Schlagwort: Verleumdung

Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia – Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss (2020)

Der Wikipedia-Sumpf – Es fehlen diese grundsätzlichen Lösungsvorschläge

Dieses Buch versammelt eine ganze Reihe von namentlich gezeichneten Erfahrungsberichten, Recherchen und Interviews rund um das problematische Internet-Lexikon Wikipedia. Wer selbst schon bemerkt hat, dass Wikipedia seltsam einseitig ist, und wer vor allem selbst einmal versucht hat, bei Wikipedia mitzuarbeiten, oder gar Opfer von Falschinformationen in der Wikipedia wurde, wird dieses Buch als ein Trostbuch lesen können, denn man sieht, dass man seine leidvollen Erfahrung mit vielen anderen teilt, und manche sind noch weit schlimmer betroffen als man selbst.

Das Grundproblem der Wikipedia ist, dass es von einem einseitigen Meinungsmilieu beherrscht wird. Man könnte dieses Meinungsmilieu als links-grün beschreiben: Gesellschaftspolitisch ticken diese Leute links, sie sind EU-euphorisch während ihnen die eigene Nation nichts bedeutet, sie sind für radikalen Klimaschutz und schrankenlose Migration, aber zugleich sind sie auch bellizistisch für die NATO eingestellt. Eben genau wie die Grünen. Und die Grünen liegen ganz im Trend des Zeitgeistes. Gerade bei intellektuellen Charakteren, die bei Wikipedia mitmachen. In Wikipedia spiegelt sich also ganz einfach der links-grüne Zeitgeist. Wenn der Zeitgeist sich verändern würde, würde sich Wikipedia automatisch mitverändern. Das würde aber die Probleme nicht lösen.

Problematisch an diesem Buch ist, dass viele der Beiträger selbst einem recht „einseitigen“ Milieu angehören. Da sind z.B. Homöopathie-Anhänger, die auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit pochen und mit Recht eine unwissenschaftliche Wissenschaftsgläubigkeit des Wikipedia-Meinungsmilieus anprangern, aber dann ertappt man sie dabei, wie sie in der Corona-Krise einfachste epidemiologische Zusammenhänge nicht begreifen und die Erwartungshaltungen plumper Wutbürger bedienen. Oder sie beklagen, dass ein Homöopathie-Blogger dabei erwischt wurde, von der Homöopathie-Industrie bezahlt worden zu sein – woraufhin seine Finanzierung futsch war und er Suizid beging. So verständlich die Klage über den Suizid und die menschenverachtende Häme auch ist, so wird doch leider auch deutlich, dass diese Homöopathen kein hinreichendes Verständnis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der Aufdeckung des Sachverhaltes haben. Eine andere Gruppe sind die NATO-Kritiker und Anti-Amerikaner, die oft auch Verschwörungstheorien zu 9/11 verbreiten. Was sie zu NATO und USA behaupten ist oft genauso leicht und schnell widerlegt wie ihre Verschwörungstheorien zu 9/11. Außerdem fragt man sich, was denn ihre Alternative zu USA und NATO ist. Etwa Russland?! Ein anderer Beiträger hat eine Internetseite für Männerrechte, auf der u.a. beklagt wird, dass der Mann nicht mehr das diktatorisch bestimmenden Oberhaupt der Familie ist. Gleich auf der ersten Seite begegnet einem ein Zitat des Sektenführers der Ahmadiyya-Muslime. Ein weiterer Beiträger ist ein jüdischer Einzelgänger, der den Islam pauschal verurteilt, statt zu differenzieren, und der zur Wahl der rechtsradikal gewordenen AfD aufruft. Seine berufliche Vita ist recht „bewegt“ und auf seiner Seite über jüdisches Leben bietet er sich als privater Kreditvermittler an: Nanu? Dann ist da noch eine libertäre Zeitschrift, die keine Hemmungen hat, sich mit durchgeknallten Politikern der rechtsradikal gewordenen AfD zu zeigen. Und schließlich ist noch ein Genetiker zu nennen, dessen Vererbungslehre gefährlich holzschnittartig anmutet, und der behauptet, dass Thilo Sarrazin angeblich mehr von ihm übernommen hätte, als Thilo Sarrazin zugeben will. Ironischerweise behauptet das linksgrüne Meinungsmilieu von Wikipedia genau dasselbe, worüber dieser Genetiker doch eigentlich froh sein sollte. Doch beide liegen falsch: Der eine will sich zu Unrecht mit dem Erfolg von Thilo Sarrazin schmücken, die anderen wollen Thilo Sarrazin zu Unrecht in die Nähe holzschnittartiger Thesen rücken.

