Echter aber naiver Reformer
Mit seinem Buch über die Scharia setzt Mouhanad Khorchide die Entfaltung jener islamischen Reformtheologie fort, die er in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ vielversprechend begonnen hat.
Es handelt sich um eine echte und glaubwürdige Reformtheologie, die den Islam kompatibel zu unseren westlichen Werten macht, ohne ihn plump anzupassen. Die Theologie Khorchides nimmt Koran und Sunna völlig ernst, kann sich auf maßgebliche Quellen der islamischen Tradition stützen, und verknüpft damit eine vernünftige und moderne Lesart, die den Koran in seinem historischen Kontext interpretiert. Auch die Person von Khorchide erscheint sehr glaubwürdig, sofern eine „Ferndiagnose“ zu einem solchen Urteil berechtigt.
In dem Buch „Scharia“ übt Khorchide traditionelle und moderne Quellenkritik an den Hadithen (das sind die Prophetenüberlieferungen, die zusammengenommen die Sunna bilden) und stellt Vernunft und Herzensbildung gegen eine traditionalistische Gesetzesreligion des blinden Gehorsams. Scharia soll als Moral und nicht als juristisches Gesetz verstanden werden. Insbesondere die Theologie des Wahhabismus, die den Islam heute immer mehr beherrscht, wird ausführlich und scharf kritisiert. Khorchide argumentiert nicht nur überzeugend, er liefert auch viele interessante Informationen.
Kritik 1: Reform ohne Strukturen
Khorchide glaubt an einen Islam, der keine Autoritäten mehr kennt. Dieses Thema wird in diesem Buch nur gestreift, an anderer Stelle ist Khorchide da deutlicher. Ein solcher Islam hat keine Struktur mehr, und das ist ein Problem: Es fehlt das Verbindende, der Zusammenhalt, die Einheit in der Vielfalt.
Außerdem ist der Reform-Schritt von autoritären Strukturen hin zu gar keinen Strukturen utopisch. Denn so sind die Menschen nicht. Menschen brauchen Orientierung. Autoritäten, die natürlich nicht autoritär sein sollten, sondern Orientierung geben, werden immer wichtig sein. Die Menschen werden sich immer Autoritäten suchen. Da wäre es doch klug, wenn man die Etablierung von Autoritäten aktiv regeln würde, statt den Kopf in den Sand zu stecken.
Kritik 2: Reform ohne Konservativismus?
Khorchide zeigt an manchen Stellen Tendenzen zu einem postmodernen, linksliberalen Verständnis von Religion und Islam. Es gibt praktisch gar keine feststehenden Gebote mehr, die dem Gläubigen Gerüst und Geländer sind. Die Bürde, seinen Weg mit Gott zu gehen, wird komplett dem einzelnen Gläubigen aufgelastet. Das ist utopisch.
Eine ausformulierte islamische Moral ist wichtig: Zum einen, um grundlegende Orientierung zu geben. Moral wird von Kindesbeinen an eingeübt. Zum anderen aber auch, um klare Kontrapunkte gegen traditionalistische Irrlehren zu setzen. Eine bloß implizite Ablehnung traditionalistischer Lehren reicht nicht, obwohl dem gebildeten Leser durchaus deutlich wird, was Khorchide will. Es muss klar ausgesprochen werden: Männer und Frauen haben wirklich dieselben Rechte, nicht nur „gleiche, aber verschiedene“ Rechte; das Kopftuch ist mitnichten Pflicht; die Gebete müssen nicht gegen alle praktischen Erwägungen punktgenau fünf Mal am Tag durchgeführt werden; Alhohol ist nicht per se „giftig“, sondern es geht um die Vermeidung des Rausches; usw. usf.
Khorchides Reformtheologie ist grundsätzlich auch für einen modernen Konservativismus – vergleichbar zum Ratzinger-Katholizismus – offen. Das ist gut so, denn für traditionalistische Muslime wäre der Schritt vom Traditionalismus hin zu einem progressiven Verständnis von Islam zu weit und deshalb wenig attraktiv. Es ist viel realistischer, dass Muslime den Schritt vom Traditionalismus hin zu einem modernen Konservativismus tun. Khorchide selbst allerdings tendiert klar zu einem allzu liberalen Islamverständnis. Dass Gott nach den Schriften auch (auch!) ein zorniger und strafender Gott sein kann, will er radikal nicht gelten lassen (S. 145).
