Schlagwort: Thilo Sarrazin

Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (2018)

Sarrazins „Schwarze Legende“ des Islams stimmt so einfach nicht

Zum Islam gibt es eine „Schwarze Legende“. Sie besagt, dass der Gründer des Islam ein blutrünstiger Kriegsherr war, der rücksichtslos ganze jüdische Völkerschaften abschlachtete. Der Koran rufe zur Tötung der Ungläubigen u.a. schlimmen Dingen auf. Die ganze islamische Geschichte sei eine durchgängige Orgie von Gewalt, Sklaverei und Krieg. Dieser „Schwarzen Legende“ zufolge ist der Islam im Kern böse und nicht reformierbar, denn bereits der Gründer des Islam wäre ein böser Mensch gewesen, und die bösen Dinge stünden unmissverständlich im Koran. Und diese „Schwarze Legende“ macht sich nun auch Thilo Sarrazin zu eigen.

Koran und Mohammed

Sarrazins Koraninterpretation ist denkbar schwarzgemalt. Weniger, weil Sarrazin bewusst schwarz malt, sondern weil er einfach nicht gebildet genug ist, um die Untiefen der Koraninterpretation zu kennen.

Eine historisch-kritische Interpretation nennt Sarrazin zunächst grundsätzlich sinnvoll (S. 24), aber dann wird deutlich, dass das wohl nur eine vorgeschobene Schutzbehauptung gegen Kritiker ist. Denn in Wahrheit hält Sarrazin eine historisch-kritische Deutung für eine FALSCHE Deutung, denn er unterstellt ihr, die Botschaft des Koran in ihr „Gegenteil“ zu verdrehen (S. 205). Wer so denkt, hat die historisch-kritische Methode nicht verstanden! Die Traditionalisten sind es, die die Botschaft im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil verdreht haben! Die historisch-kritische Methode will das Original hinter den Verdrehungen zurückgewinnen.

Die historisch-kritische Methode lehrt uns, dass die Anfänge des Islam anders waren, als es sich die Traditionalisten vorstellen. Der Koran sagt über Mohammed praktisch nichts und enthält viele zusammenhanglos dastehende Sätze, die sehr leicht so oder so interpretierbar sind. Die Prophetenbiographie von Mohammed, in der die eigentlich schlimmen Dinge stehen, wurde jedoch erst 150-200 Jahre nach Mohammed geschrieben und ist in vielen Punkten nachweislich falsch. Davon weiß Sarrazin aber nichts!!! (S. 46 f.). Insbesondere die Judenschlächtereien haben so niemals stattgefunden, sondern sind eine spätere Konstruktion, um die Juden aus der Umma herauszudrängen, zu der sie zu Mohammeds Zeit dazu gehörten. Und anders als der Koran gilt die Prophetenbiographie nicht als von Gott geoffenbart, was ihre Kritik sehr erleichtert. Der Islam kann genauso wie das Christentum mithilfe der historisch-kritischen Methode reformiert werden.

Sarrazin wendet außerdem ein, dass im Zeitalter der Massenmedien nur noch die wörtlichen Interpretationen von Texten gelten würden, nicht mehr die Interpretationen von (Reform-)Gelehrten (S. 56). Und dann sähe es für den Koran schlecht aus. Was für ein Unfug! Die verbreitete Wahrnehmung von Texten wie z.B. Verfassung, Koran oder Bibel (oder Sarrazins Bücher!) wird durch Schule und Medien bestimmt, nicht durch Eigenlektüre Einzelner. Wenn Sarrazin Recht hätte, wie erklärt er dann, dass Christinnen im Zeitalter der Massenmedien nicht mit Kopftuch rumlaufen und sich dem Manne untertan machen? So steht es nämlich im Neuen Testament, wenn man es nur wörtlich liest.

Geschichte des Islam

Im Goldenen Zeitalter des Islam rezipierte die islamische Welt die antiken Denker und schlug einen rationalistischen Weg ein. Zur gleichen Zeit ging es in der christlichen Welt ziemlich barbarisch und ungebildet zu. Später tauschten islamische und christliche Welt die Rollen. Auch die christliche Welt wurde erst modern, als sie die antiken Denker rezipierte, und auch für die christliche Welt gibt es keine Garantie, dass die Moderne von Dauer ist. Es ist falsch zu glauben, dass das Christentum immer top, und der Islam immer flop waren. Diese Dinge sind veränderbar!

Die Reformen des Islam haben bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Aber Sarrazin weiß davon nichts!!! Die Namen Dschamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abduh kommen in seinem Buch nicht vor. Viele islamische Länder waren mittlerweile z.B. sozialistische Länder. In Persien griff der Schah auf die vorislamische Tradition zurück. Heute zeigt man Fotos, wie man in den 1960er Jahren in vielen islamischen Ländern in westlicher Kleidung ohne Kopftuch herumlief. Der Wandel zum Kopftuch geschah nicht vor 1400 Jahren, sondern erst in den letzten Jahrzehnten, und so schnell dieser Wandel gekommen ist, so schnell könnte er auch wieder umgedreht werden, denn die ungebrochene Verwurzelung seit 1400 Jahren gibt es schlicht nicht.

Es ist einfach falsch, dass der Islam ein unveränderlicher, seit 1400 Jahren gleich gebliebener Monolith wäre. Die Anfänge waren anders. Das Goldene Zeitalter war anders. Die 1960er Jahren waren für uns alle erfahrbar anders. Es ist offensichtlich, dass es mit dem Islam auch anders geht.

Um 1900 sprach man vom Katholizismus genauso wie Sarrazin jetzt vom Islam. Der katholische Glaube sei rückständig, behindere den Fortschritt, und sei nicht reformierbar. Die ganze Kirchengeschichte sei eine einzige Orgie von Gewalt gewesen: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Inquisition. Heute würde kein Mensch mehr so von der katholischen Kirche reden, sofern er bei Trost ist. Allerdings gilt: Ohne Reformen geht es nicht.

Reformpotential des Islam

Wie viele radikale Islamkritiker wartet Sarrazin passiv darauf, dass die Islamreformen sich quasi „von selbst“ vollziehen. Wenn dann nichts passiert, fühlt er sich bestätigt. Außerdem verweist Sarrazin darauf, dass Islamreformer unter Polizeischutz stehen, oder nach dem westlichen Staat als Helfer rufen (S. 207). Daraus schließt Sarrazin, dass Reformen derzeit Wunschdenken sind.

Zunächst ist es ganz falsch, dass von Reformern nicht viel zu sehen wäre. Man muss es aber auch sehen wollen, denn westliche Medien berichten davon nicht auf Seite 1. Immer mehr und mehr Politiker, Religionsgelehrte und Intellektuelle tauchen auf, die etwas bewegen wollen. Reformen werden im arabischen Fernsehen offen debattiert. In Marokko wurde sogar das Gebot zur Tötung von Apostaten historisch-kritisch hinterfragt und vom Rat der Religionsgelehrten (also von Theologen mit einer theologischen Argumentation!) für irrig erklärt. Es tut sich sehr wohl etwas.

Auch Martin Luther überlebte nur, weil er unter „Polizeischutz“ stand. Gewirkt haben seine Reformen trotzdem. Weil der Staat ihm half.

Überhaupt ist es eine Illusion zu glauben, religiöse Reformen würden sich praktisch „von selbst“ vollziehen. Das war noch nie so. Erst recht nicht bei jenen Islamverbänden, die vom Ausland her bei uns gerade zu dem Zweck gegründet worden sind, um Reformen und Integration zu verhindern! Schon immer hat die Politik Einfluss auf die Religion genommen, schon immer war es eine Frage von Macht und Geld. Es ist also völlig plausibel und richtig, davon auszugehen, dass die westliche Welt einen ganz erheblichen Beitrag zu Reformen leisten kann, indem sie Reformer aktiv fördert und Traditionalisten aktiv deckelt. Auf ihrem eigenen Territorium kann die westliche Welt das mit Leichtigkeit und mit gutem Recht, denn der islamische Traditionalismus ist schlicht verfassungsfeindlich. Aber auch in Nahost: Angefangen von Wirtschaftsbeziehungen, über Geheimdienstaktionen bis hin zu militärischem Druck.

Es ist eine politische Grundsatzfrage, ob wir als westliche Welt diese Reformen anschieben helfen wollen oder nicht. Es ist in etwa so wie damals, als die ersten Demokratien in Europa den Bürgern in anderen europäischen Staaten halfen, ebenfalls zur Demokratie zu gelangen. Selbstverständlich sollten wir das tun, es ist in unserem eigenen vitalen politischen Interesse!

Die Maßnahmen Sarrazins

Bei praktischen Maßnahmen ist Sarrazin wie immer zurückhaltender, als die Analyse vermuten lässt. Hier findet sich auch viel richtiges. Neben bekannten Punkten, wie einer Reform der Sozialsysteme, einer klugen Zuwanderungspolitik, oder einer stärkeren Betonung der Integration in die deutsche Gesellschaft (Sarrazin muss natürlich von „Assimilation“ sprechen), findet sich vor allem auch das hier:

Sarrazin möchte die verbliebenen Staatskirchenprivilegien der christlichen Kirchen abschaffen! Weil sie sich überlebt haben. Das ist im Grundsatz richtig. Damit werden dem Islam automatisch die Schaffung ähnlicher Strukturen verweigert. Insbesondere möchte Sarrazin den konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen abschaffen, und für alle Kinder eine Religionskunde einführen, in der ein liberales Islambild gezeichnet wird (wie passt das mit seiner Analyse des Islam zusammen?). Islamtheologische Lehrstühle an den Universitäten findet Sarrazin im Grundsatz richtig, wenn sie nicht traditionalistisch besetzt sind.

