das unkritisiert lässt, muss sich fragen lassen, wo er selbst steht.

Unsere westlichen Werte sind nämlich nicht nur für den Westen gut, sondern sie sind für alle Menschen gut. Davon sind wir überzeugt, sonst hätten wir diese Werte nicht. Westliche Werte sind keine westliche Folklore, die nur im Westen ihren Platz hätten. Und es geht auch nicht um den Wokismus. Woke Werte sind nicht die westlichen Werte, von denen hier die Rede ist. Ein erfolgreich reformierter Islam wäre in großen Teilen gewiss immer noch so konservativ wie die katholische Kirche.

Mehr noch: Auch das Christentum ist erst durch Reformen „genießbar“ geworden. Es begann mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen und der Erkenntnis, dass Vernunft und Glaube nicht im Widerspruch zueinander stehen können. Früher wurden Hexen und Ketzer einfach verbrannt, das Gottesgnadentum der Könige war kirchlich legitimiert, und natürlich wurde auch die Bibel wesentlich wörtlicher genommen als das heute der Fall ist, bis hin zum Abhacken der Hände von Dieben. Heute bedeckt keine christliche Frau mehr ihr Haupt, obwohl es im Neuen Testament so geboten wird. Die historisch-kritische Lesart überlieferter Texte, auch religiöser Texte, ist ein großer Fortschritt in der richtigen Welterkenntnis und eine zentrale Errungenschaft unserer westlichen Zivilisation. Diesen ganzen Reformprozess verleugnet Höcke implizit durch seine Einstellung zum Islam. Warum sollte man Reformen in der christlichen Welt als große Errungenschaft und unbedingte Notwendigkeit begrüßen, in der islamischen Welt aber mittelalterliche Verhältnisse „achten“, ohne den geringsten Versuch, etwas daran zu verbessern? Das passt logisch nicht zusammen.

Mit der These, dass der Islam zu „achten“ ist, wie er ist, also in seiner aktuell vorherrschenden traditionalistischen und islamistischen Form, ist die AfD keine islamfeindliche Partei mehr, ja sie ist noch nicht einmal mehr eine islamkritische Partei. Im Gegenteil. Mit dieser Grundeinstellung stehen alle Türen für eine Zusammenarbeit der AfD mit Traditionalisten und Islamisten offen! Und mehr noch: Die AfD hält auch nichts von der Unterstützung von Islamreformern, weil sie ja von Islamreformen generell nichts hält („Verwestlichung“). Dabei müsste das doch die klare Entscheidung auf der Grundlage unserer westlichen Werte sein, auch in unserem eigenen, langfristigen Interesse: Der islamischen Welt dabei zu helfen, dieselben Reformprozesse zu durchlaufen, die auch die christliche Welt durchlaufen hat. Genau wie beim Christentum auch, sind die Grundlagen dafür in den islamischen Traditionen selbst zu finden. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar zeitweise fortschrittlicher als die christliche Welt.

Natürlich sollte man sich von Islamreformen keine Wunder erwarten. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, diesen wichtigen Baustein im Umgang mit dem Islam zu vernachlässigen. Auch und gerade, um uns selbst treu zu bleiben.

(PS 25. April 2024: Der Co-Autor dieses Buches, Sebastian Hennig, konvertierte selbst im Jahr 1990 zum Islam. Er sieht den Islam in Opposition zur rationalen Moderne.)

Einzelthemen: Ökonomisch links

Höcke propagiert bekanntlich einen „Sozialpatriotismus“. In diesem Buch präsentiert sich Höcke als „Antikapitalist“ (S. 250 ff.). Über die Marktwirtschaft spricht er ungefähr so wie Sarah Wagenknecht: Zwar hätte er nichts gegen die Marktwirtschaft, aber dann wird doch deutlich, dass es um einen sehr stark steuernden Staat geht. Davon sprach er ja auch bei seinem Staatsverständnis (s.o.). Höcke erstrebt eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, „ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen.“ (S. 265 f.) Dem Leser drängt sich hier der Gedanke an einen Sozialismus „neuer Machart“ auf.

Höcke erzählt auch, wie er als Jura-Student in Bonn in einschlägige Kneipen ging, um mit Linksradikalen zu diskutieren (S. 144). Der Lebensabschnitt von Höckes Jura-Studium bleibt im ganzen Buch seltsam blass. Sollte Höcke als junger Mensch etwa eine „linke“ Phase gehabt haben? Doch das ist Spekulation.

Einzelthemen: Antiamerikanismus

In zahlreichen Äußerungen Höckes wird deutlich, dass er von den USA nicht viel hält und sich politisch von ihnen absetzen möchte. So spricht er z.B. vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39), was zumindest sehr einseitig ist. Oder dass die Alliierten Deutschland 1945 angeblich als Völkerrechtssubjekt hätten ausschalten wollen und nur wegen des Kalten Krieges nicht dazu kamen (S. 65), was einfach falsch ist, und zwar gerade was die gutmütigen und optimistischen Amerikaner anbelangt. Laut Höcke hätte US-Präsident Roosevelt gesagt, dass man „gegen die Deutschen an sich“ kämpfe (S. 216). Ein entsprechendes Zitat war nicht zu finden. Eine solche Aussage wäre im Kontext der Emotionalisierung des Weltkrieges auch nicht allzu verwunderlich. Die USA haben jedenfalls nicht in diesem Sinne gehandelt. Schließlich spricht Höcke auch noch von dem „alten Wirtschaftskrieg der Seemächte Großbritannien und USA gegen den Kontinent im 20. Jahrhundert“ (S. 279) Der Satz wäre vielleicht noch verständlich, wenn es nur um den Ersten Weltkrieg ginge. Aber der Bezugsrahmen ist das 20. Jahrhundert. Damit wird auch der Zweite Weltkrieg als Wirtschaftskrieg gedeutet. Das will doch etwas gewagt erscheinen.

