Monat: August 2023 (Seite 1 von 2)

Hugo von Hofmannsthal: Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (1911)

Große Enttäuschung: Offenbar Lieblingsstück primitiver Antikapitalisten

Wer hat nicht schon vom „Jedermann“ gehört? Dieses legendäre Stück, dass immer in Salzburg aufgeführt wird, das nur von den besten Schauspielern gespielt werden darf, dieser Eckstein der weltweiten Theaterkultur: Man muss es gelesen haben! Also ran.

Das Stück „Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist in Stil und Inhalt ganz in der Art eines Jesuiten-Theaters zur christlichen Belehrung der gläubigen Massen gehalten. Es ist in der Tat eine Adaption frühneuzeitlicher Vorlagen.

Der Inhalt ist überraschend stupide: Ein reicher Mann, um die 40, erfährt, dass er sterben muss, und sucht nun Begleiter in den Tod, die ihn vor Gott rechtfertigen sollen. Doch alle winken ab: Sein Freund ebenso wie seine Verwandten und Knechte. Auch sein eigener Mammon verweigert ihm die Gefolgschaft. Nur die Personifikationen von guten Werken und Glaube retten ihn am Ende, nachdem er sich reumütig zum christlichen Glauben bekehrt hat.

Drei Probleme

Das Stück leidet zunächst an zwei Problemen: Zum einen ist es strikt im Rahmen eines altbackenen christlichen Glaubens gehalten, den es an keiner Stelle symbolisch überhöht oder modern deutet. Noch größer ist jedoch das Problem, dass die zu Beginn des Stückes vorgeführten Sünden des Herrn Jedermann überhaupt keine Sünden sind!

  • „Sünde“ Nr. 1: Ein Bettler kommt zu Jedermann, Jedermann gibt ihm spontan etwas Geld. Doch der Bettler will gleich den ganzen Geldbeutel. Dies weist Jedermann zurück. Wo soll hier eine Sünde sein? Es ist nur vernünftig.
  • „Sünde“ Nr. 2: Ein Schuldner wird in den Schuldturm geworfen. Jedermann findet das richtig, denn der Schuldner hat den Gläubiger schließlich um sein Geld betrogen. Eine Sünde kann man das nicht nennen, denn es ist gerecht. Aber dabei bleibt Jedermann nicht stehen: Jedermann übernimmt für die mittellose Familie des Schuldners Kost und Logis! Das ist keine Sünde, das ist eine soziale Tat!
  • „Sünde“ Nr. 3: Jedermann hat eine Freundin und scheut es, sich in der Ehe zu binden. Er lebt gerne und gut in Geselligkeit mit Freunden. Hier könnte man vielleicht den Unwillen, sich zu binden, kritisieren, aber von einer schweren Sünde ist hier weit und breit nichts zu sehen. Die Toskana-Fraktion der Antikapitalisten lebt nicht anders.
  • „Sünde“ Nr. 4: Jedermann hat Gott und die Erlösertat Christi vergessen. Das ist natürlich eine Todsünde – aber nur im Rahmen eines altbacken christgläubigen Weltbildes! Moderne Menschen können damit nichts anfangen, zumal sich Jedermann durchaus sozial verhält, wie wir sahen.

Fast schon sympathisch ist Jedermanns unfreiwillig herausgerutschter Satz, gemünzt nicht auf seine engeren Freunde, sondern auf andere Gäste seines Hauses:

„Wie Ihr da seid hereingelaufen,
So könnte ich Euch alle kaufen,
Und wiederum verkaufen auch,
Dass es mir nit so nahe ging
Als eines Fingernagels Bruch.“

Sympathisch deshalb, weil Jedermann mit diesen Worten die aus dem Kontext dieser Stelle ersichtlichen wahren Motive jener Gäste entlarvt, die nicht seine Freunde sind, sondern nur von seinem Reichtum an seiner Tafel profitieren wollen.

Das dritte Problem sind diverse Lächerlichkeiten:

Lächerlich wird das Stück, wo Jedermann eines Lebens bezichtigt wird, das dem Klischee des dekadenten, egoistischen Reichen entspricht: Lächerlich deshalb, weil wir doch zuvor sahen, dass es so nicht ist. Jedermann ist nicht Ebenezer Scrooge, sondern zu Almosen und sozialer Unterstützung bereit. Das Stück enthält hier einen eklatanten Selbstwiderspruch.

Lächerlich ist auch der Versuch des Stückes, in der Absage von Freunden, Verwandten und Knechten, Jedermann in den Tod zu begleiten, eine moralische Aussage sehen zu wollen. So ein Unsinn! Man kann selbst vom besten Freund zwar viel verlangen, aber den Tod wohl kaum. Damit wendet sich die Dramatik der Absagen an Jedermann ins Lächerliche. Selbst für einen gläubigen Christen ist der Gedankengang fragwürdig, einen Freund in den Tod zu begleiten. Solches hat man zuletzt von den Sumerern gehört, wo die Könige sich mitsamt ihrem extra zu diesem Zweck getöteten Hofstaat bestatten ließen, und das gilt als barbarisch.

Und übrigens: Wieso sollte ein Freund, der ebenso „sündig“ gelebt hat wie Jedermann, ihm im Jenseits irgendwie helfen können?! Hier ist das Stück auch logisch brüchig.

Woher der Erfolg?

Wie kommt es nun, dass ein so völlig aus unserer Zeit gefallenes und im Grunde lächerliches Stück einen solchen Erfolg feiern konnte? Die Antwort ist einfach: Der einzig mögliche moderne Anknüpfungspunkt ist ein primitiver Antikapitalismus. Jedermann, der – wie wir sahen – eigentlich ganz vernünftig ist, wird gerade deshalb angefeindet, weil er reich ist und Geld hat. Der Reichtum an sich (!) wird bereits verteufelt, und nicht so sehr, wie er verwendet wird.

Während Jedermann sagt:
„Geld ist wie eine andere War‘
Das sind Verträge und Rechte klar“

sagt der Schuldner:
„Geld ist nicht so wie andre War‘
Ist ein verflucht und zaubrisch Wesen, …
Des Satans Fangnetz in der Welt
Hat keinen anderen Nam als Geld.“

Reichtum, Geld, Zinsen: Einfach alles Teufelszeug. Schuldig ist – natürlich! – nicht der, der geliehenes Geld nicht zurückzahlen kann, sondern der, der es verliehen hatte. Das ist nichts anderes als ein primitiver Antikapitalismus, der auf einem fundamentalen Nichtverstehen von ökonomischen Zusammenhängen beruht. Nur das kann den Erfolg dieses Stückes erklären. Hier ist übrigens das üble Klischeebild vom jüdischen Wucherer nicht fern, der die braven Nichtjuden in die „Zinsknechtschaft“ führt. So manche mittelalterliche Judenhatz beruhte auf diesem falschen Denken, und als das Stück zum ersten Mal in Salzburg aufgeführt wurde (1920), meinten nicht wenige mit Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1843) eine enge Verbindung von jüdischer Kultur und dem „bösen“ Kapitalismus erkennen zu können. Wir sehen, in welchen Sphären des Geistes wir uns bewegen.

Hier geht das schiefe Bild des Christentums von Reich und Arm eine üble Synthese ein mit modernem sozialistischen Gedankengut. Der Autor Hugo von Hofmannsthal war übrigens kein Sozialist, sondern ein Monarchist und Konservativer. Aber in der Kritik am Kapitalismus treffen sich Christentum und Sozialismus offenbar.

Indem man sich um dieses Stück versammelt, macht man ein politisches Statement. Alle, die sich um es scharen, und es von Jahr zu Jahr als Eckstein der Kultur hochleben lassen, erklären dadurch gleichzeitig jeden, der sich dem Stück verweigert, jeden Befürworter einer sozialen Marktwirtschaft, zu einem kulturellen Banausen. Zu einem unsensiblen Dummkopf, der eben mangels Sensibilität nicht verstanden habe, worauf es in der Welt ankomme.

In diesem Stück wird der Vernünftige zum Bösewicht gemacht, und das Unvernünftige des antikapitalistischen Denkens zur Weihe der höchsten Moral erhoben. Und in der Tat: Wenn man die positiven Amazon-Rezensionen durchliest, findet man immer wieder Aussagen wie die, dass Jedermann selbst Almosen für Bettler verweigern würde. An dieser Falschaussage sieht man, mit welchen Augen das Stück gelesen wird, und welchen falschen Eindruck es bei weniger gebildeten Lesern und Zuschauern hinterlässt.

Schluss

Der einzige Trost für aufgeklärte Menschen ist, dass dieses Stück das Kindische dieser antikapitalistischen Sichtweise durch die bezeichnenderweise gut passende Einbettung in die kindliche Gläubigkeit des Mittelalters unfreiwillig als kindisch entlarvt und mit sich ins Lächerliche zieht.

All diese vernunftwidrigen Pharisäer, die sich den teuren Theaterurlaub in Salzburg gönnen, und sich im Mainstream einer Schickeria von Gleichgesinnten sonnen, während der selbstbestätigende Beifall am Ende dieses antiaufklärerischen Stückes aufbrandet: Ihnen ruft die Stimme der Vernunft hinterher: „Jedermann! Jedermann!“ – Ihnen legt Athene die Frage vor, welche Vernunftleistung sie für ihren Nachruhm sprechen lassen wollen! – Ihnen wird beim Symposion von Sokrates eine Abfuhr erteilt!

Sie sind die wahren Jedermänner!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. April 2014; 31.08.2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon nirgends mehr zu finden ist.)

Jostein Gaarder: Das Kartengeheimnis (1990)

Genial verschränktes Werk voller Esprit – hier wird Philosophie lebendig erfahrbar

Das „Kartengeheimnis“ von Jostein Gaarder ist eine geniale Verschränkung verschiedener Handlungsstränge ineinander: Eine Reise nach Griechenland, ins Mutterland der Philosophie. Eine Reise in die Vergangenheit einer Familie und ihrer Brüche. Und eine Reise auf eine magische Insel, auf der die Phantasieprodukte eines Schiffbrüchigen plötzlich reale Gestalt annehmen und Teil der wirklichen Welt werden. Wenn die 53 Karten eines Kartenspiels lebendig werden und gemäß ihrer Funktion agieren, entsteht eine ganz eigene Welt, die uns auch über unsere wirkliche Welt einiges lehren kann. Denn wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Und dann ist da noch der Joker im Spiel …

Diese mit viel Esprit geschriebene Geschichte ist ganz nebenbei auch eine wunderbare Vater-Sohn-Geschichte. Ebenso nebenbei leistet Jostein Gaarder dankenswerterweise auch die Aufarbeitung eines Teils der norwegischen (und europäischen) Unheilsgeschichte, nämlich die Thematisierung der Hassverbrechen der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten Völker an jungen Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten.

Prädikat: Sehr wertvoll. Besser als „Sofies Welt“.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Oktober 2019)

Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995)

Ein „Ausflug“ aus der DDR in den dekadenten, linksliberalen Westen

Friedrich Christian Delius ist wie immer ein Meister der Introspektion: Man sieht bei ihm, wie „es“ im Menschen denkt. Das macht die Lektüre allerdings auch anspruchsvoll. Diesmal geht es um einen DDR-Bürger, der ohne politische Absichten einfach nur auf den Spuren Seumes nach Italien reisen und dann wieder zurückkehren möchte.

Die erste Hälfte des Buches über erlebt man mit, wie die Flucht geplant wird, wie dabei ein Gedanke den nächsten jagt, wie das Denken vorwärts auf das eine Ziel hin drängt. In der zweiten Hälfte des Buches erlebt man die Begegnung mit dem Westen. Das völlige Unvermögen der dekadenten, linksliberalen Wessis, den unpolitischen Ossi zu verstehen, ist sehr gut getroffen. Erst in Italien fühlt sich der DDR-Bürger als Deutscher und Diktaturopfer ernst genommen.