Fazit

Sarrazin gehört jetzt auch zu denen, die die „Schwarze Legende“ des Islam verkünden. Diese besteht vor allem in der Idee, dass es für das Islam-Problem KEINE Lösung gäbe, weil religiöse Reformen nicht möglich wären.

Damit liegt Sarrazin erstens sachlich falsch, und zweitens führt der Ausschluss einer Lösung des Islam-Problems zwangsläufig zu einem ungerechten Pauschalurteil über den Islam. Und das ist für eine Integration der Muslime äußerst schädlich: Sarrazin treibt potentiell liberale Muslime in die Arme der Traditionalisten!

In vielen Einzelfragen und vorgeschlagenen Maßnahmen hat Sarrazin zwar Recht, aber er verdirbt auch die guten Gedanken in seinem Buch durch die alles überwölbende Schwarzmalerei.

Alternative Buchempfehlungen

  • Tom Holland: Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs. (Was wirklich am Anfang des Islam geschah.)
  • Prof. Hans Jansen: Mohammed, eine Biographie. (Jansen geht so weit, die Existenz von Mohammed infrage zu stellen. Davon abgesehen aber ein sehr lehrreiches Buch.)
  • Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum.
  • Ahmad Mansour: Generation Allah, und: Klartext zur Integration.
  • Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion.
  • Wikipedia: „Liberale Bewegungen im Islam“.

Warnung an Sarrazin-Gegner

Man löst die Probleme nicht, indem man die Schwarzmalerei von Sarrazin ablehnt. Der Kuschelkurs gegenüber dem Islam kann nicht fortgesetzt werden. Gerade die falsche Toleranz ist es, die zu dem worst case Scenario im Sinne Sarrazins führt. Das darf nicht geschehen!

Es müssen jetzt Zuckerbrot und Peitsche ausgepackt werden, damit der Islam in Europa eine ähnliche Reformentwicklung nimmt wie das Christentum. Reformer müssen massiv gefördert, Traditionalisten müssen effektiv gedeckelt werden. Und für die islamische Welt muss auf allen Ebenen (Wirtschaft, Kulturaustausch, Diplomatie, Enwicklungshilfe, Geheimdienste, Militärischer Druck) intensiv daran gearbeitet werden, dass sich Reformkräfte durchsetzen.

Kurioses

Sarrazin interpretiert den Koran recht schwarz und lehnt eine historisch-kritische Lesart ab, aber in einer Frage ist er völlig auf der Spur der historisch-kritischen Interpretation: Vom Kopftuch stehe nichts im Koran, meint Sarrazin! (S. 44) Recht hat er.

Selbstwiderspruch: Auf S. 28 meint Sarrazin, der Islam sei keine komplizierte Religion und verlange nicht viel vom Gläubigen. Auf S. 47 wird der Islam als kompliziertes System von Regeln für jede Tätigkeit beschrieben, die sich aus den Hadith ableiten. Dieser Widerspruch steckt bereits im islamischen Traditionalismus drin, und Sarrazin hat ihn wohl einfach übernommen, ohne zu merken, dass dieser Selbstwiderspruch geradezu nach einer religiösen Reform schreit.

In Sarrazins allererstem Buch „Deutschland schafft sich ab“ stand auf S. 268 f. ein ziemlich kluger Satz, dessen Weisheit Sarrazin leider verlassen hat:

„Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert … Der innerislamische Krieg zwischen Okzidentalismus und Antiokzidentalismus ist noch in vollem Gange, sein Ausgang ungewiss.“

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. September 2018)

Thilo Sarrazin: Wunschdenken – Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert (2016)

Handbuch für kommende Politiker – lesenswerte Zusammenstellung

In diesem Buch abstrahiert Sarrazin völlig von den aktuellen Problemen und erklärt, was gute Politik ausmacht, und wie der Politikbetrieb funktioniert. Die aktuellen Probleme kommen zwar vor, werden aber als Fallbeispiele für schlechte Politik besprochen. Damit hat Sarrazin eine Art Handbuch für künftige Politiker geschrieben, aber auch eine Grundlage des Verstehens für Wähler gelegt, warum Politik so läuft wie sie läuft. Es gibt nicht die große Verschwörung, sondern es gibt viel Dummheit und Machtgerangel.

Sarrazin erklärt einmal mehr, wie gute Politik aussehen sollte, und warum die aktuelle Politik falsch ist, denn sie beruht auf Wunschdenken, das die Realität ausblendet. Der gute Politiker sollte eine langfristige Perspektive haben, auch eine Rückbindung an Philosophie, hier z.B. Karl Popper. Kurzfristig wird er jedoch wenig erreichen, und seine Themen nur durchsetzen, wenn der Moment günstig ist. Nicht das bessere Argument, sondern Machtkonstellationen entscheiden häufig darüber, welche politische Meinung sich durchsetzt.

Für erfahrene Vielleser ist das Buch ein wenig hausbacken und wiederholt vieles, was man auch woanders her schon kennt. Doch es ist eine schöne Zusammenstellung von Überlegungen, die – wie gesagt – fast schon Handbuchcharakter haben.

Was fehlt ist eine Besprechung der konkreten Mode-Ideologien, die den Zeitgeist früher und heute beherrschen, sagen wir angefangen mit den 1950er Jahren.

Außerdem ist Sarrazin gegenüber militärischen Interventionen in Nahost zu skeptisch. Sicher wurde dabei auch schon viel falsch gemacht, aber gar nicht zu intervenieren könnte auch falsch sein. Obama hat den Nahen Osten jedenfalls nicht friedlicher gemacht, indem er in Ägypten den Muslimbruder-Präsidenten stützte, in Syrien mitzündelte, in Libyen Gaddafi wegbombardierte, ohne einen Plan für das Danach zu haben, und natürlich auch die Truppen aus dem Irak kopflos abzog, um die Bahn für den IS freizumachen, der dann aus Syrien in den Irak einfiel. George W. Bush hingegen hat den Irakkrieg vor Ort durchgefochten, bis der Terror besiegt war, und ist darüber hinaus dort geblieben, und bis heute stellen die irakischen Kurden und die irakische Regierung zwei (den Umständen entsprechend) demokratische Stabilitätsfaktoren in der Region dar, die sich George W. Bush verdanken, und die heute den Kampf gegen den IS führen. Man muss eine Intervention eben ganz oder gar nicht machen, könnte man sagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland (2014)

Zeitgeist gut aufgespießt – aber kein Tiefgang und keine Lösungen

Thilo Sarrazin beschreibt in seinem dritten Buch „Tugendterror“, welche Irrtümer unseren Zeitgeist beherrschen, und dass ihr Kern ein Gleichheitswahn ist. Zudem beschreibt er die sozialen und psychologischen Mechanismen, wie es dazu kommen kann, dass sich eine Meinung in einer an sich freien Gesellschaft so etabliert, dass Widerspruch nicht mehr geduldet wird.

Hauptkritikpunkt 1: Thilo Sarrazin bleibt zu sehr an der Oberfläche

Thilo Sarrazin beschreibt zwar die Mechanismen, wie sich Irrtümer und Ideologien in einer an sich freien Gesellschaft zu herrschenden Meinungen entwickeln können, aber Thilo Sarrazin sagt fast nichts dazu, dass diese Meinungsausbreitung auch von diversen Akteuren gewollt und gesteuert sein könnte. Natürlich nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, dass es „eine geheime Zentrale“ gäbe, sondern im Sinne eines kritischen Realismus, dass es eben eine ganze Reihe von gar nicht so geheimen „Zentralen“ gibt, die an einer bestimmen Meinungsbildung interessiert sind.

Das fängt mit den Medien und deren Struktur an. Zur Organisation der öffentlich-rechtlichen Medien und den Besitzverhältnissen bei privaten Medien (Springer, Bertelsmann, DuMont, SPD, Linke, Kirchen, früher auch Leo Kirch) sagt Thilo Sarrazin nichts. Ebenso sagt er wenig zur Durchdringung der Gesellschaft mit Parteifunktionären auch in unpolitischen Bereichen. Die Sozialindustrie von Gewerkschaften bis Kirchen wäre auch zu nennen, ebenso die Industrie. Wir wissen z.B. auch durch offengelegte Dokumente der DDR-Stasi, dass die Geheimdienste dieser Welt durchaus auf die öffentliche Meinung in offenen Gesellschaften Einfluss nehmen.

Schließlich spielen geschichtliche Entwicklungen wie z.B. der verlorene zweite Weltkrieg, die Neuordnung durch die Besatzungsmächte, der Kalte Krieg, und noch tiefer reichende Entwicklungen eine Rolle, z.B. waren schon die Nationalsozialisten recht „grün“, hier gibt es also Kontinuitäten.

Hauptkritikpunkt 2: Thilo Sarrazin nennt keine Lösungsvorschläge

Man vermisst Lösungsvorschläge, wie die Medien (öffentlich-rechtlich und privat) gesetzlich organisiert sein sollten, damit die Manipulateure dieser Welt es schwerer haben. – Und man vermisst ein Kapitel mit Ratschlägen, wie man sich angesichts der allgemeinen Manipulation als normaler Bürger eine tragfähige Meinung bilden kann. Dazu gehört sicher eine gute Allgemeinbildung, die Erarbeitung von Themen anhand von Büchern statt nur aus Zeitungen und Fernsehen, und das regelmäßige Querlesen von politisch gegensätzlich orientierte Medien bzw. Autoren. Aber dazu sagt Sarrazin nichts. Bei Lösungsvorschlägen war Sarrazin schon immer etwas schwächer als bei der Analyse, aber in diesem Buch fehlen Lösungsvorschläge praktisch ganz.