Natürlich haben auch diese Leute ein Recht auf faire Behandlung und auf eine Erwähnung ihrer Minderheitsmeinungen in der Wikipedia, sofern sie nicht radikal sind. Und im Grunde ist das Wikipedia-Meinungsmilieu keinen Deut besser. Ob halbseiden „rechts“ oder halbseiden „links“, das gibt sich nicht viel.

Allerdings ist die Klage über das Wikipedia-Meinungsmilieu bei aller berechtigten Kritik teilweise überzogen. Viele der beklagten Wikipedia-Artikel stellen sich beim Nachschlagen dann doch als weniger schlimm heraus (einige sind aber wirklich schlimm). Und selbst in diesem Schwarzbuch sind zwei bis drei Geschichten enthalten, bei denen Wikipedia sich am Ende doch noch verbessert hat. Diverse Verschwörungstheorien, dass Wikipedia von bestimmten Interessengruppen unterwandert wäre, oder dass Wikipedia selbst eine solche Unterwanderung zulassen und fördern würde, können nur auf Einzelfälle verweisen, die z.T. von Wikipedia selbstkritisch aufgearbeitet wurden, und sind deshalb aufs Ganze gesehen nicht überzeugend. Dass es vor allem der Zeitgeist ist, der zur Einseitigkeit von Wikipedia führt, scheinen viele nicht glauben zu können. Der gesunde Menschenverstand weiß natürlich, dass es organisierte Versuche der Beeinflussung geben muss, aber die Macht über die Leitmedien scheint am Ende immer noch wichtiger zu sein als Wikipedia, weshalb sich machtvolle Einflussversuche wohl eher dort finden lassen als bei Wikipedia. Denn wenn man den Zeitgeist über die Leitmedien beeinflussen kann, hat man Wikipedia automatisch mitbeeinflusst.

Am Ende sind die Beiträger zu diesem Buch nicht besser als das Wikipedia-Meinungsmilieu, nur „andersrum“. Doch das zu begreifen, reicht ihre Intellektualität oft nicht aus.

Man sieht es an den Verbesserungsvorschlägen: Jeder Beiträger macht in kurzen Absätzen diesen oder jenen Verbesserungsvorschlag. Das ist nichts halbes und nichts ganzes. Sehr oft wird die komplette Aufhebung der Anonymität der Wikipedianer gefordert. Manche wollen zurück in die gute alte Zeit der Brockhaus-Lexika. Was aber notwendig wäre, wäre sich über die Niederungen des eigenen kleinen Meinungshorizontes zu erheben und grundsätzliche Analysen und Lösungsvorschläge zu präsentieren, die jenseits der einzelnen Meinung stehen, die Rationalität auf philosophischem Niveau diskutieren, und die die demokratische Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen.

Solche grundsätzlichen Analysen und Lösungsvorschläge wären z.B.:

(x) Das Meinungsmilieu von Wikipedia singt – zurecht – das Hohelied des demokratischen Rechtsstaates, aber Wikipedia selbst entzieht sich der Regelung durch eben diesen demokratischen Rechtsstaat. Das ist ein eklatanter Selbstwiderspruch. Wikipedia muss ebenso effektiv verklagt werden können, wie jede Zeitung und jeder Verlag auch. Ob Wikipedia dazu eine Kollektivverantwortung übernimmt, oder ob zu diesem Zweck Anonymitäten einzelner Wikipedianer ganz oder teilweise aufgehoben werden, ist eine ganz andere Frage. Aber die Hoheit des Rechtsstaates ist herzustellen. Punktum. Der politische Wille aller Demokraten sollte sich dieses Ziel setzen. Es sollte auch das Ziel aller Wikipedianer sein. Alles andere wäre unglaubwürdig.