Das Buch wäre in besagtem dekadenten Westen vor 1989 wohl ein Skandalbuch geworden; da es aber erst in den 90er Jahren geschrieben wurde, winken viele heute nur ab: Stasi und Mauer gelten als ferne Vergangenheit. Sie begreifen nicht, dass das dekadente, linksliberale Denken, das vor 1989 im Angesicht der DDR-Diktatur versagte, auch heute noch herrscht, und immer wieder aufs neue an immer wieder neuen Themen versagt; oder sie begreifen es, und wollen nicht mit Kritik belästigt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. August 2012)

Seyran Ates: Wahlheimat – Warum ich Deutschland lieben möchte (2013)

Seyran Ates verfälscht die geniale Idee „Transkulti“ und landet wieder bei „Multikulti“

In Ihrem 2007 erschienen Buch „Der Multikulti-Irrtum“ hatte Seyran Ates eine intellektuell wie menschlich anspruchsvolle Anklage gegen die deutschen Gutmenschen erhoben, dass die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft nicht funktionieren kann, und dass Multikulti sowohl für die Aufnahmegesellschaft als auch für die Zuwanderer in die Katastrophe führt. Dem hatte Seyran Ates mit der Idee der Transkulturalität eine intelligente Alternative gegenübergestellt. Dieses Konzept von „Transkulti“ verwässert, verzerrt und verfälscht Seyran Ates nun in ihrem 2013 erschienenen Buch „Wahlheimat“, so dass Seyran Ates am Ende wieder beim alten, dummen Multikulti anlangt. Doch der Reihe nach.

Was ist Transkulturalität?

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Seyran Ates ist umgekippt

Doch in beiden Kernpunkten schlägt Seyran Ates nun andere Töne an. Die geniale Idee der gleichzeitigen Beherrschung zweier Kulturen ist bei ihr jetzt wieder dem Gedanken der Mischung und des Nullsummenspiels gewichen: Der Zuwanderer pickt sich aus beiden Kulturen das heraus, was er möchte, was einer Aufteilung seiner Person nach dem Schema 50:50 entspricht, anstatt dass er beide Kulturen ganz beherrscht, also 100:100. Und Seyran Ates stellt alles ins Belieben des Zuwanderers: Die Priorität der Kultur der Aufnahmegesellschaft wird von ihr nicht mehr formuliert.

Damit ist Seyran Ates ganz heimlich still und leise wieder ganz ins Lager der alten, dummen Multikulti-Ideologen zurückgekehrt. Jetzt findet sie es in Ordnung, dass sich ganze Stadtviertel in „Klein-Istanbuls“ (ihre Wortwahl) verwandeln. Jetzt hat sie großes Verständnis für Mesut Özil, der als Nationalspieler (!) die Nationalhymne nicht singt. Sie nennt das Verhalten von Özil sogar „transkulturell“ – nichts könnte falscher sein, man kippt fast vom Stuhl, wenn man das liest! „Integration“ ist nun plötzlich ein Wort, das Seyran Ates ungern verwendet, denn Integration bedeutet „Einfügung“ in die Aufnahmegesellschaft, und genau das wolle sie nicht! Vielmehr wolle sie die „Inklusion“, also die Aufnahme, eines auch kulturell fremd gebliebenen Zuwanderers: Denn sie will jetzt nicht mehr, dass dem Zuwanderer für die Aufnahme das Erlernen der Aufnahmekultur abverlangt wird. Auch druckt sie in diesem Buch ein mehrseitiges Lied auf Türkisch ab – ohne Übersetzung! Multikultureller geht es nicht. Nach Meinung von Seyran Ates hätte sich die Aufnahmegesellschaft „ebenso“ (!) zu verändern wie der Zuwanderer, womit wir wieder beim Modell 50:50 angekommen sind. Dann drischt sie auch noch die hohle Politikerphrase von der „Willkommenkultur“, deren Fehlen die Aufnahme der Zuwanderer behindern würde. Die Kultur der Aufnahmegesellschaft hätte keinerlei Vorrecht vor irgendeiner zugewanderten Kultur, denn man könne nur die Verfassungwerte abverlangen. Man müsse akzeptieren, dass Zuwanderer ausschließlich deshalb zuwandern, weil es ihnen dann besser geht, und dass sie sich für die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht interessieren. Das alles ist nun wahrlich das Gegenteil von Transkulti, das ist das alte, dumme Multikulti in Reinform.

Seyran Ates ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Doch nur eine Seite, nachdem Seyran Ates Verständnis dafür gezeigt hat, das Özil als Nationalspieler (!) die Nationalhymne nicht singt, fordert sie, dass bei der Einbürgerung die Nationalhymne gesungen werden soll, um den Neubürgern zu zeigen, dass sie auch Pflichten haben – wie passt das denn zusammen?! Im Zusammenhang mit dem Bau der Kölner DiTiB-Moschee äußert Seyran Ates Verständnis für die Sorgen der Anwohner vor „Überfremdung“ (ihre Wortwahl!). Kopftücher an Schulen und Behörden will sie konsequent verbieten! Wenn es nicht wegen der Juden wäre, würde sie den Muslimen sogar die Beschneidung komplett verbieten wollen! Seyran Ates kritisiert, dass deutsche Journalisten so naiv waren, die ägyptischen Muslimbrüder für gemäßigt zu halten.

Die alte Grundidee geistert noch durch das Denken von Seyran Ates. So wettert sie z.B. gegen die von der „Integrationsindustrie“ (ihre Wortwahl) angebotenen Integrationskurse, die die Zuwanderer eben nicht in die Kultur der Aufnahmegesellschaft integrieren würden. Ist das nicht ein glatter Selbstwiderspruch zu dem, was sie an anderer Stelle des Buches sagte? Sie kritisiert, dass manche die Forderung nach Integration als Zumutung zurückweisen.

In der Mitte des Buches macht Seyran Ates explizit Werbung für ihre alte Idee von Transkulti, wie wenn sich ihre Meinung gar nicht geändert hätte! Sie kritisiert die Idee einer multikulturellen Gesellschaft an dieser Stelle des Buches explizit. An vielen anderen Stellen dieses Buches jedoch spricht Seyran Ates seelenruhig von der „multikulturellen“ Gesellschaft. Seyran Ates macht in diesem Buch den Eindruck einer gespaltenen Persönlichkeit: Dr. Jekyll und Mr. Hyde!

Seyran Ates ringt mit ihrer linken Identität!

Die tiefere Ursache für diesen fatalen Schlingerkurs muss darin gesehen werden, dass Seyran Ates zwar den Irrtum der Multikulti-Ideologie aus praktischen Erwägungen heraus klar durchschaut hatte, dass sie aber immer noch auf theoretischer Ebene einer radikalen linken Utopie von der Auflösung der nationalen und lokalen Identitäten anhängt. Diese Utopie hat in den Jahren seit der Veröffentlichung von „Der Multikulti-Irrtum“ offenbar ihre vernünftige und menschliche Seite verdrängt und die Oberhand gewonnen. Nur so kann man sich dieses widersprüchliche Buch erklären. Seyran Ates ringt gar nicht mit ihren verschiedenen kulturellen Identitäten (kurdisch-türkisch-deutsch), wie sie sich und anderen weismachen möchte, sondern sie ringt in diesem Buch vor unser aller Augen mit ihrer linken Identität und kommt damit nicht zu Rande! Und das ist – böse gesprochen – nur allzu deutsch.

Ihre linke Utopie vom Ende der Nation

Seyran Ates äußert sich in diesem Buch ausführlich zu ihrer Utopie vom Ende nationaler und lokaler Kulturen. Sie stellt sich vor, dass Kulturen nur noch an Menschen gebunden sind, nicht an örtlich vereinigten Menschengruppen, also z.B. Nationen. Dann könnte jeder Mensch von Ort zu Ort ziehen, und würde überall mit seiner Kultur aufgenommen, ohne dass er sich anpassen muss. Das ist natürlich eine grauenhafte und realitätsfremde Utopie, die voll und ganz den Ungeist von Multikulti atmet.

Nationen gäbe es ihrer Meinung nach erst seit dem sogenannten „Zeitalter der Nationalstaaten“, und das sei ja jetzt vorbei. Sie sieht nicht, dass örtlich verbundene Menschen immer eine Konvention brauchen, auf deren Grundlage sie sich verständigen und eine kollektive Identität herausbilden, aufgrund derer sie auch erst zu einem politischen Subjekt werden, das z.B. eine Demokratie bilden kann. Dazu gehört mehr als nur eine gemeinsame Sprache: Es gehört auch eine gemeinsame Kultur dazu. Seyran Ates selbst bringt das Beispiel von der deutschen Verabredung, bei der Pünktlichkeit erwartet wird. Wenn sich jeder nach seiner Facon an Verabredungen halten würde, kämen die Menschen niemals zusammen! Babylon funktioniert nicht, denn die Menschen verstehen einander dann nicht mehr, „nein, nicht mehr“, wie es in dem Lied „Die Legende von Babylon“ so treffend heißt.

Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, wo Demokratie und Rechtsstaat mit Füßen getreten werden, schwärmt Seyran Ates von dem hohen Niveau der Demokratie, das in der Europäischen Union verwirklicht sei! Dabei zeigt diese Krise überdeutlich, dass die Nationen und ihre Nationalkulturen noch höchst lebendig sind, und es niemandem nützt, wenn man so tut, als gäbe es sie nicht mehr. Europa kann über die Nationalstaaten hinauswachsen, überwinden kann es sie nicht. Und selbst wenn der Zusammenschluss zu einem europäischen Einheitsstaat gelingen würde, wie Seyran Ates hofft, dann würde dieses Europa nur eine neue Nation bilden, die z.B. gegen die USA Front macht – de facto geschieht dies bereits.

Wer die Konflikte der Nationalstaaten dadurch abschaffen will, dass er die Nationalstaaten abschafft, handelt wie einer, der das Geld abschaffen will, weil dann niemand mehr an Geldmangel leidet. Es ist eine dumme, linke Utopie.

Eine utopische Vorstellung von Verfassungspatriotismus

Seyran Ates träumt davon, dass die Klammer aller Menschen ein Verfassungspatriotismus sein könne, der sich ausschließlich auf die Menschenrechte der Verfassung gründet. Die Menschen könnten kulturell sein, wie sie wollen, denn da ja die richtige Verfassung gelte und sich alle daran halten, sei das ja dann kein Problem.

Hier unterliegt Seyran Ates jedoch einem schweren Denkfehler: Obwohl die Menschenrechte natürlich universal sind, sind sie dennoch Ausfluss bestimmter Kulturen, die einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben. Nicht jede Kultur hat die Menschenrechte hervorgebracht oder akzeptiert. Eine Verfassung ist immer der Ausfluss der nationalen Kultur! Eine gute Verfassung schreibt deshalb auch immer die nationale Kultur als zu pflegendes Gut fest – das deutsche Grundgesetz hat hier noch behebbare Defizite. Verfassungspatriotismus ist nur dann zu bejahen, wenn er sich des Zusammenhangs von Kultur und Verfassung bewusst ist.

Die USA werden von Seyran Ates gerne als Vorbild für Integration herangezogen. Dort kann man studieren, dass neben der Verfassung die Kultur der White Anglo-Saxon Protestants („Whasps“) entscheidend ist. Würden diese Whasps sehr schnell aus dem Staat verdrängt, ohne dass nachfolgende Zuwanderer sich in die Kultur der Whasps integrieren könnten, dann würden die USA auch ihre Verfassung verändern und verlieren, das steht fest. Ja mehr noch: Am Beispiel der USA kann man sogar studieren, dass nicht nur die Kultur zu einem Verfassungsstaat dazu gehört, sondern auch eine gewisse Art von weltanschaulicher Kompatibilität: Jede Religion und jede Weltanschauung, die sich integrieren möchte, muss gewissen Anforderungen der Aufklärung bzw. des Humanismus genügen. Christentum, Judentum und Islam können sich nur in ihren humanistischen Formen in die Gesellschaft der USA integrieren, und letztlich gilt das auch für alle anderen Weltanschauungen. Deshalb sind die Gebäude in Washington alle der griechisch-römischen Architektur nachempfunden: Das soll bedeuten, dass hier der Geist des klassischen Humanismus herrscht. Das gilt auch dann, wenn davon in der Verfassung der USA gar nichts geschrieben steht. Ja, es gibt eine Leitkultur in den USA.