Sonstiges

Thilo Sarrazin hat in diesem Buch etwas mehr Ironie gezeigt als in den vorangegangenen Büchern, wo er sich nur wenige trockene Kommentare erlaubte. Das ist teilweise sehr vergnüglich! Dafür erfährt man in diesem Buch im Gegensatz zu seinen früheren Büchern leider wenig neues, wenn man sich mit dem Thema schon länger auseinandersetzt.

Im Abschnitt zum Islam fiel auf, dass Sarrazin Reformbemühungen von Muslimen mit keinem Wort erwähnt. In seinem ersten Buch hatte er das noch getan, was sehr fair war (S. 268). Natürlich hat Sarrazin Recht, dass der islamische Mainstream auf dem falschen Weg ist, aber um Pauschalurteile zu vermeiden und das Spektrum von Lösungsansätzen möglichst breit aufzufächern, hätten Reformbemühungen eine erneute Erwähnung verdient gehabt.

Fazit

Gute, brauchbare, nützliche Lektüre, aber zu oberflächlich, und praktisch keine Lösungsvorschläge. Im Vergleich zur Qualität der beiden vorangegangenen Bücher ein spürbarer Abfall.

PS 12.05.2024

In diesem Buch klärt Thilo Sarrazin auch eine üble Nachrede auf, die heute weit verbreitet ist. Es kursiert ein Video, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten zieht (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat.

Diese angebliche Aussage passt auch gar nicht zu den tatsächlichen Aussagen in Sarrazins erstem Buch Deutschland schafft sich ab: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe. Dieses Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen) kommentiert Thilo Sarrazin nun wie folgt:

„Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Bewertung: 4 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2014)

Thilo Sarrazin: Europa braucht den Euro nicht – Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat (2012)

Sachlich brilliant – linker Zeitgeist als tiefere Ursache

Wie immer schildert Sarrazin ganz sachlich die Zusammenhänge, wie man sie selten so geduldig und ausführlich erklärt bekommt. Man erfährt auch manches, was man selbst als aufmerksamer Zeitungsleser noch nicht wusste: Dass z.B. hohe Staatsschulden kein Problem sind, wenn der Staat bei seinen eigenen Bürgern verschuldet ist, aber dafür niedrige Steuern hat, wie z.B. Japan; aber das ist ein Randthema. Sehr gut auch die Erkenntnis von Sarrazin, dass ein Goldstandard in der Währung nichts nützt, wenn auch hier die Regeln nicht eingehalten werden (Bretton Woods). Das entscheidende sind gute Regeln und wirksame Mechanismen, die deren Einhaltung tatsächlich garantieren bzw. Übertretungen konsequent abstrafen. Dabei ist es egal, ob Goldstandard oder „Papierwährung“. Die DM war auch eine „Papierwährung“ und hatte wunderbar funktioniert.

Auf dieser sicheren Sachgrundlage führt Sarrazin dann eine klar nachvollziehbare Argumentation, warum man einen Schuldner nicht aus seiner Schuldenkultur herausholen kann, indem man ihm immer mehr Geld zusteckt; hier ist „moral hazard“ das Schlüsselwort, mit vielen Beispielen aus der Vergangenheit, wo dies ebenfalls scheiterte. Politik handelt nun einmal unter dem Druck verschiedener Interessen, und wenn man den Druck zu Reformen lockert, finden sie eben nicht statt. Sarrazin erklärt weiter, warum vertragliche Zusagen das Papier der Verträge nicht wert sind, auf dem sie gedruckt stehen, wenn kein wirksamer Mechanismus zur Durchsetzung dahinter steht; warum die Geldempfänger ihre Geldgeber keineswegs lieben, sondern im Gegenteil zu hassen und zu verachten beginnen; warum also der ganze Euro-„Rettungs“- Wahnsinn ein Wahnsinn ist, der ins Unglück führt, statt ins Paradies eines vereinten Europa.

Der einzig richtige Weg ist der argentinische Weg: Griechenland muss Bankrott erklären, aus dem Euro raus, abwerten, und dann wird es nach einer kurzen Phase der Turbulenzen wieder auf Kurs sein. Statt diesen ehrlichen, realistischen, gerechten und marktwirtschaftlichen Weg zu gehen, der keinesfalls die ganz große Katastrophe sondern vielmehr die handhabbare „kleine“ Katastrophe wäre, geht Europa derzeit aus ideologischen Gründen (Europagläubigkeit, Sozialgläubigkeit) den Weg der Planwirtschaft und Entdemokratisierung, den Weg der Ausbeutung der Fleissigen und Erfolgreichen (Deutschland …) und der demütigenden Gängelung und Bevormundung der Verschuldeten, der immer tiefer in die Misere führt, statt aus ihr heraus.

Sehr richtig analysiert Sarrazin, dass Deutschland vom Euro kaum profitiert haben dürfte, und dass der Export-Anteil in die Euro-Länder sogar rückläufig war. In Ländern wie Griechenland wurde durch den Euro hingegen die an sich schon schwach entwickelte Industrie vollends ruiniert, weil der Euro für sie zu stark ist, eine Abwertung der nationalen Währung nun aber nicht mehr möglich war. Auch können diese Länder nun nicht mehr einfach ihr eigenes Geld drucken, um sich über eine Inflation aus der Affäre zu ziehen. Auch hat Sarrazin richtig beobachtet, dass das gegenseitige Kennenlernen in Europa ebenfalls rückläufig ist, und sich alles mehr und mehr an einer angelsächsischen Weltkultur orientiert, was ein interessanter Punkt jenseits aller Ökonomie ist.

Wer schon längst den Überblick über die Bankenkrise und die später folgende Eurokrise verloren hat: Bei Sarrazin wird das alles noch einmal chronologisch aufgedröselt und analysiert. Auch die Zeitpunkte, an denen die entscheidenden Fehler gemacht und Vertrags- bzw. Verfassungsbrüche begangen wurden, werden genannt. Teilweise war Sarrazin als Beamter selbst dabei und berichtet aus dem Nähkästchen, wie es wirklich war. So wurde die Einführung des Euro von Helmut Kohl gegen die Meinung seiner Beamten beschlossen, vermutlich, um Frankreich für die deutsche Einheit zu gewinnen. Gegen alle linke Propaganda kommt Sarrazin immer wieder zu demselben Schluss: Schuld an allem sind nicht die Banken oder „Spekulanten“ oder Konzernbosse oder diese oder jene Lobby oder wer auch immer, sondern im Kern muss die Ursache für alle diese Probleme im Politikversagen gesucht werden. Die Politiker sind schuld. Die politische Klasse und ihre Ideen.

Sarrazin geht in seiner Analyse aber noch tiefer: Er arbeitet auch die tieferen Gründe für das erschreckende Versagen der deutschen politischen Klasse heraus. Im Kern ist es eine fundamentale Kritik am linken Zeitgeist, der sich ab 1968 in Deutschland immer mehr durchsetzen konnte: Ein falsches Verständnis von Verantwortung in bezug auf die deutsche Vergangenheit, die Meinung, gerade als Deutscher müsste man immer eher geben und nachgeben statt andere zu kritisieren und klare, für alle heilsame Grenzen zu setzen. Sarrazin beobachtet eine erschreckende Ahnungslosigkeit und Naivität bezüglich ökonomischer Fragestellungen gepaart mit einer irrationalen Abneigung gegen den „Kapitalismus“, d.h. unsere erfolgreiche Marktwirtschaft, sowie eine sozialistische Verteilungsmentalität, die vergisst, dass Wohlstand erwirtschaftet werden muss, und wie das eigentlich funktioniert. Auch die verschiedenen Nationalcharaktere in Europa werden angesprochen, die von Multikulti-verliebten Politikern häufig ignoriert werden. Sie stehen einem zu engen Zusammengehen in Europa entgegen, weil man damit zusammen zwingen würde, was nicht zusammen gehört, auch und gerade ökonomisch nicht. In den Ländern des Südens ist Papier sehr viel geduldiger als im Norden. In der EZB ist die stabilitätsorientierte Tradition der deutschen Bundesbank vollkommen unter die Räder gekommen, dort herrscht jetzt der „Club Med“ mit Mehrheit. Namentlich wird als Vordenker der ideologischen Verblendung auch Jürgen Habermas kritisiert, womit Sarrazin ins Herz der herrschenden Zeitgeist-Klasse trifft. Es sind also die Politiker und ihre Vordenker schuld.

Gegen all das formuliert Sarrazin den Gegenentwurf eines Europas, der für Europa-Euphoriker sicher unerträglich „spießig“ klingt, in Wahrheit aber einfach nur realistisch und vernünftig ist. Die europäischen Staaten müssen dort kooperieren, wo es Sinn macht, aber ihre eigenen Wege gehen, wo es keinen Sinn macht. Insbesondere muss jeder Staat für sich allein wirtschaften, und darf nicht von anderen Staaten „gerettet“ werden, so wie es vertraglich einst vorgesehen war. Ein Euro-Austritt überschuldeter Länder darf kein Tabu sein. Nur in einem einzigen Punkt ist Sarrazin bereit, sich Europa auch „ideologisch“ etwas kosten zu lassen: Sarrazin warnt davor, dass Frankreich durch Deutschland gedemütigt wird, weil das deutsch-französische Verhältnis die unabdingbare Basis für ein kooperatives Europa ist, in dem Frieden herrscht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 1. Juli 2012.

