Sachlich brilliant – linker Zeitgeist als tiefere Ursache

Wie immer schildert Sarrazin ganz sachlich die Zusammenhänge, wie man sie selten so geduldig und ausführlich erklärt bekommt. Man erfährt auch manches, was man selbst als aufmerksamer Zeitungsleser noch nicht wusste: Dass z.B. hohe Staatsschulden kein Problem sind, wenn der Staat bei seinen eigenen Bürgern verschuldet ist, aber dafür niedrige Steuern hat, wie z.B. Japan; aber das ist ein Randthema. Sehr gut auch die Erkenntnis von Sarrazin, dass ein Goldstandard in der Währung nichts nützt, wenn auch hier die Regeln nicht eingehalten werden (Bretton Woods). Das entscheidende sind gute Regeln und wirksame Mechanismen, die deren Einhaltung tatsächlich garantieren bzw. Übertretungen konsequent abstrafen. Dabei ist es egal, ob Goldstandard oder „Papierwährung“. Die DM war auch eine „Papierwährung“ und hatte wunderbar funktioniert.

Auf dieser sicheren Sachgrundlage führt Sarrazin dann eine klar nachvollziehbare Argumentation, warum man einen Schuldner nicht aus seiner Schuldenkultur herausholen kann, indem man ihm immer mehr Geld zusteckt; hier ist „moral hazard“ das Schlüsselwort, mit vielen Beispielen aus der Vergangenheit, wo dies ebenfalls scheiterte. Politik handelt nun einmal unter dem Druck verschiedener Interessen, und wenn man den Druck zu Reformen lockert, finden sie eben nicht statt. Sarrazin erklärt weiter, warum vertragliche Zusagen das Papier der Verträge nicht wert sind, auf dem sie gedruckt stehen, wenn kein wirksamer Mechanismus zur Durchsetzung dahinter steht; warum die Geldempfänger ihre Geldgeber keineswegs lieben, sondern im Gegenteil zu hassen und zu verachten beginnen; warum also der ganze Euro-„Rettungs“- Wahnsinn ein Wahnsinn ist, der ins Unglück führt, statt ins Paradies eines vereinten Europa.

Der einzig richtige Weg ist der argentinische Weg: Griechenland muss Bankrott erklären, aus dem Euro raus, abwerten, und dann wird es nach einer kurzen Phase der Turbulenzen wieder auf Kurs sein. Statt diesen ehrlichen, realistischen, gerechten und marktwirtschaftlichen Weg zu gehen, der keinesfalls die ganz große Katastrophe sondern vielmehr die handhabbare „kleine“ Katastrophe wäre, geht Europa derzeit aus ideologischen Gründen (Europagläubigkeit, Sozialgläubigkeit) den Weg der Planwirtschaft und Entdemokratisierung, den Weg der Ausbeutung der Fleissigen und Erfolgreichen (Deutschland …) und der demütigenden Gängelung und Bevormundung der Verschuldeten, der immer tiefer in die Misere führt, statt aus ihr heraus.

Sehr richtig analysiert Sarrazin, dass Deutschland vom Euro kaum profitiert haben dürfte, und dass der Export-Anteil in die Euro-Länder sogar rückläufig war. In Ländern wie Griechenland wurde durch den Euro hingegen die an sich schon schwach entwickelte Industrie vollends ruiniert, weil der Euro für sie zu stark ist, eine Abwertung der nationalen Währung nun aber nicht mehr möglich war. Auch können diese Länder nun nicht mehr einfach ihr eigenes Geld drucken, um sich über eine Inflation aus der Affäre zu ziehen. Auch hat Sarrazin richtig beobachtet, dass das gegenseitige Kennenlernen in Europa ebenfalls rückläufig ist, und sich alles mehr und mehr an einer angelsächsischen Weltkultur orientiert, was ein interessanter Punkt jenseits aller Ökonomie ist.