Seyran Ates hat noch nicht verstanden, dass der Schlüsselsatz im Film „Agora“ lautet: „Seit wann gibt es so viele Christen in Alexandria? Wir müssen mit ihnen verhandeln!“ – Wenn sich die Kultur der Menschen eines Landes ändert, wird sich auch dessen Verfassung ändern. Dann wird die Verfassung gnadenlos zur Verhandlungsmasse. Denn eine Verfassung kommt nicht von Gott, sondern von den Menschen. Ein Verfassungspatriotismus, der nur die Worte der Verfassung ernst nimmt, aber nicht die Kultur, die dahinter steht, ist wertlos. Man denke nur an Weimar: War das nicht auch eine Demokratie – nur ohne Demokraten? Es hat nicht funktioniert.

Wenn Seyran Ates davon spricht, dass sie Deutschland liebe, meint sie in Wahrheit gar nicht Deutschland, sondern nur die Menschenrechte in der deutschen Verfassung. Irgendwelche positiven Eigenschaften der deutschen Kultur wie Ordnungsliebe, die deutsche Landschaft, die Vorzüge der deutschen Sprache, die deutsche Geschichte oder die deutsche Küche meint sie damit nicht. Da ist es dann schon sehr seltsam, wenn sie die Deutschen zu einem enspannten Verhältnis zu ihrer Nation aufruft: Wer das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Nation nach einer perversen linken Ideologie bestimmt, derzufolge Liebe zu Deutschland nicht Liebe zu Deutschland heißt, der ist ein blinder Blindenführer.

Maßlosigkeit und Mangel an Realismus

Maßlos ist Seyran Ates in der Verdammung derer, die an einem normalen, maßvollen Nationalbewusstsein festhalten wollen, das über Meme und nicht über Gene definiert wird. Sie nennt sie wiederholt „Blut- und Bodenpatrioten“, wie wenn es rassistische Extremisten wären, und macht keinen Unterschied zu echten Rassisten! Dass der richtige, vernünftige und menschliche Weg in einem maßvollen Festhalten an den Nationen bestehen könnte, ist für sie keine Option.

Seyran Ates kritisiert den Begriff „deutsche Kultur“ als unbestimmbar. Aber obwohl die deutsche Kultur historisch gewachsen und nicht homogen ist und sich auch weiter verändern wird, so kann man doch hinreichend klare Vorstellungen davon umreißen, was „deutsch“ ist. Sie selbst tut dies am Beispiel der deutschen Pünktlichkeit bei Verabredungen: Da diskutiert sie ja auch nicht, dass es manche Deutsche gibt, die dennoch unpünktlich sind, oder dass die Deutschen vielleicht eines Tages nicht mehr für Pünktlichkeit bekannt sein werden; nein: sie nimmt die Pünktlichkeit einfach so als deutsch hin: Es geht also!

Seyran Ates schafft es auch nicht, die Einsicht zu formulieren, dass sich eine Aufnahmekultur durch Zuwanderer zwar verändert, dass dies aber tunlichst nicht zu schnell und nicht zum Schlechten hin geschehen sollte. Und dass die Aufnahmekultur selbstverständlich das Recht hat, über sich selbst zu bestimmen, und maßvolle Grenzen zu setzen.

Seyran Ates bringt auch nicht die Einsicht über die Lippen, dass nur für die erste Generation der Zuwanderer die volle 100:100-Transkulturalität die beste Lösung ist, dass aber spätere Generationen diesen Spagat immer weniger pflegen werden:

  • Weil die Aufrechterhaltung von zwei Kulturen viel Aufwand macht.
  • Weil spätere Generationen die Herkunftskultur nur noch von ferne kennen.

Seyran Ates hätte auch formulieren müssen, dass der Spagat vorwiegend zugunsten der Kultur der Aufnahmegesellschaft aufgelöst werden wird – nur ein kleiner Teil der mitgebrachten Kultur fließt in die Gesamtkultur der Gesellschaft ein:

  • Weil spätere Generationen ganz in der Aufnahmegesellschaft aufgewachsen sind.
  • Weil man von einer Aufnahmegesellschaft nicht zu viel verlangen darf.

Damit verändert sich das Schema 100:100 (Herkunftskultur:Aufnahmekultur) schrittweise zur Formel 10:90. Am Ende hat der Nachkomme von Zuwanderern nur noch eine einzige Kultur, die sich zu großen Teilen aus der ursprünglichen Kultur der Aufnahmegesellschaft zusammensetzt, und zu einem kleineren Teil aus der ehemaligen Herkunftskultur. Alles andere ist eine Utopie und eine Zumutung sowohl für Zuwanderer als auch für die Aufnahmegesellschaft. Ohne ein gerüttelt Maß an Assimilation geht es für nachfolgende Generationen nicht. Und das muss man auch klar sagen.

Seyran Ates spricht offen an, dass andere nicht die bunte Vermischung der Kulturen, sondern die Herausbildung einer neuen Einheitskultur als Folge von Multikulti prophezeien, weil die Vermischung der Kulturen die einzelnen Kulturen nicht bestehen lassen wird. Seyran Ates gibt aber keinen überzeugenden Grund an, warum das nicht so geschehen sollte. Sie wünscht nur, dass es nicht geschieht. Auch hier hätte Seyran Ates klar sagen sollen, dass die einzelnen Kulturen Orte brauchen, wo sie zuhause sind und Herr im eigenen Hause sind, um nicht unterzugehen. Hat sie als Kurdin noch nie davon gehört, dass die Türkei gezielt Türken in Kurdistan ansiedelte, um die kurdische Kultur zu verdrängen? Findet sie das etwa gut?

An ganz anderer Stelle beklagt Seyran Ates, dass die Religion mit der Auflösung nationaler und lokaler Identitäten wieder erstarkt, weil diese als einzige Identifikation übrig bleibt: Sieh an! Sie selbst spricht aus, dass der Schuss nach hinten losgeht, allerdings an einer anderen Stelle ihres Buches, so dass der Selbstwiderspruch nicht auffällt.

Filigrane Gefühligkeit statt klare Regeln

Seyran Ates hat auch nicht verstanden, dass nicht alle Menschen ein derart filigranes Empfinden haben wie sie selbst, das tausendfach abwägt und sich zwischen Alternativen nur schwer entscheiden kann. Die Masse der Menschen braucht klare, einfache, verstehbare Regeln. Natürlich müssen diese Regeln auch gute, vernünftige, menschliche Regeln sein, eine Diktatur wäre nicht akzeptabel. Aber man kann die Menschen dieser Welt nicht individuell mit dem Millimeterstab organisieren, wie Seyran Ates sich das in ihrer filigranen Gefühligkeit denkt. Das ist dann wieder – böse gesprochen – ein allzu deutscher Gedanke von ihr.

Ein Beispiel ist die doppelte Staatsbürgerschaft: Gerade dann, wenn man die Staatsbürgerschaft ganz emotionslos als Club-Mitgliedschaft versteht, gerade auch dann muss doch ins Auge fallen, dass ein unhaltbares organisatorisches Chaos entsteht, wenn immer mehr Menschen mehrere Staatsbürgerschaften haben. Es entstehen so übrigens auch Privilegien, die die Gleichheit der Menschen untergräbt, und es fallen wichtige Anreize weg, sich zu integrieren. Auch die Demokratie gerät ins Rutschen, wenn das politische Subjekt, das Staatsvolk, zu zerfließen beginnt. Wer nach Deutschland nicht nur als Gastarbeiter kommen möchte, sondern für Generationen hier leben will, der muss seine Herkunftsstaatsbürgerschaft abgeben, egal wie schmerzlich es ist. Umgekehrt sollte übrigens auch eine deutsche Auswandererfamilie die deutsche Staatsbürgerschaft irgendwann einmal abgeben müssen, wenn sie für mehrere Generationen dauerhaft im Ausland lebt.

Ein anderes Beispiel ist Özil: Wer für die Nationalmannschaft spielt, muss die Nationalhymne singen. Punkt. Dass dies Schmerzen bereiten kann, mag sein, ist aber nur für’s Feuilleton interessant. Ein anderes Beispiel ist ihre Verständnissinnigkeit für Bürger der ehemaligen DDR, denen mit der DDR ihre alte Heimat abhanden kam. Das ist zwar wahr, aber es ist nicht das Werk von bösen Mächten (Helmut Kohl *lach*), sondern von kleineren Aspekten abgesehen der Lauf der Welt und der Preis der Freiheit. Und spätestens beim Stichwort „Preis der Freiheit“ sollte Seyran Ates erkennen, dass es Schmerzen gibt, die man nicht vermeiden kann.

Weitere linke Verwirrungen

Beim Thema Maßlosigkeit muss auch der Umgang von Seyran Ates mit der „Geschichte“ thematisiert werden: Seyran Ates hat den deutschen Schuldkult offenbar gefressen wie einen Besen, der nun wie ein preußischer Ladestock in ihr steckt, so dass sie überall stramm steht, wo es um Nation und „Geschichte“ geht. Sie meint allen Ernstes, die deutsche Linke hätte ihre Lektionen aus „der Geschichte“ gelernt: Jene deutsche Linke also, die die „Geschichte“ als Nazi-Keule gegenüber Humanisten und Demokraten einsetzt. Jene deutsche Linke, die sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen des Sozialismus so schwertut. Der Gipfel ist ihre Meinung zum Thema Beschneidung: Wenn es nur um Muslime ginge, würde Seyran Ates sie rigoros verbieten, aber da es ja auch um Juden geht, dürfe man das „wegen der Geschichte“ nicht. Unsinn! Man darf es wegen Toleranz und Humanismus nicht, aber doch nicht „wegen der Geschichte“! Wer Juden nur „wegen der Geschichte“ toleriert, der hat nun wahrlich nichts aus der Geschichte gelernt.

Unredlich wird Seyran Ates in Sachen Thilo Sarrazin. Diesen hält sie für „rassistisch“, weil er sagte, dass Muslime und Türken in Deutschland genetisch im Durchschnitt von einem niedrigeren Niveau aus in die Bildungskarriere starten als der Rest der Gesellschaft. Was Seyran Ates weglässt, ist das Wörtlein „im Durchschnitt“ und die Begründungen: Weil die Einwanderung aus türkischen und islamischen Ländern nun einmal eher aus der Unterschicht der Herkunftsländer erfolgte, und weil die hie und da gepflegte Tradition der Cousinen-Ehe die Nachkommen manchmal erblich belastet. Diese Feststellungen sind aber weder bösartig noch rassistisch, sondern einfach nur die blanke Wahrheit. Doch Seyran Ates dreht es rhetorisch so, dass der Eindruck entsteht, Sarrazin hätte „die“ Türken und „die“ Muslime gemeint, was in der Tat ein rassistisches Vorurteil wäre, oder Sarrazin hätte mit seiner Feststellung Bildungsaufstiege von Türken und Muslimen für unmöglich erklärt. Indem Seyran Ates in den Chor der Heuchler gegen Sarrazin mit einstimmt, verfehlt sie ihre Menschlichkeit vollkommen. Sie hätte sich vielmehr wie Necla Kelek hinter Sarrazin stellen müssen und auf diese Weise für eine wahrhaftige, vernunft- und lösungsorientierte Haltung zu den Problemen streiten müssen.