Seyran Ates: Wahlheimat – Warum ich Deutschland lieben möchte (2013)

Seyran Ates verfälscht die geniale Idee „Transkulti“ und landet wieder bei „Multikulti“

In Ihrem 2007 erschienen Buch „Der Multikulti-Irrtum“ hatte Seyran Ates eine intellektuell wie menschlich anspruchsvolle Anklage gegen die deutschen Gutmenschen erhoben, dass die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft nicht funktionieren kann, und dass Multikulti sowohl für die Aufnahmegesellschaft als auch für die Zuwanderer in die Katastrophe führt. Dem hatte Seyran Ates mit der Idee der Transkulturalität eine intelligente Alternative gegenübergestellt. Dieses Konzept von „Transkulti“ verwässert, verzerrt und verfälscht Seyran Ates nun in ihrem 2013 erschienenen Buch „Wahlheimat“, so dass Seyran Ates am Ende wieder beim alten, dummen Multikulti anlangt. Doch der Reihe nach.

Was ist Transkulturalität?

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Seyran Ates ist umgekippt

Doch in beiden Kernpunkten schlägt Seyran Ates nun andere Töne an. Die geniale Idee der gleichzeitigen Beherrschung zweier Kulturen ist bei ihr jetzt wieder dem Gedanken der Mischung und des Nullsummenspiels gewichen: Der Zuwanderer pickt sich aus beiden Kulturen das heraus, was er möchte, was einer Aufteilung seiner Person nach dem Schema 50:50 entspricht, anstatt dass er beide Kulturen ganz beherrscht, also 100:100. Und Seyran Ates stellt alles ins Belieben des Zuwanderers: Die Priorität der Kultur der Aufnahmegesellschaft wird von ihr nicht mehr formuliert.

Damit ist Seyran Ates ganz heimlich still und leise wieder ganz ins Lager der alten, dummen Multikulti-Ideologen zurückgekehrt. Jetzt findet sie es in Ordnung, dass sich ganze Stadtviertel in „Klein-Istanbuls“ (ihre Wortwahl) verwandeln. Jetzt hat sie großes Verständnis für Mesut Özil, der als Nationalspieler (!) die Nationalhymne nicht singt. Sie nennt das Verhalten von Özil sogar „transkulturell“ – nichts könnte falscher sein, man kippt fast vom Stuhl, wenn man das liest! „Integration“ ist nun plötzlich ein Wort, das Seyran Ates ungern verwendet, denn Integration bedeutet „Einfügung“ in die Aufnahmegesellschaft, und genau das wolle sie nicht! Vielmehr wolle sie die „Inklusion“, also die Aufnahme, eines auch kulturell fremd gebliebenen Zuwanderers: Denn sie will jetzt nicht mehr, dass dem Zuwanderer für die Aufnahme das Erlernen der Aufnahmekultur abverlangt wird. Auch druckt sie in diesem Buch ein mehrseitiges Lied auf Türkisch ab – ohne Übersetzung! Multikultureller geht es nicht. Nach Meinung von Seyran Ates hätte sich die Aufnahmegesellschaft „ebenso“ (!) zu verändern wie der Zuwanderer, womit wir wieder beim Modell 50:50 angekommen sind. Dann drischt sie auch noch die hohle Politikerphrase von der „Willkommenkultur“, deren Fehlen die Aufnahme der Zuwanderer behindern würde. Die Kultur der Aufnahmegesellschaft hätte keinerlei Vorrecht vor irgendeiner zugewanderten Kultur, denn man könne nur die Verfassungwerte abverlangen. Man müsse akzeptieren, dass Zuwanderer ausschließlich deshalb zuwandern, weil es ihnen dann besser geht, und dass sie sich für die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht interessieren. Das alles ist nun wahrlich das Gegenteil von Transkulti, das ist das alte, dumme Multikulti in Reinform.

Seyran Ates ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Doch nur eine Seite, nachdem Seyran Ates Verständnis dafür gezeigt hat, das Özil als Nationalspieler (!) die Nationalhymne nicht singt, fordert sie, dass bei der Einbürgerung die Nationalhymne gesungen werden soll, um den Neubürgern zu zeigen, dass sie auch Pflichten haben – wie passt das denn zusammen?! Im Zusammenhang mit dem Bau der Kölner DiTiB-Moschee äußert Seyran Ates Verständnis für die Sorgen der Anwohner vor „Überfremdung“ (ihre Wortwahl!). Kopftücher an Schulen und Behörden will sie konsequent verbieten! Wenn es nicht wegen der Juden wäre, würde sie den Muslimen sogar die Beschneidung komplett verbieten wollen! Seyran Ates kritisiert, dass deutsche Journalisten so naiv waren, die ägyptischen Muslimbrüder für gemäßigt zu halten.

Die alte Grundidee geistert noch durch das Denken von Seyran Ates. So wettert sie z.B. gegen die von der „Integrationsindustrie“ (ihre Wortwahl) angebotenen Integrationskurse, die die Zuwanderer eben nicht in die Kultur der Aufnahmegesellschaft integrieren würden. Ist das nicht ein glatter Selbstwiderspruch zu dem, was sie an anderer Stelle des Buches sagte? Sie kritisiert, dass manche die Forderung nach Integration als Zumutung zurückweisen.

In der Mitte des Buches macht Seyran Ates explizit Werbung für ihre alte Idee von Transkulti, wie wenn sich ihre Meinung gar nicht geändert hätte! Sie kritisiert die Idee einer multikulturellen Gesellschaft an dieser Stelle des Buches explizit. An vielen anderen Stellen dieses Buches jedoch spricht Seyran Ates seelenruhig von der „multikulturellen“ Gesellschaft. Seyran Ates macht in diesem Buch den Eindruck einer gespaltenen Persönlichkeit: Dr. Jekyll und Mr. Hyde!

Seyran Ates ringt mit ihrer linken Identität!

Die tiefere Ursache für diesen fatalen Schlingerkurs muss darin gesehen werden, dass Seyran Ates zwar den Irrtum der Multikulti-Ideologie aus praktischen Erwägungen heraus klar durchschaut hatte, dass sie aber immer noch auf theoretischer Ebene einer radikalen linken Utopie von der Auflösung der nationalen und lokalen Identitäten anhängt. Diese Utopie hat in den Jahren seit der Veröffentlichung von „Der Multikulti-Irrtum“ offenbar ihre vernünftige und menschliche Seite verdrängt und die Oberhand gewonnen. Nur so kann man sich dieses widersprüchliche Buch erklären. Seyran Ates ringt gar nicht mit ihren verschiedenen kulturellen Identitäten (kurdisch-türkisch-deutsch), wie sie sich und anderen weismachen möchte, sondern sie ringt in diesem Buch vor unser aller Augen mit ihrer linken Identität und kommt damit nicht zu Rande! Und das ist – böse gesprochen – nur allzu deutsch.

Ihre linke Utopie vom Ende der Nation

Seyran Ates äußert sich in diesem Buch ausführlich zu ihrer Utopie vom Ende nationaler und lokaler Kulturen. Sie stellt sich vor, dass Kulturen nur noch an Menschen gebunden sind, nicht an örtlich vereinigten Menschengruppen, also z.B. Nationen. Dann könnte jeder Mensch von Ort zu Ort ziehen, und würde überall mit seiner Kultur aufgenommen, ohne dass er sich anpassen muss. Das ist natürlich eine grauenhafte und realitätsfremde Utopie, die voll und ganz den Ungeist von Multikulti atmet.

Nationen gäbe es ihrer Meinung nach erst seit dem sogenannten „Zeitalter der Nationalstaaten“, und das sei ja jetzt vorbei. Sie sieht nicht, dass örtlich verbundene Menschen immer eine Konvention brauchen, auf deren Grundlage sie sich verständigen und eine kollektive Identität herausbilden, aufgrund derer sie auch erst zu einem politischen Subjekt werden, das z.B. eine Demokratie bilden kann. Dazu gehört mehr als nur eine gemeinsame Sprache: Es gehört auch eine gemeinsame Kultur dazu. Seyran Ates selbst bringt das Beispiel von der deutschen Verabredung, bei der Pünktlichkeit erwartet wird. Wenn sich jeder nach seiner Facon an Verabredungen halten würde, kämen die Menschen niemals zusammen! Babylon funktioniert nicht, denn die Menschen verstehen einander dann nicht mehr, „nein, nicht mehr“, wie es in dem Lied „Die Legende von Babylon“ so treffend heißt.

Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, wo Demokratie und Rechtsstaat mit Füßen getreten werden, schwärmt Seyran Ates von dem hohen Niveau der Demokratie, das in der Europäischen Union verwirklicht sei! Dabei zeigt diese Krise überdeutlich, dass die Nationen und ihre Nationalkulturen noch höchst lebendig sind, und es niemandem nützt, wenn man so tut, als gäbe es sie nicht mehr. Europa kann über die Nationalstaaten hinauswachsen, überwinden kann es sie nicht. Und selbst wenn der Zusammenschluss zu einem europäischen Einheitsstaat gelingen würde, wie Seyran Ates hofft, dann würde dieses Europa nur eine neue Nation bilden, die z.B. gegen die USA Front macht – de facto geschieht dies bereits.