Höcke hält die deutsche Bundeswehr für völlig fremdbestimmt, sie sei nie eine genuin deutsche Armee gewesen (S. 53). Wie es dann möglich ist, dass diese Bundeswehr durch einsame Entscheidungen von Kanzlerin Merkel gegen den Willen der Amerikaner heruntergewirtschaftet wurde, sagt Höcke nicht. Und dass ein Mangel an deutschem Selbstbewusstsein spätestens nach Ende des Kalten Krieges keine Fremdbestimmung mehr war, sondern selbstverschuldet, fällt bei dieser Analyse auch unter den Tisch.

Höcke wettert gegen die amerikanischen Neocons und deren angebliche Destabilisierungspolitik, und spricht von einer „bewusst geförderten muslimischen Masseneinwanderung nach Europa“ (S. 195). Diese Analyse will doch recht undifferenziert erscheinen: War das Ziel der Neocons wirklich die Destabilisierung? Wenn überhaupt, dann war es ein ungewollter Effekt. Sind alle Amerikaner Neocons? Wohl kaum. Hat z.B. Obama stabilisierend gewirkt, als er den Bürgerkrieg in Syrien anheizte und die Truppen aus dem Irak abzog? Eher nicht. Aber Obama war kein Neocon, und das ist der Punkt. Und waren es nicht Tsipras und Merkel, die 2015 die Migranten nach Europa und Deutschland hereinließen? Oh doch! Und war es nicht Hillary Clinton, eine amerikanische Spitzenpolitikerin, die meinte, die Deutschen sollten die massenhafte Aufnahme von Migranten besser wieder beenden, doch Merkel hörte nicht auf sie? Die Amerikaner schauen genauso staunend auf die „verrückten Deutschen“ wie alle anderen auch. Höcke hat damit eine völlig falsche Analyse der Wirklichkeit. Höcke will jedenfalls keine „Nibelungentreue zur US-geführten NATO“ (S. 279). Schließlich träumt Höcke vom Rückzug der Amerikaner aus Europa (S. 54).

Paradox, dass in diesem Buch auch erwähnt wird, dass die CIA schon 2008 vor diversen Szenarien warnte, die Höcke heute beklagt (S. 204). Wie ist das möglich, wo doch die USA an allem schuld sein sollen? Und selbst Höcke muss einräumen, dass die USA mit Donald Trump sogar einen Präsidenten hatten, der sich gegen manche zeitgeistige Verirrung wandte (S. 207).

Die Frage, wie es möglich sein soll, dass das kleine Deutschland sich in einer Welt von Großmächten souverän behauptet, ohne vereinnahmt zu werden, beantwortet Höcke an keiner Stelle. Die Idee, dass Deutschland sich einer der Großmächte anschließen muss, und dass die USA trotz allem die beste Wahl für einen Hegemon sind, bleibt undiskutiert.

Einzelthemen: Pro Russland und Islamische Welt

Höcke möchte zu einem „dauerhaften Ausgleich mit Russland“ kommen, weil es „einen dauerhaften Frieden in Europa niemals gegen Russland, sondern nur mit Russland geben kann.“ (S. 281) Wie das mit dem Kalten Krieg und der Notwendigkeit, die Freiheit gegen Russland zu verteidigen, zusammenpasst, sagt Höcke nicht. Auch nichts dazu, dass Russland keinen „Ausgleich“ will, sondern Herrschaft, und dass man diesem Bestreben etwas entgegensetzen muss.

An einer Stelle hört es sich sogar so an, als ob Höcke bereits 1945 ein Zusammengehen mit der Sowjetunion gegen die USA befürwortet hätte: „Ein Zusammengehen mit der Sowjetmacht war nach den schrecklichen Begleiterscheinungen des russischen Einmarsches in Ostdeutschland im Volk nicht vermittelbar.“ (S. 38) Ein seltsamer Satz, denn es hört sich tatsächlich so an, als würde sich Höcke wünschen, dass ganz Deutschland zu einer Groß-DDR unter der Führung der Sowjetunion geworden wäre. Man beachte auch, dass die schrecklichen Verbrechen der russischen Armee an der deutschen Zivilbevölkerung als „Begleiterscheinungen“ verharmlost werden, während Höcke gleichzeitig vollmundig vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39) spricht.

Höcke träumt von geopolitischen Großräumen, in denen „raumfremde“ Mächte ein Eingriffsverbot haben (S. 283). Hier übersieht Höcke, dass Verbote nicht helfen. Mächte setzen sich durch, oder eben nicht. Auf „Raumfremdheit“ wird dabei leider keine Rücksicht genommen. Nicht Räume sondern Mächte bestimmen, was geschieht, und Deutschland ist ohne die Hilfe der USA an Russland ausgeliefert. Paradoxerweise erwähnt Höcke die Kooperation der osteuropäischen Visegrad-Staaten als Beispiel für die Durchsetzung nationaler Interessen (S. 283). Dass aber die osteuropäischen Staaten aus Angst vor Russland sehr an dem Bündnis mit den USA interessiert sind, sagt Höcke nicht.

Aber auch zur Türkei will sich Höcke in ein gutes Verhältnis setzen, denn sowohl mit Russland als auch mit der Türkei würden wir auf einem Doppelkontinent zusammenleben (S. 279). Mit der islamischen Welt strebt Höcke nach einem „modus vivendi, aber die intransigente Außenpolitik der USA, an die wir sklavisch gekettet zu sein scheinen, verhindert das.“ (S. 194) Höcke sieht eine „Anti-Islam-Koalition“, aus der er gern aussteigen würde (S. 195).

Einzelthemen: Der große Plan der Eliten?

Es ist sicher richtig, dass es einen Zeitgeist gibt, der in bestimmten Milieus besonders wirkt und auch von einem Teil der weltweiten Eliten geteilt und vorangetrieben wird. Ob Klima, Massenmigration, Wokismus oder Transhumanismus. Aber bei Höcke bekommt diese Analyse einen verschwörungstheoretischen Drive. Bei Höcke ist es kein Zeitgeist, sondern ein geheimer Plan, es sind nicht bestimmte Milieus und Teile der Eliten, sondern es ist „die“ Elite, und manche spontane Entscheidung wird zur lange geplanten Absicht umgedeutet.