Zwischenfazit
Man könnte sagen: Khorchide hat eine wohlkonstruierte Reformtheologie entwickelt, aber Khorchide scheitert an deren Implementierung ins Leben der Gläubigen. Ohne Imame, Religionsgelehrte, Moscheen usw., ohne Autorität, Organisation und ohne ausformulierte Lehre wird eine Reform sich nicht durchsetzen können gegen die starken Strukturen des Traditionalismus. Dass es bereits zahlreiche traditionalistische Verbände und Strukturen des Islam bei uns gibt, und wie sich ein Muslim gegenüber diesen Verbänden verhalten soll, wenn er die Ideen von Khorchide übernimmt, dazu sagt Khorchide leider nichts. Das ist zu wenig.
Kritik 3: Wunsch nach naivem Sich-Öffnen gegenüber Islam
Einen grundlegenden Fehler begeht Khorchide, wenn er von der westlichen Welt erwartet, dass sie sich vorbehaltlos gegenüber dem Islam öffnet und vorbehaltlos auf Muslime zugeht (S. 191 f.). Da der Islam von Strömungen beherrscht wird, die keinesfalls der Reformtheologie von Khorchide entsprechen, wäre eine solche Offenheit naiv und selbstzerstörerisch. Khorchide will den Islam glaubwürdig reformieren, aber er kann nicht gleichzeitig den Islam und die Muslime pauschal in Schutz nehmen wollen. Hier muss er sich entscheiden.
Offenbar denkt Khorchide noch in den Kategorien früherer Zeiten, als Muslime noch eine kleine Minderheit waren, die sich der westlichen Welt gegenüber schon von selbst öffnen würden, wenn sich nur die westliche Welt ihnen gegenüber öffnen würde. Doch über diesen Punkt sind wird längst hinaus: Muslime sind keine kleine Minderheit mehr, und traditionalistische und islamistische Strukturen sind fest etabliert. Da ist kein Platz mehr für Naivität und ein pauschales Sich-Öffnen.
Sonstige Kritik
Die Gesellschaft der westlichen Welt bzw. die Leser werden immer als Muslime und Christen angesprochen. Nichtreligiöse Menschen oder z.B. Buddhisten kommen nicht vor. Das ist zu eng geführt.
Khorchide meint, dass Christen und Muslime Bibel und Koran als ihre „eigenen“ Bücher wahrnehmen sollten (S. 63). Das funktioniert aber nur für Muslime. Christen können den Koran vielleicht als Buch mit einigen Weisheiten ansehen, aber sie können den Koran nicht als „eigenes“ oder „heiliges“ Buch anerkennen. Das wäre zu viel verlangt.
Khorchide beruft sich an einigen wenigen Stellen positiv auf den Islamwissenschaftler Mathias Rohe und auf Tariq Ramadan. Rohe ist ein unverbesserlicher Islamversteher und Optimist, was die Integration des Islam in der westlichen Welt anbelangt. Rohe meinte u.a., dass es überhaupt kein Problem sei, Teile der Scharia in das westliche Rechtssystem zu integrieren. Da Khorchide die Scharia gerade nicht juristisch verstanden wissen will, darf gefragt werden, ob Rohe in diesem Zusammenhang überhaupt zitierfähig ist. – Tariq Ramadan ist eine schillernde Figur, die man wohl eher als Pseudo-Reformer einstufen muss. Tariq Ramadan redet viel von Modernität und Veränderung, aber den traditionalistischen Islam möchte er im Kern unverändert erhalten. Auch Tariq Ramadan ist im Zusammenhang mit Khorchides Reformanliegen nur begrenzt zitierfähig.
Fazit
Khorchide ist ein echter Reformer, der unsere Unterstützung im Grundsatz verdient. Er ist aber kein Luther, der die Reform wirklich ins Leben der Muslime zu bringen und durchzusetzen vermag. Und wo Khorchide zu optimistisch ist bezüglich der Reformierbarkeit des Islam, darf man sich von seinem naiven Enthusiasmus nicht mitreißen lassen: Eine Islamreform wird auf absehbare Zeit die Sache einer (anerkennenswerten) Minderheit bleiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Bewertung: 3 von 5 Sternen.
(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. März 2016)
Man sollte auch nicht vergessen, dass Vertreter liberaler islamischen Strömungen selbst von konservativen (radikalen?) Glaubensbrüdern teilweise massiv bedroht werden. Daher wäre es alleine aus aus diesem Grund schwer, den “modernen Islam” zu leben.