Wer die Konflikte der Nationalstaaten dadurch abschaffen will, dass er die Nationalstaaten abschafft, handelt wie einer, der das Geld abschaffen will, weil dann niemand mehr an Geldmangel leidet. Es ist eine dumme, linke Utopie.

Eine utopische Vorstellung von Verfassungspatriotismus

Seyran Ates träumt davon, dass die Klammer aller Menschen ein Verfassungspatriotismus sein könne, der sich ausschließlich auf die Menschenrechte der Verfassung gründet. Die Menschen könnten kulturell sein, wie sie wollen, denn da ja die richtige Verfassung gelte und sich alle daran halten, sei das ja dann kein Problem.

Hier unterliegt Seyran Ates jedoch einem schweren Denkfehler: Obwohl die Menschenrechte natürlich universal sind, sind sie dennoch Ausfluss bestimmter Kulturen, die einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben. Nicht jede Kultur hat die Menschenrechte hervorgebracht oder akzeptiert. Eine Verfassung ist immer der Ausfluss der nationalen Kultur! Eine gute Verfassung schreibt deshalb auch immer die nationale Kultur als zu pflegendes Gut fest – das deutsche Grundgesetz hat hier noch behebbare Defizite. Verfassungspatriotismus ist nur dann zu bejahen, wenn er sich des Zusammenhangs von Kultur und Verfassung bewusst ist.

Die USA werden von Seyran Ates gerne als Vorbild für Integration herangezogen. Dort kann man studieren, dass neben der Verfassung die Kultur der White Anglo-Saxon Protestants („Whasps“) entscheidend ist. Würden diese Whasps sehr schnell aus dem Staat verdrängt, ohne dass nachfolgende Zuwanderer sich in die Kultur der Whasps integrieren könnten, dann würden die USA auch ihre Verfassung verändern und verlieren, das steht fest. Ja mehr noch: Am Beispiel der USA kann man sogar studieren, dass nicht nur die Kultur zu einem Verfassungsstaat dazu gehört, sondern auch eine gewisse Art von weltanschaulicher Kompatibilität: Jede Religion und jede Weltanschauung, die sich integrieren möchte, muss gewissen Anforderungen der Aufklärung bzw. des Humanismus genügen. Christentum, Judentum und Islam können sich nur in ihren humanistischen Formen in die Gesellschaft der USA integrieren, und letztlich gilt das auch für alle anderen Weltanschauungen. Deshalb sind die Gebäude in Washington alle der griechisch-römischen Architektur nachempfunden: Das soll bedeuten, dass hier der Geist des klassischen Humanismus herrscht. Das gilt auch dann, wenn davon in der Verfassung der USA gar nichts geschrieben steht. Ja, es gibt eine Leitkultur in den USA.

Seyran Ates hat noch nicht verstanden, dass der Schlüsselsatz im Film „Agora“ lautet: „Seit wann gibt es so viele Christen in Alexandria? Wir müssen mit ihnen verhandeln!“ – Wenn sich die Kultur der Menschen eines Landes ändert, wird sich auch dessen Verfassung ändern. Dann wird die Verfassung gnadenlos zur Verhandlungsmasse. Denn eine Verfassung kommt nicht von Gott, sondern von den Menschen. Ein Verfassungspatriotismus, der nur die Worte der Verfassung ernst nimmt, aber nicht die Kultur, die dahinter steht, ist wertlos. Man denke nur an Weimar: War das nicht auch eine Demokratie – nur ohne Demokraten? Es hat nicht funktioniert.

Wenn Seyran Ates davon spricht, dass sie Deutschland liebe, meint sie in Wahrheit gar nicht Deutschland, sondern nur die Menschenrechte in der deutschen Verfassung. Irgendwelche positiven Eigenschaften der deutschen Kultur wie Ordnungsliebe, die deutsche Landschaft, die Vorzüge der deutschen Sprache, die deutsche Geschichte oder die deutsche Küche meint sie damit nicht. Da ist es dann schon sehr seltsam, wenn sie die Deutschen zu einem enspannten Verhältnis zu ihrer Nation aufruft: Wer das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Nation nach einer perversen linken Ideologie bestimmt, derzufolge Liebe zu Deutschland nicht Liebe zu Deutschland heißt, der ist ein blinder Blindenführer.

Maßlosigkeit und Mangel an Realismus

Maßlos ist Seyran Ates in der Verdammung derer, die an einem normalen, maßvollen Nationalbewusstsein festhalten wollen, das über Meme und nicht über Gene definiert wird. Sie nennt sie wiederholt „Blut- und Bodenpatrioten“, wie wenn es rassistische Extremisten wären, und macht keinen Unterschied zu echten Rassisten! Dass der richtige, vernünftige und menschliche Weg in einem maßvollen Festhalten an den Nationen bestehen könnte, ist für sie keine Option.

Seyran Ates kritisiert den Begriff „deutsche Kultur“ als unbestimmbar. Aber obwohl die deutsche Kultur historisch gewachsen und nicht homogen ist und sich auch weiter verändern wird, so kann man doch hinreichend klare Vorstellungen davon umreißen, was „deutsch“ ist. Sie selbst tut dies am Beispiel der deutschen Pünktlichkeit bei Verabredungen: Da diskutiert sie ja auch nicht, dass es manche Deutsche gibt, die dennoch unpünktlich sind, oder dass die Deutschen vielleicht eines Tages nicht mehr für Pünktlichkeit bekannt sein werden; nein: sie nimmt die Pünktlichkeit einfach so als deutsch hin: Es geht also!

Seyran Ates schafft es auch nicht, die Einsicht zu formulieren, dass sich eine Aufnahmekultur durch Zuwanderer zwar verändert, dass dies aber tunlichst nicht zu schnell und nicht zum Schlechten hin geschehen sollte. Und dass die Aufnahmekultur selbstverständlich das Recht hat, über sich selbst zu bestimmen, und maßvolle Grenzen zu setzen.

Seyran Ates bringt auch nicht die Einsicht über die Lippen, dass nur für die erste Generation der Zuwanderer die volle 100:100-Transkulturalität die beste Lösung ist, dass aber spätere Generationen diesen Spagat immer weniger pflegen werden:

  • Weil die Aufrechterhaltung von zwei Kulturen viel Aufwand macht.
  • Weil spätere Generationen die Herkunftskultur nur noch von ferne kennen.

Seyran Ates hätte auch formulieren müssen, dass der Spagat vorwiegend zugunsten der Kultur der Aufnahmegesellschaft aufgelöst werden wird – nur ein kleiner Teil der mitgebrachten Kultur fließt in die Gesamtkultur der Gesellschaft ein:

  • Weil spätere Generationen ganz in der Aufnahmegesellschaft aufgewachsen sind.
  • Weil man von einer Aufnahmegesellschaft nicht zu viel verlangen darf.

Damit verändert sich das Schema 100:100 (Herkunftskultur:Aufnahmekultur) schrittweise zur Formel 10:90. Am Ende hat der Nachkomme von Zuwanderern nur noch eine einzige Kultur, die sich zu großen Teilen aus der ursprünglichen Kultur der Aufnahmegesellschaft zusammensetzt, und zu einem kleineren Teil aus der ehemaligen Herkunftskultur. Alles andere ist eine Utopie und eine Zumutung sowohl für Zuwanderer als auch für die Aufnahmegesellschaft. Ohne ein gerüttelt Maß an Assimilation geht es für nachfolgende Generationen nicht. Und das muss man auch klar sagen.

Seyran Ates spricht offen an, dass andere nicht die bunte Vermischung der Kulturen, sondern die Herausbildung einer neuen Einheitskultur als Folge von Multikulti prophezeien, weil die Vermischung der Kulturen die einzelnen Kulturen nicht bestehen lassen wird. Seyran Ates gibt aber keinen überzeugenden Grund an, warum das nicht so geschehen sollte. Sie wünscht nur, dass es nicht geschieht. Auch hier hätte Seyran Ates klar sagen sollen, dass die einzelnen Kulturen Orte brauchen, wo sie zuhause sind und Herr im eigenen Hause sind, um nicht unterzugehen. Hat sie als Kurdin noch nie davon gehört, dass die Türkei gezielt Türken in Kurdistan ansiedelte, um die kurdische Kultur zu verdrängen? Findet sie das etwa gut?

An ganz anderer Stelle beklagt Seyran Ates, dass die Religion mit der Auflösung nationaler und lokaler Identitäten wieder erstarkt, weil diese als einzige Identifikation übrig bleibt: Sieh an! Sie selbst spricht aus, dass der Schuss nach hinten losgeht, allerdings an einer anderen Stelle ihres Buches, so dass der Selbstwiderspruch nicht auffällt.

Filigrane Gefühligkeit statt klare Regeln

Seyran Ates hat auch nicht verstanden, dass nicht alle Menschen ein derart filigranes Empfinden haben wie sie selbst, das tausendfach abwägt und sich zwischen Alternativen nur schwer entscheiden kann. Die Masse der Menschen braucht klare, einfache, verstehbare Regeln. Natürlich müssen diese Regeln auch gute, vernünftige, menschliche Regeln sein, eine Diktatur wäre nicht akzeptabel. Aber man kann die Menschen dieser Welt nicht individuell mit dem Millimeterstab organisieren, wie Seyran Ates sich das in ihrer filigranen Gefühligkeit denkt. Das ist dann wieder – böse gesprochen – ein allzu deutscher Gedanke von ihr.