Höcke sieht eine „geschlossene transatlantische Politelite“ (S. 201), wobei die politische Klasse als „Dienstklasse“ der wahren Eliten dahinter anzusehen ist (S. 206). Diese Politelite habe ein „hartes politisches Programm“, nämlich „die Entnationalisierung der europäischen Völker und die Umwandlung der bisherigen Nationalstaaten in multi-ethnische Gebilde“ (S. 201). Die Politik der Masseneinwanderung sei gezielt gewollt, es gehe um die Minorisierung der autochthonen Völker (S. 185, 187). Die Ereignisse des Jahres 2015 wären nicht geplant gewesen, aber die Eliten hätten die Gunst der Stunde genutzt (S. 206), um ihre Pläne durchzusetzen. Die Globalisten wollten eine Art „ethnische Säuberung“, nämlich den reinen Menschen ohne nationale Identität und ohne Tradition (S. 203).

Höcke spricht nicht davon, dass im Zuge der Euro-Krise 2015 der linksradikale Tsipras an die Regierung in Griechenland kam und daraufhin die EU-Außengrenzen rigoros öffnete, die bis dahin von den griechischen Grenzschützern gut bewacht worden waren. Das ist der wahre Hintergrund von 2015. Aber Tsipras besuchte kurz vorher noch Putin und das möchte Höcke wohl eher ungern diskutieren. – Zwei Beispiele von Aussagen der UN, die Höcke als Beleg für seine Thesen anführt (S. 205, 222), belegen eher etwas anderes: Nämlich dass die Eliten unglaublich naiv sind bezüglich der Integrationsfähigkeit von massenhaft ins Land kommender Zuwanderer.

Diese unglaubliche Naivität und Weltfremdheit von Teilen der Elite, sowie das Konglomerat an sekundären Interessen vieler Nutznießer des Systems, die den Zirkus trotz seiner Sinnlosigkeit am Laufen halten, hätte Höcke analysieren müssen, um zum wahren Kern der Probleme vorzustoßen. Eine Verschwörung von Eliten ist maximal die halbe Wahrheit.

Einzelthemen: Völkisches Denken? Biologismus?

Auf die heikle Frage, wie Höcke „Volk“ versteht, werden einige Seiten des Interviews verwendet (S. 126-134). Höcke versteht ein Volk im wesentlichen kulturell und wendet sich gegen einen „biologischen Reduktionismus“, doch Abstammung sei nun einmal eine biologische Tatsache, die weitgehend innerhalb einer Gruppe geschehe (S. 128). Ein Volk sei aber nicht nur Verwandtschaft (S. 132). Biologistisches Denken gäbe es gerade bei Deutschlandhassern (S. 131).

Soweit hört sich das gut an, doch es ist nicht gut genug. Denn gegen einen biologischen „Reduktionismus“ zu sein heißt nicht, das Biologische für irrelevant zu erklären; erst recht nicht, wenn man gleich hinterherschiebt, dass Abstammung eine Tatsache sei und Gruppen sich angeblich so gut wie nicht mischen würden – was vielleicht so sein mag, doch mit Biologie kann und darf nationale und kulturelle Identität nichts zu tun haben! Auch der Satz, dass ein Volk „nicht nur“ Verwandtschaft sei, betont die Verwandtschaft doch immer noch sehr.

Man hätte sich einen klaren Satz gewünscht, dass allein die Kultur zählt, und die Biologie im Grunde völlig irrelevant ist, jedenfalls für die nationale Identität (für die Vererbung von Intelligenz mag sie eine gewisse Rolle spielen: Ein Thema, das Höcke interessanterweise nirgends anschlägt). Man hätte sich einen Satz gewünscht, dass z.B. ein asiatisches oder schwarzes Waisenkind, das von einer deutschen Familie adoptiert und erzogen wurde, allein aufgrund seiner kulturellen Assimilation vollkommen deutsch ist, ohne wenn und aber und radikal unabhängig von der Biologie. Doch ein Satz in dieser Klarheit fehlt.

Statt dessen finden sich einige Aussagen, die begründet vermuten lassen, dass Höcke der Biologie doch eine größere Rolle bei der Identität von Menschen zuschreibt. Von den USA sagt Höcke, dass sich die Weißen und die Schwarzen vor ihrer Einwanderung nach Amerika „aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen“ setzten, doch „jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir als Europäer vermeiden und die Völker bewahren.“ (S. 133) Hier ignoriert Höcke völlig, dass die Amerikaner in den USA zu einer neuen Nation zusammengewachsen sind, mit eigenen Mythen und eigener Identität, die unseren europäischen Nationen in nichts nachsteht. Und Höcke ignoriert, dass die spezifischen Probleme mit den Schwarzen in den USA natürlich darauf zurückzuführen sind, dass diese erst einmal als Sklaven nach Amerika geholt wurden. Doch Höcke sieht die Vermischung von Menschen verschiedener Herkünfte zu einer neuen Nation anscheinend als ein grundsätzliches Problem und als eine Ursache für „Abstieg“ an. Höcke spricht von „Masse“. Doch sind die USA abgestiegen und identitätslos vermasst? Nein, denn es ist eine der reichsten und mächtigsten Nationen auf Erden, und sie hat nicht weniger Selbstbewusstsein als irgendeine andere Nation!

Höcke meint auch, dass bei einem Versuch, Trumps Veränderungen wieder zurückzudrehen, „ein Aufstand der weißen Arbeiterklasse“ drohe (S. 209). Da fragt man sich: Warum ausgerechnet der „weißen“ Arbeiterklasse? Die US-Republikaner sind jedenfalls immer sehr stolz darauf, dass Trump gerade auch bei den Schwarzen und Latinos der Arbeiterklasse gute Wahlergebnisse erzielt hat, weil es Trump gelungen wäre, das Narrativ der Demokraten zu durchbrechen, dass es Rassenprobleme gäbe, wo es in Wahrheit doch vor allem soziale Probleme seien. Höcke scheint das anders zu sehen.