(x) Wikipedia fordert den sogenannten „neutralen“ Standpunkt. Also genau einen einzigen Standpunkt. Philosophisch betrachtet ist ein solcher für Menschen jedoch nicht zu erreichen. Wir alle nähern uns immer nur an die Wahrheit an, und zwar von verschiedenen Seiten. Und auch „die Wissenschaft“ hat gerade bei komplexen Fragestellungen keine einheitliche Meinung. Praktisch führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während er alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabwürdigt oder als unwürdig ausblendet. Die Abfassung von Lexikonartikeln vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers aus, der genau eine Meinung darlegt, hat zwar lexikographische Tradition, ist aber rational betrachtet Unsinn. Und eigentlich liegt dem Meinungsmilieu von Wikipedia doch sehr viel an Rationalität. – Besonders schön kann man diese Problematik bei der Wissenschaft sehen, die ja eben keinen „Mund der Wahrheit“ kennt, wie etwa die katholische Kirche mit Papst und Konzilien. In der Wissenschaft sind Minderheitsmeinungen nicht nur legitim sondern geradezu notwendig. Wo es zu komplexen Fragestellungen nur noch eine einzige Meinung gibt, dort ist die Wissenschaft meistens „verbogen“, z.B. durch politischen Einfluss. Wikipedia spielt sich genau als dieser „Mund der Wahrheit“ der Wissenschaft auf, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das ist sehr unglaubwürdig. Wikipedia sollte also dringend auf einen anderen Standpunkt wechseln, der dann auch wirklich neutral ist, nämlich auf den Standpunkt eines neutralen Beschreibers der Gesamtwirklichkeit, der die ganze Wirklichkeit beschreibt, dass es also zu einem Thema zunächst unstrittige Aussagen gibt, dann eine Mehrheitsmeinung, und dann Minderheitsmeinungen. Die unstrittigen Aussagen kommen zuerst und ganz groß, dann die Mehrheitsmeinung ebenfalls groß, und schließlich Minderheitsmeinungen, nur klein und hinten. Aber sie werden eben doch dargestellt. Und zwar ohne dass sie herabgewürdigt werden. Und der Leser des Artikels bekommt nicht vorgeschrieben, was er nun glauben soll. In der Demokratie machen wir es übrigens genauso: Wer bei Wahlen unterliegt, darf trotzdem im Parlament sitzen, nur eben mit weniger Sitzen und weniger Zugang zu Geld und Mikrofonen. Alles andere wäre totalitär. Wikipedianer berufen sich gerne auf ihre Rationalität und ihre demokratische Gesinnung. Die sollten sie in dieser Frage zeigen, wenn sie es ernst meinen. Alles andere ist rational nicht darstellbar. Außen vor ist nur radikal Falsches und politischer Radikalismus.

(x) Wikipedia braucht dringend Konkurrenz, denn Wettbewerb spornt am besten zu Verbesserungen an. Eine solche Konkurrenz könnte eigentlich nur durch die weltweite Wissenschaftsgemeinde aufgebaut werden. Nur sie hat die Kompetenz und auch die Manpower. Ziel wäre ein von Fachwissenschaftlern aufgebautes, populärwissenschaftliches (nicht: wissenschaftliches!) Universallexikon, das nach Art klassischer Lexika mit namentlich verfassten und betreuten Artikeln arbeitet. Dazu müssten die Staaten der Welt ihren Wissenschaftlern Budget zu Verfügung stellen, und es müsste je Sprache ein Stab gegründet werden, der die Arbeit koordiniert. Das alte Prinzip der gedruckten Lexika würde endlich wieder eine Finanzierung haben und ins Internet gehoben werden. Damit würden sich zwei Wikipedias, die nach verschiedenen Prinzipien funktionieren, gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Intelligenz namentlich zeichnender Wissenschaftler, auf der anderen Seite die zeitgeistige Schwarmintelligenz der anonymen Masse. Das wäre ein durchführbarer Plan, der von allen Demokraten politisch gewollt sein sollte, um die Pluralität und Qualität der zur Verfügung stehenden Information in der demokratischen Gesellschaft zu sichern und zu steigern. Also sollten auch alle Wikipedianer das wollen. Was jedoch nicht funktioniert, ist der Versuch, eine zweite Wikipedia nach gleichen oder ähnlichen Prinzipien aufzubauen.

(x) Es gibt auch rein praktische Vorschläge zur Verbesserung der real existierenden Wikipedia. Zum Beispiel bessere Anleitungen, wie man unter bestimmten Umständen vorgeht, oder Beschwerde-Buttons und -Formulare an Artikeln, um kritische Inhalte schnell und einfach melden zu können. – Insbesondere könnte eine schnellere und direkt anrufbare Schiedsgerichtsbarkeit bzw. schnell herbeirufbare Moderatoren, die sich auch wirklich als solche verstehen, sehr viel helfen. Heute läuft es ja so: Es gibt Streit im Diskussionsforum und einen Edit-War, aber lange taucht kein Admin auf, und wenn dann doch ein Admin auftaucht, ergreift er kurzerhand Partei für eine Seite, und bedroht die andere Seite mit Sperrung, wenn sie nicht still ist. Ganz schlechter Stil. Evtl. sollte Wikipedia solche Moderatoren sogar professionell anstellen. Sie sollen nur moderieren, nicht schreiben. Ebenso könnte man professionelle Schiedsrichter, die geschult sind und selbst nicht schreiben, anstellen.