Ein Beispiel ist die doppelte Staatsbürgerschaft: Gerade dann, wenn man die Staatsbürgerschaft ganz emotionslos als Club-Mitgliedschaft versteht, gerade auch dann muss doch ins Auge fallen, dass ein unhaltbares organisatorisches Chaos entsteht, wenn immer mehr Menschen mehrere Staatsbürgerschaften haben. Es entstehen so übrigens auch Privilegien, die die Gleichheit der Menschen untergräbt, und es fallen wichtige Anreize weg, sich zu integrieren. Auch die Demokratie gerät ins Rutschen, wenn das politische Subjekt, das Staatsvolk, zu zerfließen beginnt. Wer nach Deutschland nicht nur als Gastarbeiter kommen möchte, sondern für Generationen hier leben will, der muss seine Herkunftsstaatsbürgerschaft abgeben, egal wie schmerzlich es ist. Umgekehrt sollte übrigens auch eine deutsche Auswandererfamilie die deutsche Staatsbürgerschaft irgendwann einmal abgeben müssen, wenn sie für mehrere Generationen dauerhaft im Ausland lebt.

Ein anderes Beispiel ist Özil: Wer für die Nationalmannschaft spielt, muss die Nationalhymne singen. Punkt. Dass dies Schmerzen bereiten kann, mag sein, ist aber nur für’s Feuilleton interessant. Ein anderes Beispiel ist ihre Verständnissinnigkeit für Bürger der ehemaligen DDR, denen mit der DDR ihre alte Heimat abhanden kam. Das ist zwar wahr, aber es ist nicht das Werk von bösen Mächten (Helmut Kohl *lach*), sondern von kleineren Aspekten abgesehen der Lauf der Welt und der Preis der Freiheit. Und spätestens beim Stichwort „Preis der Freiheit“ sollte Seyran Ates erkennen, dass es Schmerzen gibt, die man nicht vermeiden kann.

Weitere linke Verwirrungen

Beim Thema Maßlosigkeit muss auch der Umgang von Seyran Ates mit der „Geschichte“ thematisiert werden: Seyran Ates hat den deutschen Schuldkult offenbar gefressen wie einen Besen, der nun wie ein preußischer Ladestock in ihr steckt, so dass sie überall stramm steht, wo es um Nation und „Geschichte“ geht. Sie meint allen Ernstes, die deutsche Linke hätte ihre Lektionen aus „der Geschichte“ gelernt: Jene deutsche Linke also, die die „Geschichte“ als Nazi-Keule gegenüber Humanisten und Demokraten einsetzt. Jene deutsche Linke, die sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen des Sozialismus so schwertut. Der Gipfel ist ihre Meinung zum Thema Beschneidung: Wenn es nur um Muslime ginge, würde Seyran Ates sie rigoros verbieten, aber da es ja auch um Juden geht, dürfe man das „wegen der Geschichte“ nicht. Unsinn! Man darf es wegen Toleranz und Humanismus nicht, aber doch nicht „wegen der Geschichte“! Wer Juden nur „wegen der Geschichte“ toleriert, der hat nun wahrlich nichts aus der Geschichte gelernt.

Unredlich wird Seyran Ates in Sachen Thilo Sarrazin. Diesen hält sie für „rassistisch“, weil er sagte, dass Muslime und Türken in Deutschland genetisch im Durchschnitt von einem niedrigeren Niveau aus in die Bildungskarriere starten als der Rest der Gesellschaft. Was Seyran Ates weglässt, ist das Wörtlein „im Durchschnitt“ und die Begründungen: Weil die Einwanderung aus türkischen und islamischen Ländern nun einmal eher aus der Unterschicht der Herkunftsländer erfolgte, und weil die hie und da gepflegte Tradition der Cousinen-Ehe die Nachkommen manchmal erblich belastet. Diese Feststellungen sind aber weder bösartig noch rassistisch, sondern einfach nur die blanke Wahrheit. Doch Seyran Ates dreht es rhetorisch so, dass der Eindruck entsteht, Sarrazin hätte „die“ Türken und „die“ Muslime gemeint, was in der Tat ein rassistisches Vorurteil wäre, oder Sarrazin hätte mit seiner Feststellung Bildungsaufstiege von Türken und Muslimen für unmöglich erklärt. Indem Seyran Ates in den Chor der Heuchler gegen Sarrazin mit einstimmt, verfehlt sie ihre Menschlichkeit vollkommen. Sie hätte sich vielmehr wie Necla Kelek hinter Sarrazin stellen müssen und auf diese Weise für eine wahrhaftige, vernunft- und lösungsorientierte Haltung zu den Problemen streiten müssen.

Von Franz Josef Strauß weiß Seyran Ates nur zu berichten, dass dieser leider oft angetrunken gewesen sei – wie niveaulos! Seyran Ates hätte sich lieber Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete, dass Franz Josef Strauß gerne lateinische Redewendungen einfließen ließ, und sich fragen, warum Schopenhauer den Satz formulierte: „Ohne Latein lebt man wie im Nebel“. Vielleicht ist das entscheidende Defizit von Seyran Ates einfach ihre mangelnde Kenntnis des klassischen Humanismus, ohne den die deutsche Kultur und überhaupt die Welt der Aufklärung nicht zu verstehen ist?

Die Toleranzidee bei Friedrich dem Großen deutet Seyran Ates nicht vor dem Hintergrund seiner Zeit. Vielmehr legt Seyran Ates an Friedrich den Großen direkt den Maßstab heutiger Werte an, und kommt so zu dem Schluss, dass er kein Vorbild sein könne. Wenn man bedenkt, dass Seyran Ates an anderer Stelle die richtige Einsicht formuliert, dass man Mohammed und den Koran nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit verstehen darf, ist dieses niveaulose, linke „Geschichtsbashing“ gegen Friedrich den Großen – denn mehr ist es nicht – einfach nur traurig. Friedrich der Große wird für alle Zeiten ein Meilenstein der Aufklärung für die deutsche Kultur sein, und das auch und gerade dann noch, wenn man bedenkt, dass er vorwiegend französisch sprach und lateinische Autoren zur Lektüre empfahl.

Religion

Die Ausführungen zum Thema Religion sind höchst enttäuschend. Vor jeder inhaltlichen Argumentation verstört die Widersprüchlichkeit von Seyran Ates: Da will sie das Kopftuch konsequent aus Schulen und Behörden verbannen, aber gleichzeitig sei es völlig in Ordnung, wenn Özil als Nationalspieler (!) vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Nationalhymne nicht singt (sondern Koranverse rezitiert, was Seyran Ates aber verschweigt). Es ist Seyran Ates nicht gelungen, einen Maßstab zu formulieren, der ihre Meinungen widerspruchsfrei begründen könnte. Auf der einen Seite Multikulti, auf der anderen Seite ein erstaunlich niveauloses Islam-Bashing, das passt so nicht zusammen.

Statt zu Kernfragen zu kommen hält sich Seyran Ates mit Oberflächlichkeiten auf: Zur DiTiB fällt ihr nur „Kopftuch“ und „islamische Feiertage“ ein. Aber das ist doch nicht das Entscheidende! Das Entscheidende ist die Haltung von DiTiB zu den Menschenrechten, zur Gleichberechtigung von Mann und Frau jenseits des Kopftuchs, sowie natürlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft, das zentral ist für die Frage, ob sich diese Form des Islams bei uns integrieren kann. Das erwähnt Seyran Ates aber genauso wenig, wie das Ziel der DiTiB, türkische Zuwanderer dauerhaft an die Herkunftsgesellschaft zu binden und eine gelungene Integration in die deutsche Kultur zu hintertreiben. Übrigens schreibt Seyran Ates Ditib konsequent falsch als „Ditip“.

Ebenso enttäuschend ist, dass Seyran Ates den Islam immer nur über die einzelnen Gläubigen definiert. In Wahrheit definiert sich Islam weltweit über das, was die jeweiligen Religionsgelehrten lehren. Die islamischen Hierarchien sind zwar sehr viel heterogener als im Christentum, aber es gibt sie, und wer den Islam modernisieren will, der muss auch dort ansetzen. Seyran Ates setzt aber nur beim einzelnen Gläubigen an. Das wäre so, wie wenn der linke Katholik Heinrich Böll in den 1950er Jahren gesagt hätte: „Wir brauchen ein Zweites Vatikanisches Konzil doch gar nicht, wir können auch jeder für sich modern sein.“ – Daran sieht man, wie abwegig Seyran Ates denkt.

Völlig enttäuschend ist, dass Seyran Ates die existierenden Reformbewegungen im Islam restlos ignoriert (z.B. Schule von Ankara, Khorchide, Abu Said, etc.). Seyran Ates scheint in der Vorstellung zu leben, man könne dem Islam die Menschenrechte vor den Latz knallen, und dieser hätte sie dann brav zu schlucken. Sehr deutlich wird das bei ihrer Besprechung der Kairoer Menschenrechtserklärung des Islam: Hier sieht man wieder, dass Seyran Ates von der Wirkmächtigkeit der Kultur hinter den Verfassungstexten keine Ahnung hat. Wer den Islam mit der Moderne versöhnen will, der muss anfangen, Theologie zu betreiben und die Kultur des Islam verändern! Der muss aus dem Islam selbst heraus die Einsichten und Argumente entwickeln, die zur Moderne führen. Nur was im Islam selbst drin steckt, kann glaubwürdig zur Entfaltung gebracht werden! Und ja: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es möglich ist, die Moderne auch in den Urgründen des Islam vorzufinden. Wer hingegen glaubt, eine Religion durch Unterwerfung und Beschneidung „reformieren“ zu können, der wird fatal scheitern.