Schließlich präsentiert Höcke für den Fall eines siegreichen Multikulturalismus die Dystopie des Rückzugs der Deutschen in „gallische Dörfer“ auf dem Land, wo sie gewissermaßen überwintern und eines Tages von dort aus die „Rückeroberung“ starten (S. 253). Das Problem, das hier deutlich wird, ist die völlig Ablehnung jeder kulturellen Veränderung durch Vermischung.

Natürlich bringt der ungesteuerte und ideologisch verblendete Multikulturalismus einen Niedergang der gewachsenen deutschen Kultur mit sich, der ungerecht und schlimm für alle ist, auch für die Zuwanderer. Es ist ja gerade nicht wie in Amerika, wo die Menschen verschiedener Herkünfte eine neue gemeinsame Zukunft, eine neue gemeinsame Nation errichteten, sondern Multikulti heißt, dass jeder seiner Herkunft verhaftet bleibt und unverbundene Parallelgesellschaften entstehen. Ein Land wie Syrien oder der Balkan würde das Ergebnis sein, wo verschiedene Religions- und Volksgruppen sich dermaßen misstrauen, übervorteilen und ja: auch bekämpfen, dass der Gemeinsinn darüber verloren geht. Deshalb muss der Untergang einer gemeinsamen und organisch fortentwickelten, deutschen Kultur zum Wohle aller verhindert werden. Im Idealfall würde die deutsche Kultur durch Zuwanderung so bereichert werden, wie einst Preußen durch die zugewanderten Hugenotten. Das wäre ein lohnendes, gemeinsames Zielbild für Deutsche und Zuwanderer. Dazu müssten sich aber auch die Deutschen ein wenig konstruktiv einbringen. Davon ist bei Höcke aber absolut nichts zu sehen.

Doch auch im Falle von Höckes Dystopie, dass der Multikulturalismus die deutsche Kulturnation zerstören wird, liegt Höcke falsch: Denn irgendwann, nach langen und schlimmen Turbulenzen, werden sich die Bewohner dieses Landes zeitlich und kulturell so weit von ihren Wurzeln entfernt haben, dass sie zu einer neuen Nation, vielleicht auch mehreren neuen Nationen, verschmelzen können. Das wird dann keine deutsche Nation mehr sein, und es mag Jahrhunderte dauern und viele leidvolle Umwälzungen über die Menschen bringen, aber es wird wieder eine Nation sein. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Wenn die deutsche Kulturnation tatsächlich verloren sein wird, wird diese Vision die nächstbeste Perspektive sein. Doch ausgerechnet Höcke, der sich immer so gerne konstruktiv einbringen möchte, will sich nicht konstruktiv in diese neu entstehende Nation einbringen, sondern er will sich trotzig in „gallische Dörfer“ auf dem Land zurückziehen, von wo nach Jahrhunderten unvermischte Deutsche zu einer „Rückeroberung“ aufbrechen sollen. Das ist schon ein ziemliches groteskes Bild. In der Praxis würde es wohl darauf hinauslaufen, dass diese zurückgezogenen Deutschen die ewigen Hinterwäldler bleiben und irgendwann aussterben.

Die Geschichte ist kein Wunschkonzert und sollte uns lehren, wie wertvoll die Kultur ist, die wir haben. Sie ist viel leichter zerstört als wieder aufgebaut. Angesichts des Wahnsinns in der Welt ist es überhaupt ein Wunder, wie die westlichen Nationen mit ihren humanistisch entwickelten Nationalkulturen, mit Rationalität, Wissenschaft, Demokratie und Marktwirtschaft, entstehen konnten.

Einzelthemen: Nationalsozialismus

Wir sahen bereits oben, dass sich Höcke Edgar Jung sehr verbunden sieht (S. 77), einem Denker der „Konservativen Revolution“, der mit Hitler über seinen Beitritt zur NSDAP verhandelte. Anders als die Nationalsozialisten lehnte Jung den Rassegedanken ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Er war zudem undemokratisch und antisemitisch. Man mag Edgar Jung mit einiger Spitzfindigkeit nicht für einen Nationalsozialisten halten, ein Rechtsradikaler war er jedoch in jedem Fall. Wie gesagt, unterbleibt eine genau Diskussion des Verhältnisses von Höcke zu Jung.

Das ganze Buch hindurch kommt es zu einem name-dropping von mehr oder weniger „rechten“ Autoren, so z.B. Carl Schmitt (S. 274, 287), Alain Finkielkraut (S. 201), David Engels (S. 203), Wolfgang Caspart (S. 105), oder eben Edgar Jung (S. 28, 77). Das allein kann aber kein Vorwurf sein. Schon seltsamer ist, dass Höcke vom Faschismus sagt, dass er „eine geschichtlich und räumlich begrenzte Erscheinung gewesen“ sei und „heute in Deutschland nur als bizarrer Fremdkörper existieren“ könne (S. 141). Man beachte, dass es um Faschismus geht, nicht um Nationalsozialismus. Man beachte auch, dass der Faschismus für Höcke „heute“ ein Fremdkörper wäre – damals nicht?

Eine direkte Kritik des Nationalsozialismus wird nicht formuliert, wohl aber eine Kritik am „NS-Imperialismus, der eine Missachtung des Selbstbestimmungsrecht der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ (S. 283) Das ist aber nur eine Kritik an der Außenpolitik des Nationalsozialismus, nicht an dessen Innenpolitik. Und das Wort „favorisierte“ formuliert keine völlige Absage an den Rassegedanken. Außerdem ist auch das nationale oder völkische Prinzip von übel, wenn man es als oberstes Prinzip definiert. Die Nation ist sicher ein hohes Gut, aber es gibt doch noch ein paar Dinge, die noch wichtiger sind. Bei Höcke ist die Nation oder das Volk aber immer oberstes Prinzip.