Von Franz Josef Strauß weiß Seyran Ates nur zu berichten, dass dieser leider oft angetrunken gewesen sei – wie niveaulos! Seyran Ates hätte sich lieber Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete, dass Franz Josef Strauß gerne lateinische Redewendungen einfließen ließ, und sich fragen, warum Schopenhauer den Satz formulierte: „Ohne Latein lebt man wie im Nebel“. Vielleicht ist das entscheidende Defizit von Seyran Ates einfach ihre mangelnde Kenntnis des klassischen Humanismus, ohne den die deutsche Kultur und überhaupt die Welt der Aufklärung nicht zu verstehen ist?

Die Toleranzidee bei Friedrich dem Großen deutet Seyran Ates nicht vor dem Hintergrund seiner Zeit. Vielmehr legt Seyran Ates an Friedrich den Großen direkt den Maßstab heutiger Werte an, und kommt so zu dem Schluss, dass er kein Vorbild sein könne. Wenn man bedenkt, dass Seyran Ates an anderer Stelle die richtige Einsicht formuliert, dass man Mohammed und den Koran nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit verstehen darf, ist dieses niveaulose, linke „Geschichtsbashing“ gegen Friedrich den Großen – denn mehr ist es nicht – einfach nur traurig. Friedrich der Große wird für alle Zeiten ein Meilenstein der Aufklärung für die deutsche Kultur sein, und das auch und gerade dann noch, wenn man bedenkt, dass er vorwiegend französisch sprach und lateinische Autoren zur Lektüre empfahl.

Religion

Die Ausführungen zum Thema Religion sind höchst enttäuschend. Vor jeder inhaltlichen Argumentation verstört die Widersprüchlichkeit von Seyran Ates: Da will sie das Kopftuch konsequent aus Schulen und Behörden verbannen, aber gleichzeitig sei es völlig in Ordnung, wenn Özil als Nationalspieler (!) vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Nationalhymne nicht singt (sondern Koranverse rezitiert, was Seyran Ates aber verschweigt). Es ist Seyran Ates nicht gelungen, einen Maßstab zu formulieren, der ihre Meinungen widerspruchsfrei begründen könnte. Auf der einen Seite Multikulti, auf der anderen Seite ein erstaunlich niveauloses Islam-Bashing, das passt so nicht zusammen.

Statt zu Kernfragen zu kommen hält sich Seyran Ates mit Oberflächlichkeiten auf: Zur DiTiB fällt ihr nur „Kopftuch“ und „islamische Feiertage“ ein. Aber das ist doch nicht das Entscheidende! Das Entscheidende ist die Haltung von DiTiB zu den Menschenrechten, zur Gleichberechtigung von Mann und Frau jenseits des Kopftuchs, sowie natürlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft, das zentral ist für die Frage, ob sich diese Form des Islams bei uns integrieren kann. Das erwähnt Seyran Ates aber genauso wenig, wie das Ziel der DiTiB, türkische Zuwanderer dauerhaft an die Herkunftsgesellschaft zu binden und eine gelungene Integration in die deutsche Kultur zu hintertreiben. Übrigens schreibt Seyran Ates Ditib konsequent falsch als „Ditip“.

Ebenso enttäuschend ist, dass Seyran Ates den Islam immer nur über die einzelnen Gläubigen definiert. In Wahrheit definiert sich Islam weltweit über das, was die jeweiligen Religionsgelehrten lehren. Die islamischen Hierarchien sind zwar sehr viel heterogener als im Christentum, aber es gibt sie, und wer den Islam modernisieren will, der muss auch dort ansetzen. Seyran Ates setzt aber nur beim einzelnen Gläubigen an. Das wäre so, wie wenn der linke Katholik Heinrich Böll in den 1950er Jahren gesagt hätte: „Wir brauchen ein Zweites Vatikanisches Konzil doch gar nicht, wir können auch jeder für sich modern sein.“ – Daran sieht man, wie abwegig Seyran Ates denkt.

Völlig enttäuschend ist, dass Seyran Ates die existierenden Reformbewegungen im Islam restlos ignoriert (z.B. Schule von Ankara, Khorchide, Abu Said, etc.). Seyran Ates scheint in der Vorstellung zu leben, man könne dem Islam die Menschenrechte vor den Latz knallen, und dieser hätte sie dann brav zu schlucken. Sehr deutlich wird das bei ihrer Besprechung der Kairoer Menschenrechtserklärung des Islam: Hier sieht man wieder, dass Seyran Ates von der Wirkmächtigkeit der Kultur hinter den Verfassungstexten keine Ahnung hat. Wer den Islam mit der Moderne versöhnen will, der muss anfangen, Theologie zu betreiben und die Kultur des Islam verändern! Der muss aus dem Islam selbst heraus die Einsichten und Argumente entwickeln, die zur Moderne führen. Nur was im Islam selbst drin steckt, kann glaubwürdig zur Entfaltung gebracht werden! Und ja: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es möglich ist, die Moderne auch in den Urgründen des Islam vorzufinden. Wer hingegen glaubt, eine Religion durch Unterwerfung und Beschneidung „reformieren“ zu können, der wird fatal scheitern.

Damit nähern wir uns dem Kern der Irrtümer von Seyran Ates bezüglich der Religion: An manchen Stellen hat man das Gefühl, dass Seyran Ates zu jenen schlichten Geistern gehört, die glauben, der Islam bräuchte gar keine Reform. Das ist immer dort sehr deutlich der Fall, wo sie schreibt, die Fundamentalisten aller Religionen seien das Problem. Damit übersieht sie völlig, dass das, was wir beim Christentum als Fundamentalismus von Randgruppen kennen, beim Islam leider noch die vorherrschende traditionelle Theologie ist! Man kann den Islam nur dann als eine Religion wie jede andere auch behandeln, wenn man auf den Reformbedarf hinweist. Man muss begreifen, um wieviel moderner der konservative Ratzinger-Katholizismus gegenüber dem traditionalistischen Mainstream-Islam ist, um zu begreifen, um was es überhaupt geht. Davon spricht Seyran Ates aber nicht, sondern nur von Verfassungen, die über der Religion stehen müssen, ohne dass sie an den kulturellen Unterbau denkt, den Verfassungen brauchen. Das würde auch erklären, warum Seyran Ates die Reformbewegungen im Islam konsequent ignoriert, und warum sie lieber am Kopftuch als an den echten Kernfragen (s.o.) interessiert ist: Wo es nichts zu reformieren gibt, braucht es auch keine Reform. Dieses Denken ist ein besonders übler Aspekt von Multikulti, weil er das zentrale Problem völlig ausblendet. Seyran Ates hat eine komplett falsche Analyse des Islam-Problems! Ohne eine Reform ist eine Integration des Islam gerade auch in den von ihr so beschworenen Verfassungsstaat nicht möglich!

Fazit

Seyran Ates verfälscht ihre eigene geniale Idee von Transkulti, und landet wieder beim alten, dummen Multikulti. Dabei verstrickt sie sich in unauflösliche Widersprüche. Der tiefere Grund dafür ist, dass zwei Seelen in der Brust von Seyran Ates schlagen: Einerseits Aufklärung, Vernunft und praktische Menschlichkeit, andererseits eine linke Ideologie mit höchst romantischen Vorstellungen von der Gestaltung der Welt.

An manchen Stellen hat man das Gefühl, Seyran Ates hätte das Buch „Deutschsein – eine Aufklärungsschrift“ von Zafer Senocak gelesen, ein Buch gegen die deutsche Kultur und gegen die Kultur der Aufklärung, denn ihre Irrtümer und Selbstwidersprüche stimmen mit den Irrtümern und Selbstwidersprüchen dieser „Aufklärungsschrift“ in vielen Punkten überein.

Hoffen und wünschen wir, dass Seyran Ates ihre inneren Konflikte lösen kann, und zurückkehrt auf die Seite von Aufklärung, Vernunft und Menschlichkeit! Gegen Utopien und Romantik, für kluge Visionen mit Bodenhaftung! Gegen Multikulti, für Transkulti! Gegen kulturelles Chaos und Werterelativismus, für eine humanistische Nationalkultur als Leitkultur, als Garantin von Weltoffenheit und demokratischer Vielfalt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Februar 2014)

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010)

Eine umsichtige und kundige Warnung vor der kommenden Gefahr

Sarrazins umstrittenes Buch ist keine Polemik gegen sozial Bedürftige, Ausländer oder Muslime; es ist auch nicht sozialdarwinistisch oder rassistisch; es ist vielmehr ein unglaublich kundig und umsichtig geschriebenes Buch, das differenziert argumentiert und niemanden ausgrenzt oder ignoriert. Aber das Erstaunlichste ist: Migranten sind, anders als die veröffentlichte Meinung es darstellt, überhaupt nicht das zentrale Thema dieses Buches!

Das zentrale Thema von Sarrazins Buch ist der deutsche Sozial- und Rechtsstaat, der völlig falsche Anreize für das Verhalten aller Menschen in Deutschland setzt, sei es ihre Gesunderhaltung, sei es ihre Familiengründung, sei es ihr Arbeitswillen, sei es ihre Rechtstreue, sei es ihre Integrationsbereitschaft oder ihre Neigung zu Aus- oder Einwanderung. Schuld an allen Missständen sind natürlich nicht „die Ausländer“ oder „die Muslime“, sondern die Gutmenschen, Deutschlandhasser und Multikulti-Fanatiker, die bekanntlich eher unter den „Urdeutschen“ zu suchen sind.

Die dramatisch geringen Geburtenzahlen gerade der intelligenteren Menschen sind das wichtigste Problem, das Sarrazin thematisiert. Denn es ist Stand der Wissenschaft, dass statistisch gesehen 50-80 Prozent der Intelligenz erblich sind. Da sich Sarrazin mit der ökonomischen Überlebensfähigkeit Deutschlands befasst, konzentriert er sich mit Recht auf eine rational-technisch verstandene Intelligenz. Wenn nämlich die intelligenten Menschen dramatisch weniger Kinder bekommen, die weniger intelligenten Menschen aber mehr Kinder bekommen, dann wird die durchschnittliche Intelligenz in Deutschland insgesamt dramatisch und rasch sinken.

Keine noch so große Bildungsanstrengung kann dies verhindern, da Bildung sich über Generationen nur langsam wieder aufbauen lässt (immer im Durchschnitt gedacht, in Einzelfällen kann es immer anders sein). Sarrazin verdeutlicht dies am Beispiel Berlin: Dort wird für Bildung sehr viel mehr Geld ausgegeben als anderswo, die Ergebnisse sind aber erstaunlich bescheiden.

Deshalb plädiert Sarrazin neben Anstrengungen im Bildungswesen dafür, die falschen Anreize unseres Sozialstaates umzudrehen, so dass Akademiker tendentiell mehr Kinder, Sozialhilfeempfänger aber tendentiell weniger Kinder bekommen, als dies zur Zeit der Fall ist. Böse Zungen haben dies als Eugenik im Sinne der Nationalsozialisten bezeichnet. Sarrazin wurde auch unterstellt, er habe sich an manchen Stellen nicht von rassistischen Verirrungen abgegrenzt – aber Sarrazin argumentiert so sachbezogen und präzise, dass diese Forderung Fehl am Platze ist. Es ist immer klar, dass Sarrazin auf dem Boden der Humanität steht.

Bis hierher hat Sarrazin noch kein Wort über Zuwanderung verloren. Das Thema Zuwanderung tritt zu den beschriebenen Problemen verschärfend hinzu. Denn der deutsche Sozial- und Rechtsstaat hat die Anreize für Zuwanderung leider so gesetzt, dass im Durchschnitt die eher weniger intelligenten Menschen nach Deutschland kommen. Eine solche objektiv wahre statistische Aussage über die durchschnittliche rational-technische Intelligenz als ein „Werturteil“ oder als ein „Pauschalurteil“ über Zuwanderer lesen zu wollen, verbietet sich von selbst. Wer glaubt, aus Liebe zu den Menschen die Liebe zur Wahrheit verraten zu dürfen, verrät die Liebe zu den Menschen gleich mit.