Damit nähern wir uns dem Kern der Irrtümer von Seyran Ates bezüglich der Religion: An manchen Stellen hat man das Gefühl, dass Seyran Ates zu jenen schlichten Geistern gehört, die glauben, der Islam bräuchte gar keine Reform. Das ist immer dort sehr deutlich der Fall, wo sie schreibt, die Fundamentalisten aller Religionen seien das Problem. Damit übersieht sie völlig, dass das, was wir beim Christentum als Fundamentalismus von Randgruppen kennen, beim Islam leider noch die vorherrschende traditionelle Theologie ist! Man kann den Islam nur dann als eine Religion wie jede andere auch behandeln, wenn man auf den Reformbedarf hinweist. Man muss begreifen, um wieviel moderner der konservative Ratzinger-Katholizismus gegenüber dem traditionalistischen Mainstream-Islam ist, um zu begreifen, um was es überhaupt geht. Davon spricht Seyran Ates aber nicht, sondern nur von Verfassungen, die über der Religion stehen müssen, ohne dass sie an den kulturellen Unterbau denkt, den Verfassungen brauchen. Das würde auch erklären, warum Seyran Ates die Reformbewegungen im Islam konsequent ignoriert, und warum sie lieber am Kopftuch als an den echten Kernfragen (s.o.) interessiert ist: Wo es nichts zu reformieren gibt, braucht es auch keine Reform. Dieses Denken ist ein besonders übler Aspekt von Multikulti, weil er das zentrale Problem völlig ausblendet. Seyran Ates hat eine komplett falsche Analyse des Islam-Problems! Ohne eine Reform ist eine Integration des Islam gerade auch in den von ihr so beschworenen Verfassungsstaat nicht möglich!

Fazit

Seyran Ates verfälscht ihre eigene geniale Idee von Transkulti, und landet wieder beim alten, dummen Multikulti. Dabei verstrickt sie sich in unauflösliche Widersprüche. Der tiefere Grund dafür ist, dass zwei Seelen in der Brust von Seyran Ates schlagen: Einerseits Aufklärung, Vernunft und praktische Menschlichkeit, andererseits eine linke Ideologie mit höchst romantischen Vorstellungen von der Gestaltung der Welt.

An manchen Stellen hat man das Gefühl, Seyran Ates hätte das Buch „Deutschsein – eine Aufklärungsschrift“ von Zafer Senocak gelesen, ein Buch gegen die deutsche Kultur und gegen die Kultur der Aufklärung, denn ihre Irrtümer und Selbstwidersprüche stimmen mit den Irrtümern und Selbstwidersprüchen dieser „Aufklärungsschrift“ in vielen Punkten überein.

Hoffen und wünschen wir, dass Seyran Ates ihre inneren Konflikte lösen kann, und zurückkehrt auf die Seite von Aufklärung, Vernunft und Menschlichkeit! Gegen Utopien und Romantik, für kluge Visionen mit Bodenhaftung! Gegen Multikulti, für Transkulti! Gegen kulturelles Chaos und Werterelativismus, für eine humanistische Nationalkultur als Leitkultur, als Garantin von Weltoffenheit und demokratischer Vielfalt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Februar 2014)

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010)

Eine umsichtige und kundige Warnung vor der kommenden Gefahr

Sarrazins umstrittenes Buch ist keine Polemik gegen sozial Bedürftige, Ausländer oder Muslime; es ist auch nicht sozialdarwinistisch oder rassistisch; es ist vielmehr ein unglaublich kundig und umsichtig geschriebenes Buch, das differenziert argumentiert und niemanden ausgrenzt oder ignoriert. Aber das Erstaunlichste ist: Migranten sind, anders als die veröffentlichte Meinung es darstellt, überhaupt nicht das zentrale Thema dieses Buches!

Das zentrale Thema von Sarrazins Buch ist der deutsche Sozial- und Rechtsstaat, der völlig falsche Anreize für das Verhalten aller Menschen in Deutschland setzt, sei es ihre Gesunderhaltung, sei es ihre Familiengründung, sei es ihr Arbeitswillen, sei es ihre Rechtstreue, sei es ihre Integrationsbereitschaft oder ihre Neigung zu Aus- oder Einwanderung. Schuld an allen Missständen sind natürlich nicht „die Ausländer“ oder „die Muslime“, sondern die Gutmenschen, Deutschlandhasser und Multikulti-Fanatiker, die bekanntlich eher unter den „Urdeutschen“ zu suchen sind.

Die dramatisch geringen Geburtenzahlen gerade der intelligenteren Menschen sind das wichtigste Problem, das Sarrazin thematisiert. Denn es ist Stand der Wissenschaft, dass statistisch gesehen 50-80 Prozent der Intelligenz erblich sind. Da sich Sarrazin mit der ökonomischen Überlebensfähigkeit Deutschlands befasst, konzentriert er sich mit Recht auf eine rational-technisch verstandene Intelligenz. Wenn nämlich die intelligenten Menschen dramatisch weniger Kinder bekommen, die weniger intelligenten Menschen aber mehr Kinder bekommen, dann wird die durchschnittliche Intelligenz in Deutschland insgesamt dramatisch und rasch sinken.

Keine noch so große Bildungsanstrengung kann dies verhindern, da Bildung sich über Generationen nur langsam wieder aufbauen lässt (immer im Durchschnitt gedacht, in Einzelfällen kann es immer anders sein). Sarrazin verdeutlicht dies am Beispiel Berlin: Dort wird für Bildung sehr viel mehr Geld ausgegeben als anderswo, die Ergebnisse sind aber erstaunlich bescheiden.

Deshalb plädiert Sarrazin neben Anstrengungen im Bildungswesen dafür, die falschen Anreize unseres Sozialstaates umzudrehen, so dass Akademiker tendentiell mehr Kinder, Sozialhilfeempfänger aber tendentiell weniger Kinder bekommen, als dies zur Zeit der Fall ist. Böse Zungen haben dies als Eugenik im Sinne der Nationalsozialisten bezeichnet. Sarrazin wurde auch unterstellt, er habe sich an manchen Stellen nicht von rassistischen Verirrungen abgegrenzt – aber Sarrazin argumentiert so sachbezogen und präzise, dass diese Forderung Fehl am Platze ist. Es ist immer klar, dass Sarrazin auf dem Boden der Humanität steht.

Bis hierher hat Sarrazin noch kein Wort über Zuwanderung verloren. Das Thema Zuwanderung tritt zu den beschriebenen Problemen verschärfend hinzu. Denn der deutsche Sozial- und Rechtsstaat hat die Anreize für Zuwanderung leider so gesetzt, dass im Durchschnitt die eher weniger intelligenten Menschen nach Deutschland kommen. Eine solche objektiv wahre statistische Aussage über die durchschnittliche rational-technische Intelligenz als ein „Werturteil“ oder als ein „Pauschalurteil“ über Zuwanderer lesen zu wollen, verbietet sich von selbst. Wer glaubt, aus Liebe zu den Menschen die Liebe zur Wahrheit verraten zu dürfen, verrät die Liebe zu den Menschen gleich mit.

Da die Muslime (auch hier natürlich nur im Durchschnitt, der Einzelfall ist immer anders) die größten Integrationsprobleme bereiten und auch mit die höchsten Geburtenraten haben, befasst sich Sarrazin mit ihnen in mehreren Unterkapiteln. Allerdings stellt Sarrazin klar, dass die Integrationsprobleme der Muslime nicht genetisch begründet sein können, da Muslime den unterschiedlichsten Ethnien angehören. Er sieht vielmehr die Kultur des Islam als Hauptursache für die spezifischen Integrationsprobleme der Muslime. Natürlich werden liberale Muslime und traditionalistische Muslime bei Sarrazin nicht in einen Topf geworfen.

Sarrazin rechnet überzeugend vor, dass die „Urdeutschen“ schon erschreckend bald in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden [wodurch die kulturelle Tradition abreißen wird; 24.08.2023; das ist hier der Punkt, nicht „deutsche Gene“; 27.09.2023] und der Islam die Mehrheit übernimmt, wenn alles so weitergeht wie bisher. Sarrazin diskutiert auch die Unwahrscheinlichkeit einer Islamreform durch die Islamverbände. Zur Lösung des Problems schlägt Sarrazin vor, die Anreize und Anforderungen zur Integration beim Thema Islam deutlich anders zu akzentuieren, als es derzeit geschieht.

Alles in allem hat Sarrazin ein überzeugendes Werk vorgelegt, das auch sprachlich und stilistisch anspricht, und in dem sich Humanität vor allem auch durch unbedingte Liebe zur Wahrheit und präzise Sachlichkeit ausdrückt. Dabei hat Sarrazin nicht bei jeder einzelnen statistischen Aussage über Bevölkerungsgruppen dazu gesagt, dass sich Pauschalurteile und rassistische Lesarten von selbst verbieten; das wäre auch albern, denn dass Sarrazin fest auf dem Boden der Humanität steht, ist im Zusammenhang stets klar.