Für die Deutschen 1945 sieht Höcke einen „Vorsprung der Besiegten“ (S. 64). Damit meint er, dass die Besiegten genötigt sind, an sich zu arbeiten und dadurch aufsteigen, durch einen „Erkenntnisgewinn“, so Höcke – während die Sieger sich satt auf ihren Lorbeeren ausruhen und deshalb abfallen. Doch ist das wirklich die Situation von 1945? Damals war Deutschland nicht nur ökonomisch und militärisch besiegt, sondern insbesondere auch moralisch. Der Erkenntnisgewinn der Deutschen war praktisch gleich null, denn wie Helmut Schmidt treffend formulierte, wusste er auch schon vor dem Nationalsozialismus, dass man nicht töten soll. An dieser Stelle wird implizit deutlich, dass Höcke den Charakter der Niederlage von 1945 nicht verstanden hat. Es hat zwar der Stärkere den Schwächeren besiegt, ja, aber das ist nicht der Punkt.

Ebenfalls höchst peinlich ist Höckes Aussage, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). In Preußen ja. Aber in Österreich? Ganz gewiss nicht! Österreich zerfiel an der Herausbildung der Nationalstaaten und blockierte sie, solange es ging, was ein Grundübel dieser Zeit war. Wie kommt Höcke dazu, so etwas zu sagen? Man kann eine Absicht erkennen, wenn man sich ansieht, dass Höcke hier von Preußen und Österreich als „den beiden deutschen Hauptmächten“ spricht. Es geht ihm also um Deutschland. Und da gehört Österreich für ihn offenbar dazu. Um Österreich in diese Aussage mit aufnehmen zu können, begeht Höcke sogar die historische Unwahrheit, dass der Nationalstaat in Österreich gut funktioniert hätte. – Höcke hätte besser daran getan zu sagen: Mit Preußen war der Nationalstaat in Deutschland erfolgreich. Punkt. Und wenn überhaupt, dann hätte er dies hinzufügen sollen: Österreich gehört seit dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht mehr zu Deutschland, wird nie mehr dazu gehören, und war als Nationalstaat im 19. Jahrhundert auch nicht erfolgreich. Aber das war offensichtlich nicht das, was Höcke sagen wollte.

Wenn wir in einem Brainstorming in aller Kürze einige Vergleichspunkte von Höckes Ideenwelt mit dem Nationalsozialismus durchgehen, dann haben wir bis jetzt folgendes gefunden: Zunächst Edgar Jung, der völkisch, antidemokratisch und antisemitisch ist. Einen höheren Wert als die Nation nennt Höcke nicht. Biologistisches Denken wird zwar in die zweite Reihe verbannt, jedoch nicht völlig abgelehnt. Der Humanismus von Höcke ist rein romantisch-gefühlig, keinesfalls vernünftig und aufgeklärt zu verstehen. Höcke will eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen. Was sich wie nationaler Sozialismus anhört, nennt er Sozialpatriotismus. Gegen anti-humanistische Strömungen im Islam möchte Höcke keine Einwände erheben und sie „achten“. Nietzsche und die Romantik sind für Höcke sehr wichtig. Und eine Volkskirche soll errichtet werden, die ein wenig an das „positive Christentum“ aus Hitlers Parteiprogramm erinnert.

Und an dieser Stelle erhebt sich die Frage, wie der Titel des Buches eigentlich zu verstehen ist: „Nie zweimal in denselben Fluss“. Höcke beschreibt, wie er von seinem Vater lernte, „dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, und es also ein unmögliches Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen“ (S. 24). Wenn wir diesem Gedanken die Aussage Höckes gegenüberstellen, dass der Faschismus „heute“ ein bizarrer Fremdkörper wäre, drängt sich einem der Gedanke auf, dass der Buchtitel wohl sagen soll: Wir sind dieselben von damals, und wir wollen im Grundsatz dasselbe wie damals, aber unter den veränderten historischen Umständen kommen wir mit denselben Grundsätzen zu anderen Schlussfolgerungen und zu einer anderen Politik. Nie zweimal in denselben Fluss eben.

Einzelthema: Preußen

Immer wieder und wieder rekurriert Höcke auf Preußen als ein großes Vorbild. Es sind mindestens fünfzehn Stellen. An einer Stelle des Buches ist von der „Re-Preußifizierung“ Deutschlands die Rede: Für Höcke soll zwar nicht nur aber eben auch der Geist Preußens eine besondere Rolle bei der Rekonstruktion Deutschlands spielen (S. 288). Doch Höcke zeichnet ein höchst einseitiges Bild von Preußen: Bei Höcke geht es vor allem um Härte, Entbehrung und Pflichterfüllung, oder um den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen (z.B. S. 36, 213, 287-290). Friedrich der Große wird mehrfach dazu herangezogen, um Positionen Höckes zu legitimieren, so z.B. seinen Agnostizismus (S. 50) oder seine Polemik gegen das Links-Rechts-Schema (S. 136). Wobei Friedrich der Große eigentlich kein Agnostiker war, sondern ein philosophischer Theist, aber das nur am Rande.

Völlig ungesagt bleibt, dass Friedrich der Große die Aufklärung in Deutschland maßgeblich vorantrieb, und dass der preußische Philosoph Immanuel Kant den kritischen Rationalismus etablierte. Auch von Wilhelm und Alexander von Humboldt hören wir bei Höcke nichts. Insbesondere hören wir auch nichts zu der glücklichen Rezeption der griechisch-römischen Antike in jener Zeit, ganz im Sinne Goethes. Preußen war eben Klassik und keine Romantik, also das Gegenteil dessen, was Höcke bevorzugt.