Wer schon längst den Überblick über die Bankenkrise und die später folgende Eurokrise verloren hat: Bei Sarrazin wird das alles noch einmal chronologisch aufgedröselt und analysiert. Auch die Zeitpunkte, an denen die entscheidenden Fehler gemacht und Vertrags- bzw. Verfassungsbrüche begangen wurden, werden genannt. Teilweise war Sarrazin als Beamter selbst dabei und berichtet aus dem Nähkästchen, wie es wirklich war. So wurde die Einführung des Euro von Helmut Kohl gegen die Meinung seiner Beamten beschlossen, vermutlich, um Frankreich für die deutsche Einheit zu gewinnen. Gegen alle linke Propaganda kommt Sarrazin immer wieder zu demselben Schluss: Schuld an allem sind nicht die Banken oder „Spekulanten“ oder Konzernbosse oder diese oder jene Lobby oder wer auch immer, sondern im Kern muss die Ursache für alle diese Probleme im Politikversagen gesucht werden. Die Politiker sind schuld. Die politische Klasse und ihre Ideen.

Sarrazin geht in seiner Analyse aber noch tiefer: Er arbeitet auch die tieferen Gründe für das erschreckende Versagen der deutschen politischen Klasse heraus. Im Kern ist es eine fundamentale Kritik am linken Zeitgeist, der sich ab 1968 in Deutschland immer mehr durchsetzen konnte: Ein falsches Verständnis von Verantwortung in bezug auf die deutsche Vergangenheit, die Meinung, gerade als Deutscher müsste man immer eher geben und nachgeben statt andere zu kritisieren und klare, für alle heilsame Grenzen zu setzen. Sarrazin beobachtet eine erschreckende Ahnungslosigkeit und Naivität bezüglich ökonomischer Fragestellungen gepaart mit einer irrationalen Abneigung gegen den „Kapitalismus“, d.h. unsere erfolgreiche Marktwirtschaft, sowie eine sozialistische Verteilungsmentalität, die vergisst, dass Wohlstand erwirtschaftet werden muss, und wie das eigentlich funktioniert. Auch die verschiedenen Nationalcharaktere in Europa werden angesprochen, die von Multikulti-verliebten Politikern häufig ignoriert werden. Sie stehen einem zu engen Zusammengehen in Europa entgegen, weil man damit zusammen zwingen würde, was nicht zusammen gehört, auch und gerade ökonomisch nicht. In den Ländern des Südens ist Papier sehr viel geduldiger als im Norden. In der EZB ist die stabilitätsorientierte Tradition der deutschen Bundesbank vollkommen unter die Räder gekommen, dort herrscht jetzt der „Club Med“ mit Mehrheit. Namentlich wird als Vordenker der ideologischen Verblendung auch Jürgen Habermas kritisiert, womit Sarrazin ins Herz der herrschenden Zeitgeist-Klasse trifft. Es sind also die Politiker und ihre Vordenker schuld.

Gegen all das formuliert Sarrazin den Gegenentwurf eines Europas, der für Europa-Euphoriker sicher unerträglich „spießig“ klingt, in Wahrheit aber einfach nur realistisch und vernünftig ist. Die europäischen Staaten müssen dort kooperieren, wo es Sinn macht, aber ihre eigenen Wege gehen, wo es keinen Sinn macht. Insbesondere muss jeder Staat für sich allein wirtschaften, und darf nicht von anderen Staaten „gerettet“ werden, so wie es vertraglich einst vorgesehen war. Ein Euro-Austritt überschuldeter Länder darf kein Tabu sein. Nur in einem einzigen Punkt ist Sarrazin bereit, sich Europa auch „ideologisch“ etwas kosten zu lassen: Sarrazin warnt davor, dass Frankreich durch Deutschland gedemütigt wird, weil das deutsch-französische Verhältnis die unabdingbare Basis für ein kooperatives Europa ist, in dem Frieden herrscht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 1. Juli 2012.