(x) Wikipedia sollte sich Gedanken darüber machen, die Mitarbeiter philosophisch zu schulen, in dem Sinne, dass sie in die Lage kommen, zu erkennen, dass der Zeitgeist nur der Zeitgeist ist, um sich über den Zeitgeist erheben zu können. Und dass die Fiktion eines einzigen realisierbaren neutralen Standpunktes zutiefst irrational und unphilosophisch ist. Und dass nichtradikale Minderheitsmeinungen auch das Recht haben, dargestellt zu werden, ohne dass sie herabgewürdigt werden. Wikipedianer müssten eben weise werden. Das ist natürlich viel verlangt, aber zumindest das Ziel sollte formuliert werden, um das Problem zu kennzeichnen. Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Im Idealfall würde eine Mitarbeit bei Wikipedia den Menschen demütiger und weiser machen, statt wie heute seine niederen Instinkte zu wecken.

Fazit

Bei allen Defiziten ist es trotzdem gut, dass dieses Buch erschienen ist. Es bietet zumindest eine Grundlage und einen Anfang, um sich der Probleme bewusst zu werden. Damit fängt alles an.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juni 2020)

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010)

Eine umsichtige und kundige Warnung vor der kommenden Gefahr

Sarrazins umstrittenes Buch ist keine Polemik gegen sozial Bedürftige, Ausländer oder Muslime; es ist auch nicht sozialdarwinistisch oder rassistisch; es ist vielmehr ein unglaublich kundig und umsichtig geschriebenes Buch, das differenziert argumentiert und niemanden ausgrenzt oder ignoriert. Aber das Erstaunlichste ist: Migranten sind, anders als die veröffentlichte Meinung es darstellt, überhaupt nicht das zentrale Thema dieses Buches!

Das zentrale Thema von Sarrazins Buch ist der deutsche Sozial- und Rechtsstaat, der völlig falsche Anreize für das Verhalten aller Menschen in Deutschland setzt, sei es ihre Gesunderhaltung, sei es ihre Familiengründung, sei es ihr Arbeitswillen, sei es ihre Rechtstreue, sei es ihre Integrationsbereitschaft oder ihre Neigung zu Aus- oder Einwanderung. Schuld an allen Missständen sind natürlich nicht „die Ausländer“ oder „die Muslime“, sondern die Gutmenschen, Deutschlandhasser und Multikulti-Fanatiker, die bekanntlich eher unter den „Urdeutschen“ zu suchen sind.

Die dramatisch geringen Geburtenzahlen gerade der intelligenteren Menschen sind das wichtigste Problem, das Sarrazin thematisiert. Denn es ist Stand der Wissenschaft, dass statistisch gesehen 50-80 Prozent der Intelligenz erblich sind. Da sich Sarrazin mit der ökonomischen Überlebensfähigkeit Deutschlands befasst, konzentriert er sich mit Recht auf eine rational-technisch verstandene Intelligenz. Wenn nämlich die intelligenten Menschen dramatisch weniger Kinder bekommen, die weniger intelligenten Menschen aber mehr Kinder bekommen, dann wird die durchschnittliche Intelligenz in Deutschland insgesamt dramatisch und rasch sinken.

Keine noch so große Bildungsanstrengung kann dies verhindern, da Bildung sich über Generationen nur langsam wieder aufbauen lässt (immer im Durchschnitt gedacht, in Einzelfällen kann es immer anders sein). Sarrazin verdeutlicht dies am Beispiel Berlin: Dort wird für Bildung sehr viel mehr Geld ausgegeben als anderswo, die Ergebnisse sind aber erstaunlich bescheiden.

Deshalb plädiert Sarrazin neben Anstrengungen im Bildungswesen dafür, die falschen Anreize unseres Sozialstaates umzudrehen, so dass Akademiker tendentiell mehr Kinder, Sozialhilfeempfänger aber tendentiell weniger Kinder bekommen, als dies zur Zeit der Fall ist. Böse Zungen haben dies als Eugenik im Sinne der Nationalsozialisten bezeichnet. Sarrazin wurde auch unterstellt, er habe sich an manchen Stellen nicht von rassistischen Verirrungen abgegrenzt – aber Sarrazin argumentiert so sachbezogen und präzise, dass diese Forderung Fehl am Platze ist. Es ist immer klar, dass Sarrazin auf dem Boden der Humanität steht.