Dass Preußen „die Vernunft und das klassische Maß“ repräsentiert, weiß und sagt Höcke auch an einer Stelle (S. 75). Wie das mit seinem Hang zur Romantik zusammenpasst, sagt er jedoch nicht. Schlimmer noch: An genau dieser Stelle wurde die Frage nach der Irrationalität Nietzsches und der Deutschen insgesamt aufgeworfen, und Höcke nennt die Klassik und Preußen als Beispiele, dass die Deutschen doch sehr vernünftig seien – doch Klassik und Preußen sind nur dann ein Gegenmittel gegen Irrationalität und Romantik, wenn man sie der Irrationalität und der Romantik als das Bessere gegenüberstellt! Aber genau das tut Höcke hier nicht. Höcke missbraucht vielmehr die Klassik und Preußen an dieser Stelle, um Bedenken gegen Irrationalität und Romantik zu zerstreuen, indem er von der Existenz irrationaler Strömungen wie der Romantik ablenkt und auf die Klassik und Preußen verweist, wie wenn es Nietzsches Irrationalität und die Romantik nicht gäbe! – Gegen Ende des Buches strebt Höcke eine Synthese des Geistes von Potsdam mit dem Geist von Weimar an (S. 290). Auch diese Forderung bleibt völlig oberflächlich, da unklar bleibt, wie sie mit den Tiefenschichten von Höckes Denken zusammengeht.

Höcke stellt auch die bekannte preußische Toleranzformel, dass jeder nach seiner Façon selig werden soll, auf den Kopf. Er wendet sie nämlich auf traditionalistische und islamistische Formen des Islams an, die wir „achten“ sollten (S.197). Wie wir oben schon sahen, können wir dies nicht, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir können verschiedene Anschauungen nur insoweit tolerieren, insoweit sie humanistischen Maßstäben genügen, also z.B. ein Islam im Sinne der islamischen Humanisten, die es ja gibt. Dass Höcke die preußische Toleranzformel zitiert, um Respekt vor antihumanistischen Vorstellungen einzufordern, ist sehr unpreußisch. Damit werden auch andere Erwähnungen der preußischen Toleranz in diesem Buch fragwürdig, weil man nicht stillschweigend voraussetzen kann, dass Höcke auf dem Boden des preußischen Humanismus steht (S. 31, 32, 288).

An einer Stelle wird deutlich, welche Rolle Preußen für Höcke tatsächlich spielt. Auf die Frage, ob man denn anstelle des „harten“ Nationalsozialismus nicht eine „weiche“ Variante von Faschismus propagieren sollte, zieht Höcke die Parallele zur faschistischen Casa-Pound-Bewegung in Italien, die dort seit 2003 als „soziale Bewegung“ für die Propagierung des Faschismus agiert, und sagt: „Eine ‚Casa Pound-Bewegung‘ … brauchen wir Deutschen aber nicht: wir haben Preußen als positives Leitbild.“ (S. 142)

Damit ist klar: Für Höcke spielt Preußen die Rolle eines ideologischen Bahnbrechers. Höcke rekurriert auf Preußen, weil er darin ein ideales Vehikel sieht, um seine Ideen zu transportieren. Darum geht es. Etwas schärfer formuliert, könnte man die Frage stellen, ob Höcke Preußen nicht einfach als „unverbrannten“ Platzhalter nach vorne schiebt, weil man den Faschismus heute in Deutschland in keiner Form mehr propagieren kann? Im Grunde würde es sich dann wie mit der Reichskriegsflagge der kaiserlichen Marine verhalten: Ursprünglich war die Reichskriegsflagge überhaupt nicht rechtsradikal konnotiert, doch da man die faschistischen Symbole nicht mehr zeigen konnte, suchten sich die Neonazis Ausweichsymbole, und so verfiel man auf die Reichskriegsflagge.

Für Höcke geht es bei Preußen nicht um Preußen, soviel scheint klar. Preußen ist für Höcke nur eine Chiffre, die er benutzt und nach eigenem Gutdünken mit Bedeutung auflädt. Das wird einerseits daran deutlich, dass Höcke eher ein Freund von Nietzsche und der Romantik als der Klassik und Preußens ist. Es wird daran deutlich, was Höcke in Preußen sieht und was nicht (s.o.). Und es wird daran deutlich, dass Höcke an keiner Stelle sagt, dass er Preußen als Bundesland wiederherstellen möchte. Denn das wäre das naheliegendste für jeden Preußenfreund. Doch dazu kein Ton. Es wäre auch verwunderlich. Das reale Preußen würde Höcke gar nicht in den Kram passen. Das reale Preußen wäre keine Chiffre mehr, die man nach Belieben aufladen kann. Zudem wendet sich Höckes Freund Gauland vehement gegen die Wiederherstellung Preußens. Gauland hätte es lieber gesehen, wenn Österreich und nicht Preußen die deutsche Einheit hergestellt hätte. Auch Höckes spiritus rector Götz Kubitschek scheint in dieser Frage Gauland nahe zu stehen. Wir erinnern hier noch einmal an die oben besprochene Aussage Höckes, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). Kein Preußenfreund würde so einen Unsinn verzapfen.

Höcke missbraucht Preußen, und dieser Missbrauch Preußens wird auch durch den folgenden Umstand sehr deutlich: Wie gesehen, will man Deutschland re-preußifizieren. Doch kein Mensch, der Deutschland verstanden hat, wird Deutschland re-preußifizieren wollen! Denn Deutschland ist in Länder gegliedert, und jedes Land hat seine ganz eigenen Traditionen. Die Bayern würden sich über eine Re-Preußifizierung schön beklagen! Schon Kaiser Wilhelm II. echauffierte sich über die Nationalsozialisten, weil sie nicht begreifen wollten, dass man Deutschland nicht als zentralen Einheitsstaat regieren kann. Was man re-preußifizieren müsste, wäre natürlich Preußen selbst, als ganz normales Bundesland, bestehend aus den Gebieten, die in der ehemaligen DDR liegen – aber genau das kommt bei Höcke nicht vor. Wo Höcke von Preußen spricht, spricht er immer nur von ganz Deutschland, nie von Preußen. Niemand, dem es um Preußen ginge, würde das tun.