Da die Muslime (auch hier natürlich nur im Durchschnitt, der Einzelfall ist immer anders) die größten Integrationsprobleme bereiten und auch mit die höchsten Geburtenraten haben, befasst sich Sarrazin mit ihnen in mehreren Unterkapiteln. Allerdings stellt Sarrazin klar, dass die Integrationsprobleme der Muslime nicht genetisch begründet sein können, da Muslime den unterschiedlichsten Ethnien angehören. Er sieht vielmehr die Kultur des Islam als Hauptursache für die spezifischen Integrationsprobleme der Muslime. Natürlich werden liberale Muslime und traditionalistische Muslime bei Sarrazin nicht in einen Topf geworfen.

Sarrazin rechnet überzeugend vor, dass die „Urdeutschen“ schon erschreckend bald in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden [wodurch die kulturelle Tradition abreißen wird; 24.08.2023; das ist hier der Punkt, nicht „deutsche Gene“; 27.09.2023] und der Islam die Mehrheit übernimmt, wenn alles so weitergeht wie bisher. Sarrazin diskutiert auch die Unwahrscheinlichkeit einer Islamreform durch die Islamverbände. Zur Lösung des Problems schlägt Sarrazin vor, die Anreize und Anforderungen zur Integration beim Thema Islam deutlich anders zu akzentuieren, als es derzeit geschieht.

Alles in allem hat Sarrazin ein überzeugendes Werk vorgelegt, das auch sprachlich und stilistisch anspricht, und in dem sich Humanität vor allem auch durch unbedingte Liebe zur Wahrheit und präzise Sachlichkeit ausdrückt. Dabei hat Sarrazin nicht bei jeder einzelnen statistischen Aussage über Bevölkerungsgruppen dazu gesagt, dass sich Pauschalurteile und rassistische Lesarten von selbst verbieten; das wäre auch albern, denn dass Sarrazin fest auf dem Boden der Humanität steht, ist im Zusammenhang stets klar.

Es ist erschreckend, wie Sarrazin und sein Buch verleumdet werden. Allein um die Verleumdungen zu durchschauen lohnt sich die Lektüre. Manche Kritik an Sarrazin ist auch der Tatsache geschuldet, dass viele Menschen in Deutschland Berührungsängste und Verständnisprobleme im Umgang mit Statistik und Vererbungslehre zu haben scheinen, so dass ihre Vorwürfe an Sarrazin zwar ehrlich gemeint aber dennoch unsinnig sind. Für manche eher romantisch veranlagte Menschen, die die Weltwirklichkeit gerne verklärt sehen, mag auch die Rationalität der Analyse zynisch erscheinen; Zynismus wird man bei Sarrazin jedoch nicht finden, höchstens Sarkasmus. An manchen Stellen plaudert der langjährige Spitzenbeamte und Berliner Finanzsenator Sarrazin auch aus dem Nähkästchen der Macht; auch dies mag für manche Leser eine ungewohnte Ernüchterung sein.

Es ist erschreckend, was Sarrazin an bitteren Wahrheiten offenbart: Deutschland muss dramatisch umsteuern. Mit ein wenig Kosmetik hier und da wird es nicht mehr getan sein. Uns läuft die Zeit davon. Denn wir haben Deutschland nur von unseren Enkeln geborgt.

PS 24. August 2023

Die Zahl der Falschinformationen und Missverständnisse zu Thilo Sarrazin ist inzwischen schier übermächtig geworden, so dass sich ein öffentliches Fehlurteil gebildet hat. Deshalb noch einige zusätzliche Erklärungen und Verdeutlichungen.

Thilo Sarrazin referiert zum Thema Vererbung von Intelligenz nur den Stand der Wissenschaft, und der lautet seit eh und je, dass sich Intelligenz teilweise vererbt, teilweise aber auch Erziehung und Umwelt verdankt. Nicht mehr und nicht weniger. Bildungsanstrengungen lohnen sich also immer, weil ein Teil der Intelligenz erworben werden kann, doch der mögliche Bildungsaufstieg ist nicht grenzenlos, sondern durch den angeborenen Teil begrenzt. Thilo Sarrazin plädiert dafür, dass jeder die Bildung bekommt, die er zur Entfaltung seines Potentials braucht. Aber Thilo Sarrazin warnt zugleich davor, sich zu viel zu erwarten: Nicht jeder hat das Potential zum großen Bildungsaufstieg, auch wenn man noch so viel Geld in Bildung investiert.

Thilo Sarrazin strebt keine „Unterdrückung“ der Geburtenrate von weniger gebildeten Menschen an. Vielmehr beklagt er, dass die Anreize unserer Sozialsysteme zur Zeit so gesetzt sind, dass Gebildete einen Anreiz haben, weniger Kinder zu bekommen, Ungebildete aber einen Anreiz haben, mehr Kinder bekommen. Diese Fehlanreize will Sarrazin korrigieren. Es geht nicht darum, irgendjemandem das Kinderkriegen zu verbieten oder durch die Verweigerung von Sozialleistungen Negativanreize zu setzen. Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat.

Manche meinen, Sarrazin würde biologistisch denken, denn jeder könne durch Anstrengung einen Bildungsaufstieg erreichen. Wer so denkt, hat das Grundproblem nicht verstanden. Noch einmal: Die Aufstiegsmöglichkeiten sind durch die angeborenen Fähigkeiten begrenzt. Anstrengung lohnt sich immer, aber sie führt nicht grenzenlos nach oben, sondern stößt irgendwann an eine Decke, bei manchen früher, bei manchen später. Länger einheimische Familien haben in den Jahrzehnten der BRD die Chance zum Bildungsaufstieg meistens genutzt. Ihr Aufstiegspotential ist damit ausgereizt. Paradoxerweise sind Bildungsaufstiege deshalb eher bei manchen Migranten zu erwarten, so ungebildet sie bei ihrer Ankunft in Deutschland auch sind: Denn diese kommen oft aus Ländern, in denen Bildung nicht sonderlich gefördert wurde, so dass ihr Potential nicht genutzt wurde.

Es geht also nicht um Biologismus. Es geht nicht darum, aus biologischen Gegebenheiten Werturteile abzuleiten und auf dieser Grundlage diese oder jene Gruppe von Menschen zu diskriminieren. Thilo Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat: Jeder soll Kinder und Sozialleistungen und Bildung haben. Aber die Fehlanreize müssen aufhören. Denn es geht darum, wie Deutschland seinen wichtigsten Rohstoff erhält: Kluge Köpfe. Auch zum Wohle der weniger klugen Köpfe.

Es kursiert ein Video mit Thilo Sarrazin im Netz, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zieht zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat. Diese Aussage passt auch gar nicht zu den Aussagen in Sarrazins Buch: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe.

In seinem Buch „Tugendterror“ kommentiert Sarrazin das gefälschte Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen): „Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Verrückterweise glauben viele rechtsradikale Sarrazin-Fans die Unterstellungen, die ihm von linker Seite gemacht werden, so dass sich die Extreme in ihrem Fehlurteil über Sarrazin gegenseitig bestätigen. So benutzen Rechtsradikale z.B. den Vergleich von Pferdezucht und Mischehen und berufen sich dabei auf Sarrazin. Man liest auch immer wieder, Sarrazin hätte einen Zuwanderungsstop für Muslime gefordert: Doch in Wahrheit fordert Sarrazin immer wieder, auf die Qualifikation der Zuwanderer zu achten.

Gibt es an Sarrazin gar nichts zu kritisieren? Im Detail gewiss, aber erst mit seinem fünften Buch zum Thema Islam äußerte Thilo Sarrazin eine These, die eine deutlichere Kritik rechtfertigt: Sarrazin meinte, dass der Islam anders als das Christentum grundsätzlich zu keiner Modernisierung fähig wäre.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2010; am 24. August 2023 festgestellt, dass die Rezension nicht mehr bei Amazon vorhanden ist.)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels (2006)

Ein Plädoyer für eigenwillige Intellektualität und das unvergänglich Schöne im Leben

Im Zentrum des Romans „Die Eleganz des Igels“ steht eine 54jährige verwitwete Concierge eines Pariser Nobelwohnblocks. Nach außen hin verbirgt sie, dass sie sich im Laufe der Zeit eine hohe Bildung angelesen hat und sich in Literatur, Philosophie, Musik und Kunst bestens auskennt, indem sie die Rolle der mürrischen Concierge spielt und darin bis zur Perfektion gelangt ist. Paloma, die aufgeweckte Dreizehnjährige die ihren Selbstmord plant, und Monsieur Ozu, ein neu zugezogener japanischer Millionär von hoher Bildung, sind die einzigen Bewohner des Blocks, denen die Intellektualität der Concierge nicht entgeht; sie decken ihr Geheimnis auf, befreien sie aus ihrer intellektuellen Einsamkeit und schließen Freundschaft. Doch so glatt geht die Sache am Ende nicht auf, denn das Schicksal ist launenhaft und ungerecht.

Mehr noch als die Handlung stehen philosophische Überlegungen, die sich an Alltagssituationen anknüpfen, im Mittelpunkt des Romans: Aus Banalitäten werden hochintelligente Betrachtungen über das Leben abgeleitet, und hohe Philosophie und Kunst wird direkt mit dem Alltag konfrontiert und auf praktische Tauglichkeit hin überprüft. In diesem Feuerwerk der Assoziationen von Bildung und Alltag liegt ein wesentlicher Teil des Reizes an diesem Buch.

Dieser Roman setzt nicht nur der Pariser Concierge und nicht nur dem ewigen Kleinkrieg zwischen Spießertum und Intellektualität ein literarisches Denkmal, sondern vor allem auch dem Typus des Autodidakten, der durch eigene Lektüre zu einer hohen Bildung gelangt ist. Ohne auf seinem Bildungsweg durch Rücksicht auf Schulen, Moden und Konventionen geformt worden zu sein, kann er seine Bildung und Vernunft frei in eigenwilliger Originalität entfalten und auf alles anwenden, wie es ihm beliebt. Andererseits kann diese Freiheit den Preis der Einsamkeit kosten, der zu Melancholie bis hin zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins führen kann.

Am Ende des Buches behält diese Grundstimmung die Oberhand: Das Schicksal erlaubt es nicht, das die Concierge nach 54 Jahren der Einsamkeit zu einer optimistischen Weltsicht vordringt und mit spät entdeckten Gleichgesinnten zu leben beginnt. Gewiss, dieses Ende ist keineswegs unrealistisch, aber musste das sein? Vielleicht war der Autorin ein einfaches Happy End schlicht zu simpel. Dem Leser zum Trost sei festhalten: Auch ein Happy End wäre selbstverständlich möglich gewesen, das traurige Ende des Romans ergibt sich keinesfalls zwingend; es handelt sich hier also nicht um ein Plädoyer gegen das Streben und für die Ergebenheit in einen schicksalhaften Fatalismus, dem niemand entrinnen könne – ganz im Gegenteil! Paloma sagt es im Schlusskapitel: Es gibt die Möglichkeit, Momente unvergänglicher Schönheit zu erleben und das Schicksal durch Entscheidungen zu beeinflussen – und sie entschließt sich, zu leben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

Ulrike Guérot: Begräbnis der Aufklärung? – Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit (2020)

Die Engführung des grün-linken Zeitgeistes endet in antidemokratischem Denken

Ulrike Guérot steht fest auf dem Boden des grün-linken Zeitgeistes. Das ist allgemein bekannt, wird aber auch in diesem Büchlein am Rande immer wieder sehr deutlich: Sie träumt von einer Welt ohne Staaten und Grenzen (S. 68), und wünscht sich die Verbindung von Demokratie und Sozialismus (S. 66 f.). Der Kapitalismus ist das Böse. Die „Zivilgesellschaft“, die sie in linken NGOs realisiert sieht, gefällt ihr sehr (S. 31 f.). Der britische Brexit ist ihrer Meinung nach ein Weg in einen neuen Totalitarismus (S. 25). Demokratie ist für Guérot immer „liberale“ Demokratie (S. 28 f.). Dass in einer Demokratie auch konservative Politiker Mehrheiten erringen können, scheint bei ihr eher nicht vorgesehen zu sein. Guérot glaubt, dass z.B. ein Fleischverbot oder ein Verbot der Weihnachtsbeleuchtung sinnvoll und machbar seien, und auch die Abschaltung der Atomkraftwerke nach Fukushima sei problemlos möglich gewesen, meint sie (S. 29, 47).