Bis hierher hat Sarrazin noch kein Wort über Zuwanderung verloren. Das Thema Zuwanderung tritt zu den beschriebenen Problemen verschärfend hinzu. Denn der deutsche Sozial- und Rechtsstaat hat die Anreize für Zuwanderung leider so gesetzt, dass im Durchschnitt die eher weniger intelligenten Menschen nach Deutschland kommen. Eine solche objektiv wahre statistische Aussage über die durchschnittliche rational-technische Intelligenz als ein „Werturteil“ oder als ein „Pauschalurteil“ über Zuwanderer lesen zu wollen, verbietet sich von selbst. Wer glaubt, aus Liebe zu den Menschen die Liebe zur Wahrheit verraten zu dürfen, verrät die Liebe zu den Menschen gleich mit.

Da die Muslime (auch hier natürlich nur im Durchschnitt, der Einzelfall ist immer anders) die größten Integrationsprobleme bereiten und auch mit die höchsten Geburtenraten haben, befasst sich Sarrazin mit ihnen in mehreren Unterkapiteln. Allerdings stellt Sarrazin klar, dass die Integrationsprobleme der Muslime nicht genetisch begründet sein können, da Muslime den unterschiedlichsten Ethnien angehören. Er sieht vielmehr die Kultur des Islam als Hauptursache für die spezifischen Integrationsprobleme der Muslime. Natürlich werden liberale Muslime und traditionalistische Muslime bei Sarrazin nicht in einen Topf geworfen.

Sarrazin rechnet überzeugend vor, dass die „Urdeutschen“ schon erschreckend bald in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden [wodurch die kulturelle Tradition abreißen wird; 24.08.2023; das ist hier der Punkt, nicht „deutsche Gene“; 27.09.2023] und der Islam die Mehrheit übernimmt, wenn alles so weitergeht wie bisher. Sarrazin diskutiert auch die Unwahrscheinlichkeit einer Islamreform durch die Islamverbände. Zur Lösung des Problems schlägt Sarrazin vor, die Anreize und Anforderungen zur Integration beim Thema Islam deutlich anders zu akzentuieren, als es derzeit geschieht.

Alles in allem hat Sarrazin ein überzeugendes Werk vorgelegt, das auch sprachlich und stilistisch anspricht, und in dem sich Humanität vor allem auch durch unbedingte Liebe zur Wahrheit und präzise Sachlichkeit ausdrückt. Dabei hat Sarrazin nicht bei jeder einzelnen statistischen Aussage über Bevölkerungsgruppen dazu gesagt, dass sich Pauschalurteile und rassistische Lesarten von selbst verbieten; das wäre auch albern, denn dass Sarrazin fest auf dem Boden der Humanität steht, ist im Zusammenhang stets klar.

Es ist erschreckend, wie Sarrazin und sein Buch verleumdet werden. Allein um die Verleumdungen zu durchschauen lohnt sich die Lektüre. Manche Kritik an Sarrazin ist auch der Tatsache geschuldet, dass viele Menschen in Deutschland Berührungsängste und Verständnisprobleme im Umgang mit Statistik und Vererbungslehre zu haben scheinen, so dass ihre Vorwürfe an Sarrazin zwar ehrlich gemeint aber dennoch unsinnig sind. Für manche eher romantisch veranlagte Menschen, die die Weltwirklichkeit gerne verklärt sehen, mag auch die Rationalität der Analyse zynisch erscheinen; Zynismus wird man bei Sarrazin jedoch nicht finden, höchstens Sarkasmus. An manchen Stellen plaudert der langjährige Spitzenbeamte und Berliner Finanzsenator Sarrazin auch aus dem Nähkästchen der Macht; auch dies mag für manche Leser eine ungewohnte Ernüchterung sein.

Es ist erschreckend, was Sarrazin an bitteren Wahrheiten offenbart: Deutschland muss dramatisch umsteuern. Mit ein wenig Kosmetik hier und da wird es nicht mehr getan sein. Uns läuft die Zeit davon. Denn wir haben Deutschland nur von unseren Enkeln geborgt.

PS 24. August 2023

Die Zahl der Falschinformationen und Missverständnisse zu Thilo Sarrazin ist inzwischen schier übermächtig geworden, so dass sich ein öffentliches Fehlurteil gebildet hat. Deshalb noch einige zusätzliche Erklärungen und Verdeutlichungen.