Über dieses Buch hinaus

Björn Höcke hat immer wieder durch Reden auf sich aufmerksam gemacht, bei denen er beinahe etwas sagte, es dann aber doch nicht ganz sagte – aber irgendwie doch recht auffällig in eine bestimmte Richtung tendierte. Am Anfang waren es die 1000 Jahre. Für sich allein genommen völlig unauffällig. Dann folgte 2015 eine Rede, in der Afrikanern aufgrund der Evolution ein anderes Fortpflanzungsverhalten unterstellt wurde. Evolution konnte man allerdings auch sozial verstehen, und die Forderung nach einer Veränderung der Politik in Afrika unterstrich, dass es nicht genetisch gemeint war. In seiner sehr bekannt gewordenen Dresdner Rede 2017 sprach Höcke vom Holocaust-Denkmal doppeldeutig als dem „Denkmal der Schande“, und forderte eine 180-Grad-Wende der Vergangenheitspolitik. Im Jahr 2020 wollte Höcke dann unliebsame Parteifreunde aus der AfD „ausschwitzen“. Und 2021 schloss Höcke dann eine Rede mit dem SA-Wahlspruch „Alles für Deutschland“. Jeder einzelne Fall ist für sich allein genommen harmlos oder könnte auch als Versehen oder Doppeldeutigkeit gedeutet werden. In der Serie wird dann aber doch recht deutlich, wohin die Reise geht. Die Methode wird natürlich erst nach einer Reihe von Vorfällen durchschaubar.

An einigen Stellen des Buches verteidigt sich Höcke gegen diverse Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Doch leider nicht erfolgreich. Nicht Höcke, sondern der Interviewer wiegelt Vorwürfe mit der rhetorischen Frage ab: „Wer ist wirklich schon einmal einem echten Nazi begegnet?“ (S. 90) Das ist nun wirklich keine valide Verteidigung. Seine Dresdner Rede versucht Höcke dadurch zu verteidigen, dass er seine 180-Grad-Wende in der Gedenkkultur nicht wörtlich gemeint habe (S. 66 f.). Doch dass eine 180-Grad-Wende eine Wende ins Gegenteil ist, ist allgemein bekannt. Auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Denkmal der Schande“ unterschlägt Höcke (S. 68). Höcke betreibt die Verteidigung des Einzelfalls, unterschlägt aber, dass es eine Serie von Einzelfällen ist, die eine Absicht erkennbar werden lässt.

Höcke versucht auch immer wieder, das politische Links-Rechts-Schema auszuhebeln (S. 136, 138, 143 ff., 146 ff.). Mit dieser Technik laviert er sich regelmäßig um die Frage nach seiner Radikalität herum, die ihm auch in diesem Buch gestellt wurde, und vermeidet auch sonst jede Festlegung. Richtig ist allerdings, dass der historische Nationalsozialismus auch nicht einseitig für links oder rechts erklärt werden kann. Er hatte Aspekte von beidem. Aber Höcke wird doch nicht dem historischen Nationalsozialismus nacheifern wollen?

Höcke betont das ganze Buch über seine Verbundenheit zur Pegida-Bewegung (S. 110 f., 113, 210, 233 f., 238). Pegida machte am Anfang mit höchst legitimen Forderungen auf sich aufmerksam, entpuppte sich dann aber als eindeutig zu rechts. Frauke Petry war damals zu einem Gespräch mit den Pegida-Organisatoren gegangen und von dort ernüchtert zurück gekommen. Höcke ist Pegida treu geblieben. – Von Höckes Verbindung zu Götz Kubitschek ist im ganzen Buch nicht die Rede. Kubitschek wird nur einmal beiläufig zitiert (S. 93). Wie so oft, ist auch hier das Schweigen Höckes bezeichnend.

Manche versuchen ein gutes Bild der AfD zu retten, in dem sie Björn Höcke als Einzelfall darstellen. Höcke sei zwar schlimm, die AfD aber im ganzen in Ordnung. Doch Björn Höcke ist nicht irgendwer in der AfD, er ist nicht nur der Platzhirsch in Thüringen. Höcke ist einerseits die beherrschende Figur im sogenannten „Flügel“, einer informellen (und angeblich aufgelösten) innerparteilichen Sammlungsbewegung des rechten Flügels in der AfD. Andererseits nennt Alexander Gauland Björn Höcke immer wieder „seinen Freund“. Und nicht zuletzt ist Höcke eng verbunden mit Götz Kubitschek, den rechten Vordenker, der von Schnellroda die Strippen zieht. An diesen drei, am Flügel, an Alexander Gauland und an Götz Kubitschek kommt in der AfD heute niemand mehr vorbei, und damit nicht an Björn Höcke.

Aufruf zur Selbsterkenntnis

Der ideologische Hauptgegner von Björn Höcke und der AfD sind angeblich die Grünen. Deshalb mag es erkenntnisfördernd sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die Grünen und die AfD bzw. Björn Höcke sich ähnlicher sind, als beide Seiten wahrhaben wollen. Sie sind perfekte Spiegelbilder und teilweise sogar auf gleicher Linie.