Last but not least glaubt sie an die „worst case“ Apokalypse des menschengemachten Klimawandels: Sie glaubt fest daran, dass die ganz große Katastrophe in allernächster Zukunft bevorsteht, wenn die Menschheit nicht dramatisch umsteuert (z.B. S. 26). Das nennt sie die „posthume Kondition“ unserer Zeit.

Demokratie sei das Problem

Davon ausgehend stellt Ulrike Guérot die Frage, ob die „liberale“ Demokratie in der Lage ist, die nötigen vernünftigen Entscheidungen zu treffen, um das Überleben der Menschheit angesichts der Klima-Apokalypse zu treffen (S. 28 f.). Die „liberale“ Demokratie ist für sie grundsätzlich nicht dazu in der Lage, Verbote auszusprechen, weil Liberalität für Guérot automatisch Laschheit bedeutet (S. 37). Zudem sind die Bürger der „liberalen“ Demokratie für Guérot eher dekadente Konsumenten als Bürger, die sich zu keinem vernünftigen, moralischen Ziel mehr aufraffen können (S. 37).

Daran knüpft Ulrike Guérot eine ausführliche Demokratiekritik an: Churchills Diktum, dass die Demokratie die am wenigsten schlechte Staatsform ist, stellt sie infrage (S. 50). In Wahrheit wäre unsere Demokratie eine konstitutionelle Oligarchie (S. 30 f.). Die Gesetzgebung in einer Demokratie wäre immer willkürlich, weil das Wahlvolk nicht wirklich handlungsfähig wäre (S. 33). Bis auf Ausnahmen seien demokratische Beschlüsse immer ungerecht und gegen das Gemeinwohl gerichtet (S. 34). Die beiden Lager Links und Rechts würden sich immer gegenseitig blockieren (S. 34). Ein Volk wisse nicht, was gut für es ist (S. 50). – Es sind die altbekannten Halbwahrheiten des antidemokratischen Denkens.

Welche Alternative zur Demokratie schlägt Guérot vor? Losverfahren und Räterepublik werden als Alternativen geprüft und verworfen (S. 35). Guérot wird nicht völlig deutlich, worauf sie hinaus will, und zündet eine Nebelkerze: Sie problematisiert den Begriff „Souveränität“. Angeblich würde Souveränität auf Herrschaft über andere und auf Zwang hinauslaufen. Echte Freiheit gäbe es aber nur ohne das (S. 33 Fußnote 14, S. 67 f.). Hier träumt wieder einmal jemand von einer paradiesischen Staatsform, in der alle in völliger Freiheit friedlich und vernünftig zusammenleben. Guérot hätte gerne eine Welt ohne Staaten und Grenzen, eine „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“. Wie das gehen soll, verrät sie nicht.

Jedenfalls hat Guérot zu ausführlich über das Unvermögen der Demokratie, Verbote auszusprechen, geklagt, um nicht deutlich werden zu lassen, worum es wirklich geht: Nämlich um genau das, was sie angeblich nicht will: Um die Souveränität, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, Verbote auszusprechen und Zwang gegen Andersdenkende auszuüben. Am Ende träumt sie von einer „(hoffentlich freiwillig hervorgebrachte[n]) Kultur der Selbstbegrenzung“ (S. 68). Mit diesem „hoffentlich freiwillig“ deutet sie erneut an, dass es im Notfall eben auch ohne Freiwilligkeit gehen muss. Ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf Guérots Gesinnung ist der Umstand, dass sie am Anfang noch mit Aufklärung und Vernunft als Zielen und Grundlagen guten und richtigen Lebens argumentiert, doch weiter hinten rutschen Aufklärung und Vernunft zusammen mit der Demokratie auf die Anklagebank („führen Aufklärung und Demokratie … in einen Bürgerkrieg“ S. 36; „Die Aufklärung und mit ihr die liberale Demokratie haben versagt“ S. 50; „Liberaldemokratisch dürfte dies nicht aufzulösen sein“ S. 64; „Wo … die Vernunft als Ausdruck des Kant’schen Gewissens versagt hat“ S. 68).

Auf der anderen Seite erkennt Guérot richtig, dass der Mensch an sich selbst arbeiten muss, und nicht nur an der Technologie (S. 52 f., 65). Aufklärung und Vernunft werden zumindest am Anfang noch als erstrebenswerte Ziele genannt. Später hofft sie auf eine „aufgeklärte oder zumindest abgeklärte Menschheit“ (S. 68). Aber auch Meditation als Schulfach wird von Guérot befürwortet (S. 52). Dass die sieben Todsünden in der Konsumwelt zu Tugenden geworden sind, hält Guérot mit Recht für falsch (S. 48).

Kurz: Guérot lässt der Menschheit zwar die Chance, es freiwillig, vernünftig und demokratisch zu schaffen, aber sie ist offenbar bereit, Aufklärung und Demokratie zu opfern, falls die Dinge sich nicht so entwickeln, wie sie sich das vorstellt.

Typisch antidemokratisches Denken

Das Denken von Ulrike Guérot ist ein exemplarischer Fall von antidemokratischem Denken: Man versteift sich fanatisch auf irgendein Problem als der ganz großen Katastrophe – Klima, Demographie, Integration, Euro-Krise, was immer – und sieht, dass die Demokratie das Problem anscheinend nicht zu lösen vermag. Daraus schließt man messerscharf, dass die Demokratie nicht die beste Staatsform sein kann, und beginnt an eine andere Staatsform zu glauben, von der man sich einredet, dass es in ihr besser zugehen würde.

Dieses Denken beruht auf grundlegenden Denkfehlern:

(1) Oft ist der fanatisch aufgeblasene Problemfall nicht ganz so dramatisch, wie man sich einbildet. Statt die Demokratie zu hinterfragen, sollte man besser seine Annahmen hinterfragen. Beim Klima ist es gewiss nicht so dramatisch, wie behauptet wird. Das ist leicht zu sehen. Ulrike Guérot ist viel zu sehr dem grün-linken Zeitgeist und seinen Hysterien verhaftet.

(2) Es ist ein Irrglaube, eine andere Staatsform sei besser. Auch wenn es tatsächlich gelingen sollte, ein Problem durch die Abschaffung der Demokratie zu lösen, würde man sich dafür zahlreiche andere Probleme einhandeln, die nicht weniger schwer wiegen.

(3) Die Korrekturfähigkeit von Demokratie wird oft unterschätzt. Demokratie kann zwar träge sein und Probleme lange ignorieren. Aber spätestens wenn Probleme akut werden, wacht die Demokratie auf. Das ist oft leider spät, aber besser spät als nie. Andere Systeme wachen womöglich selbst dann nicht auf. Es ist jedenfalls vollkommen falsch zu glauben, Demokratie sei zu Verboten und moralischem Handeln nicht fähig. Eine Demokratie ist zu schlichtweg allem fähig, wenn nur die Stimmung im Volk entsprechend ist. Guérot selbst zählt ja viele historische Beispiele auf, in denen sich Demokratien als handlungsfähig erwiesen haben (S. 41). Dass Guérot es als etwas völlig neues und mit der Demokratie unvereinbares anpreist, dass sich die Menschen vom „anything goes“ verabschieden müssen, ist Unsinn (S. 64).

Kurz: Churchill behält Recht. Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen, die jemals ausprobiert worden sind. Man muss einen Blick für das Machbare, das Realistische und das Wünschenswerte haben. Ulrike Guérot hat diesen Blick nicht. Demokratie ist höchstens dann nicht machbar, wenn zu viele Bürger keine Demokraten sind, oder sich die Bürger in unversöhnliche Lager aufspalten.

Zweites großes Thema: Verstrickung in der digitalen Welt

Das zweite große Thema, das Guérot in diesem Büchlein bearbeitet und ebenfalls zur „posthumen Kondition“ rechnet, ist die zunehmende Verstrickung des Menschen in die digitale Welt: Wir werden immer abhängiger von Computern und Netzen. Wir überlassen den Algorithmen immer mehr Entscheidungen. Wir verlernen, ohne sie zu leben. Wir machen keine echten Erfahrungen mehr. Das Irrationale sei das Menschliche.

Das alles sind reale Probleme, aber Ulrike Guérot überzieht auch diese Probleme ins Maßlose: Denn natürlich machen wir immer noch Erfahrungen. Natürlich gibt es auch Anfänge einer Gesetzgebung zur Regulierung des Netzes. Es ist auch ganz falsch zu glauben, dass Algorithmen rational, perfekt und unmenschlich seien, sondern dahinter stehen immer Menschen, mit höchst menschlichen, irrationalen, kommerziellen und politischen Interessen. Die Digitalisierung ist mitnichten das Ende der Geschichte, als das sie Guérot beschwört.

Es ist auch befremdlich, dass Guérot sich statt der Nationalstaaten die „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“ wünscht (S. 68), während sie gleichzeitig beklagt, dass der Einzelne in der durchalgorithmisierten Welt keinen Einfluss mehr habe. Denn die Orte, an denen der Einzelne Einfluss nehmen kann, sind natürlich vor allem die gewohnten Demokratien der menschlich gewachsenen Nationalstaaten, während eine anonyme, internationale „selbststeuerungsfähige Organisation“ sich eher nach jenem unbeeinflussbaren Moloch anhört, den Guérot fürchtet.

Schwaches Denken

Ulrike Guérot ist zum Opfer ihres eigenen ungenauen Denkens geworden, das sich die Argumente zur Erreichung vorgefasster Ergebnisse zurechtbiegt. Es finden sich in ihrem Text viele falsche und schräge Argumente, die noch nicht genannt wurden. Einige davon wollen wir hier aufzählen.

Wenn man Politiker per Los statt per Wahl bestimmt, würde die Repräsentation wegfallen, meint Guérot (S. 35). Das stimmt natürlich nicht. Die Repräsentanten würden dann nur auf eine andere Weise bestimmt, es wären aber immer noch Repräsentanten. – Wie viele, so glaubt auch Guérot, dass Links und Rechts heute verwechselbar geworden sind (S. 37). Das ist keineswegs so. Vielmehr wird das normale demokratische Wechselspiel von Rechts gegen Links aus verschiedenen Gründen behindert. Insbesondere dadurch, dass allzu viele Menschen zu der undemokratischen Überzeugung gelangt sind, man dürfe konservative Positionen aus dem erlaubten Spektrum der „liberalen“ Demokratie ausschließen. – Es ist auch völlig übertrieben, dass die Bürger heute willenlose Konsumenten seien (S. 39 f.). Ganz so schlimm ist es nicht. In diesem Zusammenhang ist es auch unverschämt, wenn im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution in der DDR die Banane als Symbol der wahren Motivation der Menschen beschworen wird (S. 40). Hier zeigt sich wieder, dass Ulrike Guérot eine in der Wolle gefärbte Linke ist, die bis heute innerlich nicht verwunden hat, dass die Menschen den real existierenden Sozialismus nicht mittragen wollten. – Guérot meint, das Projekt der ersten Aufklärung sei das Begreifen gewesen, dass es keinen Gott gibt (S. 61). Das ist Unsinn. Die Aufklärer glaubten bis auf wenige Ausnahmen alle an einen Gott. Nur radikale Materialisten und Linke nicht. Dies ist ein weiterer Fingerzeig auf das denkerische Milieu von Guérot. – Völlig falsch ist auch ein Seitenhieb gegen Donald Trump: Dieser hätte das atomare Armdrücken mit Nordkorea wieder aufgenommen, meint Guérot (S. 64). In Wahrheit hat Trump Nordkorea an den Verhandlungstisch gebracht. Wie viele, so begreift auch Guérot nicht, dass das notorische Verbreiten von hysterisch aufgeblasenen Unwahrheiten über den politischen Gegner nicht zur eigenen Glaubwürdigkeit beiträgt. Aber auch das ist nichts neues. Das war schon bei Ronald Reagan so.