Thilo Sarrazin referiert zum Thema Vererbung von Intelligenz nur den Stand der Wissenschaft, und der lautet seit eh und je, dass sich Intelligenz teilweise vererbt, teilweise aber auch Erziehung und Umwelt verdankt. Nicht mehr und nicht weniger. Bildungsanstrengungen lohnen sich also immer, weil ein Teil der Intelligenz erworben werden kann, doch der mögliche Bildungsaufstieg ist nicht grenzenlos, sondern durch den angeborenen Teil begrenzt. Thilo Sarrazin plädiert dafür, dass jeder die Bildung bekommt, die er zur Entfaltung seines Potentials braucht. Aber Thilo Sarrazin warnt zugleich davor, sich zu viel zu erwarten: Nicht jeder hat das Potential zum großen Bildungsaufstieg, auch wenn man noch so viel Geld in Bildung investiert.

Thilo Sarrazin strebt keine „Unterdrückung“ der Geburtenrate von weniger gebildeten Menschen an. Vielmehr beklagt er, dass die Anreize unserer Sozialsysteme zur Zeit so gesetzt sind, dass Gebildete einen Anreiz haben, weniger Kinder zu bekommen, Ungebildete aber einen Anreiz haben, mehr Kinder bekommen. Diese Fehlanreize will Sarrazin korrigieren. Es geht nicht darum, irgendjemandem das Kinderkriegen zu verbieten oder durch die Verweigerung von Sozialleistungen Negativanreize zu setzen. Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat.

Manche meinen, Sarrazin würde biologistisch denken, denn jeder könne durch Anstrengung einen Bildungsaufstieg erreichen. Wer so denkt, hat das Grundproblem nicht verstanden. Noch einmal: Die Aufstiegsmöglichkeiten sind durch die angeborenen Fähigkeiten begrenzt. Anstrengung lohnt sich immer, aber sie führt nicht grenzenlos nach oben, sondern stößt irgendwann an eine Decke, bei manchen früher, bei manchen später. Länger einheimische Familien haben in den Jahrzehnten der BRD die Chance zum Bildungsaufstieg meistens genutzt. Ihr Aufstiegspotential ist damit ausgereizt. Paradoxerweise sind Bildungsaufstiege deshalb eher bei manchen Migranten zu erwarten, so ungebildet sie bei ihrer Ankunft in Deutschland auch sind: Denn diese kommen oft aus Ländern, in denen Bildung nicht sonderlich gefördert wurde, so dass ihr Potential nicht genutzt wurde.

Es geht also nicht um Biologismus. Es geht nicht darum, aus biologischen Gegebenheiten Werturteile abzuleiten und auf dieser Grundlage diese oder jene Gruppe von Menschen zu diskriminieren. Thilo Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat: Jeder soll Kinder und Sozialleistungen und Bildung haben. Aber die Fehlanreize müssen aufhören. Denn es geht darum, wie Deutschland seinen wichtigsten Rohstoff erhält: Kluge Köpfe. Auch zum Wohle der weniger klugen Köpfe.

Es kursiert ein Video mit Thilo Sarrazin im Netz, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zieht zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat. Diese Aussage passt auch gar nicht zu den Aussagen in Sarrazins Buch: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe.

In seinem Buch „Tugendterror“ kommentiert Sarrazin das gefälschte Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen): „Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Verrückterweise glauben viele rechtsradikale Sarrazin-Fans die Unterstellungen, die ihm von linker Seite gemacht werden, so dass sich die Extreme in ihrem Fehlurteil über Sarrazin gegenseitig bestätigen. So benutzen Rechtsradikale z.B. den Vergleich von Pferdezucht und Mischehen und berufen sich dabei auf Sarrazin. Man liest auch immer wieder, Sarrazin hätte einen Zuwanderungsstop für Muslime gefordert: Doch in Wahrheit fordert Sarrazin immer wieder, auf die Qualifikation der Zuwanderer zu achten.

Gibt es an Sarrazin gar nichts zu kritisieren? Im Detail gewiss, aber erst mit seinem fünften Buch zum Thema Islam äußerte Thilo Sarrazin eine These, die eine deutlichere Kritik rechtfertigt: Sarrazin meinte, dass der Islam anders als das Christentum grundsätzlich zu keiner Modernisierung fähig wäre.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2010; am 24. August 2023 festgestellt, dass die Rezension nicht mehr bei Amazon vorhanden ist.)