  • Die Grünen mögen die Rationalität nicht. Sie setzen lieber auf Emotionen. Aber das finden wir auch bei Höcke wieder: Romantik und Nietzsches Irrationalität liegen Höcke mehr als die Klassik und die Rationalität Preußens.
  • Höckes Lieblingsphilosoph Nietzsche ist über das Zwischenglied der Postmoderne der große Vordenker des heutigen Wokismus. Es klingt in der Tat sehr woke, wenn Höcke eine gewisse „Wirklichkeitsverachtung“ fordert (S. 61). Man fühlt sich an Robert Habeck erinnert, der sich „von Wirklichkeit umzingelt“ sieht.
  • Sowohl Grüne als auch Rechtsradikale wollen keine Integration von Ausländern. Die Grünen wollen es nicht, weil sie auf Multikulti bzw. „Vielfalt“ setzen, und jede Anpassung von Zuwanderern als Zumutung betrachten. Deshalb sprechen die Grünen heute oft auch von „Inklusion“ statt von „Integration“: Teilhabe ohne jede Anpassung. Die Rechtsradikalen wollen keine Integration, weil sie nur die beiden Extreme Assimilation oder Abschiebung kennen.
  • Beim Islam wollen die Grünen und Höcke von Reformen nichts wissen. Wir Deutschen müssten das Fremde achten wie es ist, lautet die Forderung von beiden. Islamkritik, und sei sie noch so konstruktiv, gilt beiden ein Zeichen mangelnden Respekts vor dem „Fremden“. Islamreformer sind für die Grünen wie für Höcke böse Menschen, die den Islam „verwestlichen“ wollen.
  • Die Grünen und Höcke möchten ansonsten mit dem Islam einfach nichts zu tun haben. Der Unterschied ist lediglich dies: Während Höcke den Islam komplett aus Deutschland verbannen möchte, möchten die Grünen den Islam in eine Parallelgesellschaft in Deutschland verbannen. Alles „Fremde“, was Grüne an einem unreformierten Islam tolerieren möchten, würden sie in ihrem eigenen Umfeld niemals dulden. Und so kommt es, dass es dort, wo die typischen Grün-Wähler wohnen, nur wenig Muslime und keine Moscheen gibt.
  • Die Grünen und Höcke träumen beide von einer Absage an Kapitalismus und Konsum. Beide wollen dazu den starken Staat. Höcke spricht davon, „die Bescheidung im Materiellen“ mit „der Vertiefung des Immateriellen“ zu kompensieren (S. 271). Ein Grüner hätte es nicht besser sagen können.
  • Mit Heidegger ist Höcke gegen „Technikgläubigkeit“ und tritt für die Bewahrung der Natur ein (S. 79). Grüner als grün geht nicht.
  • Und so, wie die Grünen ihre „große Transformation“ der Gesellschaft mit jener unbelehrbaren Rücksichtslosigkeit vorantreiben, die schon immer einer der schlechtesten Charakterzüge des deutschen Wesens war, und so, wie auch Angela Merkel ihre Migrationspolitik auf einem CDU-Parteitag am 14.12.2015 rücksichtslos mit den Worten vorantrieb: „Wie kann sie sagen, wir schaffen das? Und ich antworte Ihnen, ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“, so kokettiert auch Höcke mit diesem schlechten deutschen Charakterzug, „keine halben Sachen“ zu machen (S. 258; vgl. auch S. 215), statt die deutsche Kultur zu mehr Rationalität und Skepsis zu entwickeln: Denn das ist es, was jemand tun müsste, der Deutschland und die deutsche Kultur liebt.

Folgende Ratschläge können dem Leser dieser Rezension zur Überwindung der Irrtümer gegeben werden:

  • Rationalität und Klassik müssen den unbedingten Vorrang vor Romantik und Irrationalität haben. Romantik und Phantasie sind erlaubt und nützlich, aber nur, wenn sie von Rationalität eingehegt stattfinden.
  • Der heilsame Einfluss der griechisch-römischen Antike auf unsere Kultur, mithin der klassische Humanismus, ist vollauf anzuerkennen, noch vor dem Einfluss des Christentums oder irgendeiner anderen traditionellen Religion oder Philosophie.
  • Es muss belletristische Literatur gelesen werden! Nicht nur Philosophen und Politiker. Und wenn Philosophen, dann auch antike Autoren, nicht nur moderne.

Dann wird man wie von selbst auf die richtigen Schlüsse kommen:

  • Nationalismus, Rassismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalsozialismus: Alles nur Mist.
  • Antikapitalismus und Antiamerikanismus sind olle Kamellen von anno ’68, die abzulegen sind.
  • Die westlichen Werte sind wertvoll und universal und keinesfalls mit Multikulti und Wokismus zu verwechseln.
  • Deutschland wird am ehesten durch Preußen definiert. Weniger durch Sachsen oder Bayern. Und gar nicht durch Österreich. Österreich ist eine eigenständige Nation geworden, die nicht mehr zu Deutschland gehört. Genau wie die Schweiz auch.
  • usw. usf.

Großes Fazit

Kehren wir am Ende dieser Besprechung an den Anfang des Buches zurück, zur Kindheit Björn Höckes (S. 41 f.). Wir lesen, dass Björn Höcke „kein Bücherwurm“ war, „und wenn dann nur sehr unfreiwillig Stubenhocker.“ Er bevorzugte es, in einem Kleinkrieg von Kinderbanden den Bandenführer zu spielen. Er „verbrachte viele Stunden … im Kampf“ und als „Draufgänger“, und wurde von der Kindergärtnerin zur Strafe in die Ecke geschickt. Sie hatte „den Lausbuben“ aber doch ins Herz geschlossen. Wir lesen außerdem immer wieder, dass Björn Höcke „anarchische“ Züge hatte: Autoritäre Verhältnisse waren ihm immer zuwider (S. 47). Auch über seine Zeit bei der Bundeswehr sagt Höcke: „Der Kommiß mit seiner Hierarchie lag mir nicht sehr.“ (S. 52). Und auch an Nietzsche faszinierte den jungen Höcke, „wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 57) Auch bei Schopenhauer ging es Höcke vor allem um den Widerstand gegen Autoritäten und um Kritik am Establishment (S. 76).

Es scheint, als seien wir hier ganz nah am wahren Wesen von Höcke: Höcke war nie ein Bücherwurm, nie ein Mensch der Ordnung, sondern ein Tunichtgut, ein Lausbub, voller anarchischem Tatendrang. Dieses Wesen seiner Kindheit scheint sich Höcke bewahrt zu haben, nur dass er es jetzt polit-philosophisch zu legitimieren weiß. Heute beschwört Höcke eben Nietzsche und die Romantik, und mit Ordnung und Hergebrachtem weiß er auch heute nicht viel anzufangen.

Zum Schluss ein Fehler: Dem Buch ist ein Sinnspruch von Theoderich dem Großen vorangestellt: „Es gilt der Heimat, auch wenn wir nur zu spielen scheinen.“ Im Original lautet dieses Zitat wie folgt: „Sit ergo pro re publica et cum ludere videmur.“ (Cassiodor Variae I 45) Es geht im Original also gar nicht um „Heimat“, was sehr romantisch klingt, sondern um die „res publica“, also um das „Gemeinwesen“ bzw. den „Staat“, was sehr klassisch und preußisch gedacht ist. Wenn der Grundirrtum schon in der Widmung zum Vorschein kommt, ist Umdenken ernstlich angezeigt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

« Ältere Beiträge