Sehr blauäugig ist Ulrike Guérot in Bezug auf die Bewegungen „Fridays for Future“ und Extinction Rebellion (S. 65 f.): Es ist zwar richtig, dass diese Bewegungen ein Ziel jenseits des Konsum haben, aber das allein genügt nicht. Denn das Ziel wird durch pseudowissenschaftlichen Fanatismus definiert. Andersdenkende werden nur noch als Radikale wahrgenommen. „Follow the Science“ ist hier längst zu einem Demokratie-zerstörerischen Slogan geworden, der mit Wissenschaft nichts mehr zu tun hat. Und es gibt eine verborgene Agenda: Es finden sich in diesen Bewegungen, die keinesfalls Graswurzelbewegungen von Jugendlichen sind, altbekannte antikapitalistische und linksradikale Motivationen wieder, die die wahren Antriebe sind. So geht es diesen Bewegungen immer nur ums Abschalten und Dichtmachen und Blockieren. Um den Aufbau einer ökonomisch tragfähigen Energie-Infrastruktur nach durchdachten Gesamtplänen geht es hingegen sichtlich nicht.

Guérot versucht ihre Argumentation durch mehrere Verweise auf Hannah Arendt abzusichern, um ihnen den Anstrich der Klugheit und der Legitimität zu verschaffen. Doch die meisten Zitate sind rein beschreibend, nicht unterstützend (S. 44, 67, 69). An einer Stelle wird die Aussage von Hannah Arendt jedoch klar überzogen: Guérot behauptet, dass Hannah Arendt in letzter Konsequenz für eine Räterepublik gewesen wäre (S. 33 Fußnote 14). Das ist zumindest übertrieben. Die angeführte Quelle berichtet u.a. von Hannah Arendts Bewunderung für die Verfassung der USA, in der der Anspruch auf Souveränität eliminiert sei. „Souveränität“ wird hier im Sinne von unkontrollierter Herrschaft verwendet. Das ist etwas ganz anderes, als Ulrike Guérot in diesem Büchlein unter dem Stichwort „Souveränität“ bespricht, denn die US-Verfassung gehört für Guérot offensichtlich zu den demokratischen Verfassungen, die sie kritisiert.

Last but not least hat Ulrike Guérot die zutreffende Beobachtung gemacht, dass die Rechtspopulisten heute zu den wenigen gehören, die tatsächlich bereit sind, für ihre Überzeugungen einen Preis zu bezahlen. Gerade sie handeln also nicht wie verdummte Konsumenten. Ein Beispiel ist für sie der Brexit. (S. 42) – Leider denkt Guérot an dieser Stelle nicht weiter, weshalb sie nicht erkennt, dass diese Rechtspopulisten zumindest einen Zipfel der Wahrheit in der Hand halten, für den Guérot aber völlig blind ist. Der Brexit war tatsächlich notwendig, um die Demokratie in Großbritannien vor dem unbelehrbaren Brüsseler Moloch zu retten. Und der Widerstand gegen die Klimahysterie ist ebenfalls nicht nur ein dummes Blaffen von verwöhnten Konsumenten, sondern die warnende Stimme von wissenden Menschen:

  • Was Ihr da sagt stimmt nicht!
  • Was Ihr da wollt, funktioniert nicht!
  • Auf diesem Weg macht Ihr die Demokratie kaputt!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2022)

Stefan Zweig: Schachnovelle (1942)

Ein zum Klassiker gewordenes Meisterwerk: Charakterstudien, Nationalsozialismus und Schach

Dieses längst klassisch gewordene schmale Bändchen von Stefan Zweig ist viel mehr als die meisten meinen. Es ist eine Charakterstudie nicht nur von einer Person, sondern gleich von vier Personen, und behandelt werden mindestens zwei Themen, wenn nicht mehr.

Die erste Charakterstudie widmet sich einem Schachweltmeister, Mirko Czentovic: Aus welchen Verhältnissen er stammt, und wie er so geworden ist, wie er ist. Um an diese sehr verschlossene Person heranzukommen, verbündet sich der Ich-Erzähler mit McConnor, einem schottischen Ölbohrungsingenieur, einem Ausbund an Pragmatismus und Ehrgeiz. Schließlich die Hauptperson: Der Vermögensverwalter Dr. B., der sich in Gefangenschaft der Gestapo in einen wahren Schachwahn hineingesteigert hatte, der Suchtcharakter annahm und die Gefahr des Rückfalls in sich birgt. Aber es gibt noch eine vierte Person von Interesse: Es ist der Ich-Erzähler – natürlich Stefan Zweig, wer sonst? – der einmal mehr in seiner Rolle als neugieriger Erkunder der menschlichen Seele auftritt. Dabei zeigt er sich nicht als Alleskönner und Superheld, sondern als fragender, zweifelnder, ausprobierender, listenreicher aber auch manchmal unbeholfener Erkunder der Seele, was sehr menschlich ist.

Die zwei großen Themen der Novelle sind bekannt: Da ist zum einen die subtile Folter von Dr. B. durch die Gestapo. Völlig isoliert in einem Hotelzimmer, ohne Zeitung und ohne Gesprächspartner, wird Dr. B. geistig und nervlich zermürbt, ohne dass er körperlich gefoltert würde oder überhaupt eine schlechte Behandlung nach den üblichen Kategorien erfährt. (Auch eine Frau spielt keine Rolle, wie manche Verfilmung offenbar meint – von jeder Verfilmung sei abgeraten, man kann diese Erzählung nicht verfilmen.) Das andere große Thema ist natürlich das Schachspiel und seine Faszination in vielen Facetten.

Es gibt aber auch interessante Nebenthemen: Dazu gehört die Plünderung von nichtjüdischem Privatvermögen durch die Nationalsozialisten, hier die Vermögen von Adel und Kirche, die vom Vermögensverwalter Dr. B. betreut wurden. Oder die Wichtigkeit der geistigen Nahrung und des Austauschs mit anderen für den menschlichen Seelenhaushalt. Die Herkunft von Mirko Czentovic setzt dem Provinzleben der kuk Monarchie einmal mehr ein Denkmal. Man erfährt aber auch, wie es auf einem Ozeandampfer zuging, hier auf einer Überfahrt von New York nach Buenos Aires. Da heute alle das Flugzeug nehmen, ist diese Form des Reisens praktisch ausgestorben.

Alles in allem ist diese kurze Erzählung ein kleines Meisterwerk, das zurecht zu einem Klassiker geworden ist, den man gerne und leicht mehr als nur einmal in seinem Leben lesen kann.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Markus Krall: Die Bürgerliche Revolution – Wie wir unsere Freiheit und unsere Werte erhalten (2020)

Obwohl so vieles richtig ist – dennoch totales Versagen

Natürlich hat Markus Krall mit vielem einfach nur Recht. Dennoch scheitert er völlig. Wie das?

Wie es nicht geht, das hat bereits die Entwicklung der AfD gezeigt: Die Verschmutzung berechtigter Kritik mit Rechtsradikalismus schadet massiv. Denn wenn es den etablierten Kräften gelingt, berechtigte Kritik als rechtsradikal hinzustellen, dann haben sie gewonnen. Und wenn da wirklich Rechtsradikalismus ist wie in der AfD, dann haben die etablierten Kräfte ganz leichtes Spiel. Höcke ist kein Randphänomen in der AfD, und Bernd Lucke und Frauke Petry sind schon lange aus der AfD ausgetreten. Die Gauland-AfD könnte glatt eine Erfindung der etablierten Kräfte sein, denn solange sich der Widerstand in einem Boot mit Rechtsradikalen befindet, ist er wunderbar neutralisiert.

Leider macht es Markus Krall nicht wirklich besser, und das zeigen wir jetzt Punkt für Punkt:

  • Markus Krall hat eine falsche Analyse zur AfD (S. 175 f.). Er glaubt immer noch daran, dass man die Rechtsradikalen abspalten könne. Das ist leider nicht der Fall. Dieser Zug ist lange abgefahren. Die Rechtsradikalen dominieren jetzt diese Partei. Wer jetzt noch in der AfD ist, kann auch nicht mehr ernsthaft als Liberaler bezeichnet werden, sondern nur noch als nützlicher Idiot oder Pseudoliberaler. Krall glaubt, dass die AfD zu einer rechtspopulistischen Partei werden könnte, die dabei helfen könnte, die anderen Parteien auf einen rechteren Kurs zu zwingen. Das wird mit dieser AfD nicht gehen.
  • Berücksichtigung Andersdenkender: Wer die demokratische Gesellschaft reformieren möchte, muss auch berücksichtigen, dass es eine große Zahl von Andersdenkenden gibt. Die darf man ruhig argumentativ und scharf kritisieren. Aber sie sind eben doch da. Man muss mit ihnen leben. Man muss sich mit ihnen in einem gemeinsamen Staat arrangieren! Sprich: Man muss Bedingungen formulieren, ab welchen Graden man bereit ist, ihnen dies oder jenes zuzugestehen. Oder sogar mit ihnen begrenzt zusammen zu arbeiten. Und es müssen erfüllbare, faire Bedingungen sein. Markus Krall schreibt aber, wie wenn er eine 2/3-Mehrheit im Bundestag hätte. Die hat er aber nicht. Er muss froh sein, wenn seine Meinungen mit Müh und Not und mit teils ungeliebten Koalitionspartnern auf 51% kommen. Und zwar ohne die rechtsradikale AfD, denn die rechtsradikal gewordene AfD will vieles von dem, was Krall an wirtschaftsliberalen Themen durchsetzen will, nicht. Leidet Markus Krall an illusionärem Wunschdenken?
  • Markus Krall plädiert für ein Wahlrecht, demzufolge Bezieher von Sozialleistungen nicht mehr wählen dürfen (S. 233). Die Idee dahinter ist zwar sehr verständlich, dennoch wäre es dann keine Demokratie mehr. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und damit ist der Vorwurf von antidemokratischem Denken nicht mehr von der Hand zu weisen. Und schon hat man verloren. Unrettbar verloren.
  • Thema Goldstandard und reine liberale Lehre: Kralls Überlegungen zu einem Goldstandard in der Währung und zur reinen Lehre des Liberalismus im Wirtschaftssystem mögen ihm unbenommen bleiben. Aber in den Augen der meisten Menschen ist das radikal. Es schreckt ab. Viel sinnvoller wäre es, ganz einfach eine Rückkehr zu den guten alten Prinzipien der BRD zu fordern: Ein Bundesbanksystem für eine vernünftig gemanagte Papiergeldwährung, und eine soziale Marktwirtschaft im altbekannten Stil. Das ist nicht die reine Lehre, aber es würde gut genug funktionieren, und es wäre mehrheitsfähig. Aber Krall träumt von Idealen, mit denen er nur verlieren wird.
  • Thema Abtreibung: Es ist sicher richtig, dass Abtreibung bis kurz vor der Geburt ein Problem ist, und es sei Markus Krall unbenommen, Abtreibung auch sonst für falsch zu halten. Der Punkt ist aber: Jede Aussicht auf eine Verschärfung des Abtreibungsrechtes verschlechtert die Findung von Mehrheiten massiv. Das ist einfach so. Schon wieder eine Steilvorlage für den politischen Gegner.
  • Thema Monarchie: Kralls Überlegungen zu einer demokratischen Monarchie mögen ihm unbenommen bleiben (S. 239 ff.), aber auch damit liefert er eigentlich nur eine unnötige Steilvorlage für politische Gegner. Markus Krall will offenbar nicht gewinnen?
  • Thema USA: Krall schweigt zur Westbindung und zur NATO. Schmallippig redet er von Bündnisverpflichtungen im Rahmen der UNO (S. 199). So redet auch Gregor Gysi von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das ist unakzeptabel. Die Westbindung ist viel zu wichtig, um sie zu übergehen. Man darf schließen, dass Krall kein Interesse an ihr hat, ganz wie die Gauland-Höcke-Kalbitz-AfD. Und schon wieder eine Position, die völlig unakzeptabel ist. Deutschland benötigt den Anschluss an eine Weltmacht, um Freiheit und Wohlstand zu sichern, und es gibt nur eine einzige Weltmacht, die das garantiert. Das hätte Krall ganz klar in seinem Buch schreiben müssen!
  • Thema Christentum und Aufklärung: Das Verhältnis zwischen Christentum und Aufklärung wird von Markus Krall völlig falsch gefasst. Er meint, dass die Aufklärung im Christentum wurzele. Das ist aber falsch. Die Aufklärung wurzelt in der antiken Philosophie, die in der Renaissance (=Wiedergeburt) wieder auf die Tagesordnung kam, und sich erst mühsam einen Platz neben und gegen das Christentum erobern musste, bis auch das Christentum sich damit (vorübergehend?) angefreundet hatte. Stichwort „Humanismus“. Aber das Wort „Humanismus“ kommt bei Krall nicht vor. Natürlich ist unser Land auch christlich geprägt, aber das ist nur ein Punkt von mehreren, und nicht der entscheidende Punkt. Im übrigen bleibt völlig unverständlich, warum Markus Krall nicht auf jene Stellen im Neuen Testament eingeht, die dem Sozialismus Vorschub leisten, oder denen zufolge Frauen schweigen und ihr Haupt bedecken sollen. Dazu könnte er durchaus was Kluges sagen, ohne sich verstecken zu müssen. Doch er tut es nicht. Jedenfalls wird deutlich, dass alles nicht so einfach ist, wie Krall meint. Wenn das Christentum das Nonplusultra war, warum war dann das zweifelsohne christliche Mittelalter keine Demokratie und keine Marktwirtschaft? Bildung für alle und Gleichberechtigung von Mann und Frau gab es im Mittelalter auch nicht. Die traditionalistische Auslegung des Christentums im christlichen Mittelalter war ganz genauso problematisch wie die traditionalistische Auslegung des Islams heute. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar vorübergehend viel moderner als das christliche Europa. Weil man dort in dieser Zeit antike Philosophen las. Krall schweigt dazu. Seine Analysen stimmen einfach nicht. Und wenn die Diagnose nicht stimmt, kann die Therapie auch nicht stimmen.
  • Kralls Analyse von „Frankfurter Schule“ und „Kulturmarxismus“ ist etwas seltsam (S. 106). Es stimmt zwar vieles von dem, was Markus Krall schreibt, aber er bringt gar keine Belege. Man hätte ein Zitat erwartet, eine „smoking gun“. Aber so ist es nur eine Ansammlung von Behauptungen. Und tatsächlich ist die Analyse der „Frankfurter Schule“ teilweise falsch. Erstens ging es diesen Linken teilweise durchaus um Aufklärung. Nicht alles daran war falsch. Und zweitens muss man auch die historischen Bedingungen begreifen, die damals herrschten. Man kann die „Frankfurter Schule“ nicht einfach aus dem Geschichtsbuch streichen. Man kann nur korrigieren und darüber hinaus wachsen. Von einer solchen „kritischen Anschlussfähigkeit“ ist bei Markus Krall aber nichts zu sehen.
  • Thema Islam und Integration: Auch diese Themen kommen bei Krall nicht vor bzw. der Islam kommt eigentlich nur als Islamismus vor (S. 216). Diese Themen sind aber für die Zukunft der deutschen Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Doch Krall schweigt, und macht damit deutlich, dass er „Lösungen“ für dieses Problem anstrebt, die eine Integration gar nicht erfordern! Nämlich die simple Total-Assimilation bzw. die Ausweisung jener, die sich nicht assimilieren wollen. Das ist aber an Plumpheit kaum zu überbieten, und weder Muslime noch andere Zuwanderer werden das mitmachen, und zwar – und das ist entscheidend – auch die Gutwilligen nicht. Krall hat also keine Lösung. Er ist noch nicht einmal in der Lage, die Existenz des Problems zu akzeptieren. Das ist dann einfach nur das andere Extrem zum plumpen, dummen Vielfalt-Multikulti. Auch Vielfalt-Schwärmer verstehen nicht, warum Parallelgesellschaften ein Problem sein sollen, und sie fangen deshalb gar nicht erst an, nach Wegen zwischen den beiden Extremen Parallelgesellschaft und Total-Assimilation zu suchen. Markus Krall ist keinen Deut besser.
  • Deutsche Kultur: Markus Krall spricht viel von Christentum (er selbst ist übrigens als katholischer Laie aktiv), und vom Leistungsprinzip in der Bildung, und beim Thema Monarchie spricht er vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Aber von Deutschland und der deutschen Kultur spricht er eigentlich gar nicht. Man könnte z.B. vorschlagen, den konfessionellen Religionsunterricht abzuschaffen, und statt dessen ein Schulfach „Humanismus“ für alle Kinder einzureichten, wo man neben Religion auch über Philosophie und Geistesgeschichte unterrichtet wird und das Handwerk der historischen Kritik erlernt? Das wäre ein starkes Stück deutscher Kultur (und nebenbei auch ein Stück Integration). Oder man könnte Preußen als Bundesland wieder einrichten, um auf diese Weise eine Befreundung mit der eigenen Geschichte herzustellen. Bayern und Sachsen gibt es schließlich auch noch. Aber nichts davon. Krall mag Preußen und die preußisch-humanistische Kultur Deutschlands offenbar nicht. Vermutlich ist ihm das alles zu modern und zu aufgeklärt? Krall scheint eher kuk-österreichisch orientiert zu sein, Stichworte: Christentum, Katholizismus und „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“. Kein gutes Zeichen. Die Verfallsprodukte des rückwärtsgewandten katholischen kuk-Gebildes waren schon immer schädlich. Deutsch geht anders.
  • Markus Krall kann sehr gesittet und vernünftig sprechen, z.B. in der Sendung „mission money“. Aber auf Twitter und in diesem Buch und bei bestimmten anderen Veranstaltungen schlägt er einen Ton an, der leider unter Niveau ist: Fies. Hämisch. Sarkastisch. Zynisch. Es tut mir sehr leid, aber auch damit kommt er nicht durch. Die politische Korrektheit muss zwar durchbrochen werden. Aber eine „menschliche Korrektheit“ muss man sich bewahren. Nicht nur „für die anderen“, nicht nur „aus Rücksicht“, sondern natürlich zuerst einmal für sich selbst. Welche Ästhetik und Moral hat jemand, der sich in gedruckter Form auf dieses Niveau begibt? Und welches Publikum will er ansprechen?
  • Sachliche Unrichtigkeiten: Gerade der fiese, sarkastische Ton bringt leider auch viele unrichtige Feststellungen mit sich. Meistens sind es Halbwahrheiten oder eine schiefe, unfaire Perspektive. Es ist also nicht nur der Ton sondern dann auch die Sache, die nicht mehr akzeptabel ist. Mit der falschen Sprache verfälscht man auch sein eigenes Denken. Man muss sich die Fähigkeit unbedingt bewahren, differenziert zu denken. Differenziertes Denken ist kein Zeichen von Schwäche und auch nicht „links“. Linke behaupten zwar ständig, dass sie differenziert denken würden, aber in Wahrheit tun sie es natürlich nicht. Markus Krall leider zu oft auch nicht.
  • Wenig glücklich ist, dass Markus Krall bei Degussa Goldhandel angestellt ist. Dahinter steht die Familie Finck, die wiederum die AfD finanziert haben soll. Das kratzt schon ein wenig an der Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit von Markus Krall. Und dann ist Krall auch Mitglied in dem elitären päpstlichen Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Solche undurchsichtigen Zirkel der Mächtigen schaffen einfach kein Vertrauen, zumindest das kann man dazu sagen.

Schlusswort

Warum versagen die deutschen Liberalkonservativen darin, die vielen richtigen Gedanken, die sie haben, richtig umzusetzen? Warum entstehen statt dessen solche pseudo-liberalkonservativen Dinge wie die Gauland-AfD oder dieses Buch von Markus Krall? Vermutlich liegt es an mangelnder Bildung. Wer glaubt, dass die westliche Welt sich im wesentlichen auf das Christentum reduzieren lasse, ist einfach nur unterbelichtet und niemals liberalkonservativ. Da war Franz-Joseph Strauß ein ganz anderes Kaliber. Für Franz-Joseph Strauß spielte seine klassisch-humanistische Bildung eine wichtige Rolle. Und genau das fehlt heute offenbar. Links wie Rechts. Statt Markus Krall sollte man z.B. besser die ersten vier Bücher des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin lesen. Sarrazin ist wesentlich umsichtiger und realistischer als Markus Krall. Sarrazin scheitert mit seiner Bildung erst in seinem fünften Buch an der Analyse des Islam. Im Übrigen empfehle ich die Lektüre antiker Philosophen: Platon, Aristoteles, Cicero.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. Mai 2020)

Joseph Roth: Radetzkymarsch (1932)

Epochen-Roman über Milieu und Verlust der kuk Monarchie

Der Roman „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth ist vor allem eine Milieustudie der Zeit der untergehenden kuk Monarchie. Die Morbidität der wie für die Ewigkeit zementierten Verhältnisse, und das in ihnen aufbrechende Neue, sowie der Verlust des Alten sind die Themen. Für diese Epoche und diese Zeit und den folgenden Umbruch sicher ein großartiger Roman in einer sehr schönen Sprache.

Der Handlungsfaden ist eigentlich nebensächlich, jede Szene für sich ist ein Ereignis: Wie der Held von Solferino zum Helden wurde, wie er sich über eine falsche Darstellung in einem Schulbuch beklagt. Die Examinierung durch den Herrn Vater, den Bezirkshauptmann und Repräsentanten des Kaisers, das Mittagessen mit der Haushälterin und dem Diener, danach das Aufspielen der Musikkapelle, danach die Unterhaltung des Bezirkshauptmannes mit dem Kapellmeister. Der Besuch beim Witwer Slama, das Offizierskasino, das Bordell, der jüdische Doktor Demandt, dessen orthodoxer Großvater und Schankwirt, das Duell, die Verhältnisse an der Grenze, der Spielsalon, Kapturak, die verkrachte Existenz Maler Moser, die sozialdemokratische Demonstration und ihre Niederschießung, der Tod des Dieners Jacques, die Eisenbahn, immer wieder Kaffeehausszenen, Wiener Bürokraten, der milde und der greise Kaiser, das Auseinanderfallen der Armee beim Eintreffen der Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers, der Schachpartner des Bezirkshauptmannes Dr. Skowronnek, und viele, viele andere mehr.

Leider wird die Handlung heute häufig unter dem Aspekt der Affären des Leutnants Trotta gesehen, vielleicht wegen Verfilmungen? Es ist ganz die Sprache, die den Roman ausmacht, und deshalb ist eine Verfilmung ohnehin nicht denkbar. Jedenfalls stehen die Affären nicht im Mittelpunkt und sind nur ein Mosaikstein wie viele andere auch. Der Autor hätte ruhig auch eine Affäre weglassen können, ohne dem Roman etwas zu nehmen.

Der Roman ist ein Meisterwerk der Menschlichkeit, ein literarisches Kunstwerk der Beobachtung, ein Denkmal für eine vergangene Zeit, aber auch ein Mahnmal für Zeitenwenden, die immer wieder auf die Menschen zukommen. Als Hörbuch besonders geeignet, wegen der ruhigen Sprache und vor allem, weil durch einen guten Vorleser mit österreichischem Akzent alles noch viel echter und eindrücklicher wirkt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. September 2012)

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