Es ist erschreckend, wie Sarrazin und sein Buch verleumdet werden. Allein um die Verleumdungen zu durchschauen lohnt sich die Lektüre. Manche Kritik an Sarrazin ist auch der Tatsache geschuldet, dass viele Menschen in Deutschland Berührungsängste und Verständnisprobleme im Umgang mit Statistik und Vererbungslehre zu haben scheinen, so dass ihre Vorwürfe an Sarrazin zwar ehrlich gemeint aber dennoch unsinnig sind. Für manche eher romantisch veranlagte Menschen, die die Weltwirklichkeit gerne verklärt sehen, mag auch die Rationalität der Analyse zynisch erscheinen; Zynismus wird man bei Sarrazin jedoch nicht finden, höchstens Sarkasmus. An manchen Stellen plaudert der langjährige Spitzenbeamte und Berliner Finanzsenator Sarrazin auch aus dem Nähkästchen der Macht; auch dies mag für manche Leser eine ungewohnte Ernüchterung sein.

Es ist erschreckend, was Sarrazin an bitteren Wahrheiten offenbart: Deutschland muss dramatisch umsteuern. Mit ein wenig Kosmetik hier und da wird es nicht mehr getan sein. Uns läuft die Zeit davon. Denn wir haben Deutschland nur von unseren Enkeln geborgt.

PS 24. August 2023

Die Zahl der Falschinformationen und Missverständnisse zu Thilo Sarrazin ist inzwischen schier übermächtig geworden, so dass sich ein öffentliches Fehlurteil gebildet hat. Deshalb noch einige zusätzliche Erklärungen und Verdeutlichungen.

Thilo Sarrazin referiert zum Thema Vererbung von Intelligenz nur den Stand der Wissenschaft, und der lautet seit eh und je, dass sich Intelligenz teilweise vererbt, teilweise aber auch Erziehung und Umwelt verdankt. Nicht mehr und nicht weniger. Bildungsanstrengungen lohnen sich also immer, weil ein Teil der Intelligenz erworben werden kann, doch der mögliche Bildungsaufstieg ist nicht grenzenlos, sondern durch den angeborenen Teil begrenzt. Thilo Sarrazin plädiert dafür, dass jeder die Bildung bekommt, die er zur Entfaltung seines Potentials braucht. Aber Thilo Sarrazin warnt zugleich davor, sich zu viel zu erwarten: Nicht jeder hat das Potential zum großen Bildungsaufstieg, auch wenn man noch so viel Geld in Bildung investiert.

Thilo Sarrazin strebt keine „Unterdrückung“ der Geburtenrate von weniger gebildeten Menschen an. Vielmehr beklagt er, dass die Anreize unserer Sozialsysteme zur Zeit so gesetzt sind, dass Gebildete einen Anreiz haben, weniger Kinder zu bekommen, Ungebildete aber einen Anreiz haben, mehr Kinder bekommen. Diese Fehlanreize will Sarrazin korrigieren. Es geht nicht darum, irgendjemandem das Kinderkriegen zu verbieten oder durch die Verweigerung von Sozialleistungen Negativanreize zu setzen. Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat.

Manche meinen, Sarrazin würde biologistisch denken, denn jeder könne durch Anstrengung einen Bildungsaufstieg erreichen. Wer so denkt, hat das Grundproblem nicht verstanden. Noch einmal: Die Aufstiegsmöglichkeiten sind durch die angeborenen Fähigkeiten begrenzt. Anstrengung lohnt sich immer, aber sie führt nicht grenzenlos nach oben, sondern stößt irgendwann an eine Decke, bei manchen früher, bei manchen später. Länger einheimische Familien haben in den Jahrzehnten der BRD die Chance zum Bildungsaufstieg meistens genutzt. Ihr Aufstiegspotential ist damit ausgereizt. Paradoxerweise sind Bildungsaufstiege deshalb eher bei manchen Migranten zu erwarten, so ungebildet sie bei ihrer Ankunft in Deutschland auch sind: Denn diese kommen oft aus Ländern, in denen Bildung nicht sonderlich gefördert wurde, so dass ihr Potential nicht genutzt wurde.

Es geht also nicht um Biologismus. Es geht nicht darum, aus biologischen Gegebenheiten Werturteile abzuleiten und auf dieser Grundlage diese oder jene Gruppe von Menschen zu diskriminieren. Thilo Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat: Jeder soll Kinder und Sozialleistungen und Bildung haben. Aber die Fehlanreize müssen aufhören. Denn es geht darum, wie Deutschland seinen wichtigsten Rohstoff erhält: Kluge Köpfe. Auch zum Wohle der weniger klugen Köpfe.

Es kursiert ein Video mit Thilo Sarrazin im Netz, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zieht zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat. Diese Aussage passt auch gar nicht zu den Aussagen in Sarrazins Buch: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe.

In seinem Buch „Tugendterror“ kommentiert Sarrazin das gefälschte Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen): „Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Verrückterweise glauben viele rechtsradikale Sarrazin-Fans die Unterstellungen, die ihm von linker Seite gemacht werden, so dass sich die Extreme in ihrem Fehlurteil über Sarrazin gegenseitig bestätigen. So benutzen Rechtsradikale z.B. den Vergleich von Pferdezucht und Mischehen und berufen sich dabei auf Sarrazin. Man liest auch immer wieder, Sarrazin hätte einen Zuwanderungsstop für Muslime gefordert: Doch in Wahrheit fordert Sarrazin immer wieder, auf die Qualifikation der Zuwanderer zu achten.

Gibt es an Sarrazin gar nichts zu kritisieren? Im Detail gewiss, aber erst mit seinem fünften Buch zum Thema Islam äußerte Thilo Sarrazin eine These, die eine deutlichere Kritik rechtfertigt: Sarrazin meinte, dass der Islam anders als das Christentum grundsätzlich zu keiner Modernisierung fähig wäre.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2010; am 24. August 2023 festgestellt, dass die Rezension nicht mehr bei Amazon vorhanden ist.)

Melanie Amann: Angst für Deutschland – Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert (2017)

Demokratie-blinde Analyse der (leider) rechtsradikal gewordenen AfD

Melanie Amann hat zwar Recht: Die AfD (von heute) ist eine rechtsradikale Partei. Aber man kann die AfD nicht korrekt analysieren, ohne gleichzeitig den bedenklichen Zustand der BRD-Demokratie zu analysieren.

Der Gründungsimpuls der AfD war keineswegs Sarrazin. Der Gründungsimpuls der AfD war der Bruch von Staatsverträgen, Verfassung und Gesetzen durch die Merkel-Regierung, in „alternativloser“ Komplizenschaft mit den anderen etablierten Parteien, um den Euro zu „retten“. Unsere Demokratie war durch die „alternativlose“ Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien in immer mehr Politikfeldern schon davor in einer Krise, aber durch den formalen Bruch der demokratischen Grundregeln hatte unsere Demokratie nun einen echten Hau abbekommen: Und genau das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, genau das war der Gründungsimpuls, der Bernd Lucke und andere völlig seriöse Menschen zusammenbrachte, um die AfD zu gründen. Als liberal-konservative Partei.

Erst im Laufe der Zeit ist die AfD immer rechter geworden, bis sie schließlich die Grenzen zum Rechtsradikalismus überschritten hat (meiner Meinung nach war das im Sommer 2016, und nicht schon mit dem Abgang von Lucke). Heute schafft es die AfD nicht mehr, sich glaubwürdig von Antisemitismus abzugrenzen. Björn Höcke hält Reden im unverhohlenen Hitler-Duktus.

Und was den Islam anbetrifft, so ist die AfD schon längst von den Weisheiten Sarrazins abgewichen, der in seinem berühmten Buch auf S. 268 den folgenden klugen Satz schrieb: „Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert“. — Anders als Sarrazin lehnt die AfD von heute den Islam pauschal und radikal ab, und hat die die Solidarität mit Islamreformern aus ihrem Programm herausgestrichen. [PS 30.07.2023: Zum Islam hat Björn Höckes AfD-Fraktion im Thüringer Landtag Mitte 2016 eine Schrift veröffentlicht, die eine antihumanistische Haltung zum Thema Islam formuliert. Der Islam sei inhärent traditionalistisch, denn die „säkularen“ Ideen von Vernunft und Aufklärung könnten auf den Islam angeblich nicht angewandt werden. In islamischen Ländern habe der Islam seinen guten Platz, nur nach Europa gehöre er nicht. Auf dieser ideologischen Grundlage kann die AfD mit islamischen Traditionalisten und Islamisten weltweit kooperieren, während sie Islamreformer grundsätzlich ablehnt und auch keinen liberalen Islam in Deutschland möchte.]

Die AfD ist heute also rechtsradikal und damit abgehakt.

Die fundamentalen Probleme der BRD-Demokratie sind damit aber noch lange nicht abgehakt. Unsere etablierten Parteien brechen immer noch Staatsverträge, Verfassung und Gesetze. Unsere etablierten Parteien vertreten in vielen Politikfeldern immer noch eine derart einheitliche Meinung, dass andersdenkende Bürger praktisch keine Wahl bei der Wahl haben. Wer darin keine ernsthaften, fundamentalen und über kurz oder lang auch gefährlichen Probleme sieht, darf sich nicht Demokrat nennen.

Melanie Amann hat das falsche Buch geschrieben. Hier geht es schon lange nicht mehr um die AfD. Hier geht es schlicht um das Überleben der Demokratie in unserem Land. Aber dazu hat Melanie Amann nichts zu bieten. Und ja: Ich habe Angst davor in einem Land zu leben, das keine Demokratie mehr ist. Echte, berechtigte Angst.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15.04.2017)