Schlagwort: 4 von 5 Sternen (Seite 2 von 6)

Thomas Paine: The Age of Reason (1794/95/1807)

Amazingly modern criticism of religion in the age of the Enlightenment

Thomas Paine presented with „Age of Reason“ a criticism of Christianity which is based upon inconsistencies and other problems within the Bible. Here, 200 years before the development of „historical criticism“, Thomas Paine puts forward amazingly modern arguments. Furthermore, Thomas Paine rises some philosophic arguments of greater depth: First, that reason and abstract thinking is the way to real truth (he compares the truth of Euclid’s elements to the truth of the Bible!), then, that morals is based in ourselves, and not in beliefs from books. Immanuel Kant is not far from this.

Thomas Paine does not only criticise Christianity but every other religion, too. And what is more, he presents an alternative: Deism, the belief in one god based on the true word of god which is for Thomas Paine the creation itself, and science to read in this „book“.

Unfortunately, Thomas Paine is too angry and disrespectful towards believers and priests. He fails to realize their psychology and thus, the book is valuable more for ex-believers than for for believers still to be convinced. Especially the realization, that historical criticism does not necessarily lead to a full devaluation of a religion but rather to its reform and renewal based on reason, is totally absent in his book.

The edition of Cosimo Classics is terrible: All the footnotes are incorporated into the fluent text, they are no footnotes any more! Every other page you have to think about, where your sentence stops, a footnote suddenly begins, and where your sentence continues! This is modern computerized book publishing as it should not be!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2013)

Randall Munroe: what if? – Serious Scientific Answers to Absurd Hypothetical Questions (2014)

Komische und lehrreiche Absurditäten, die in ihrer unpolitischen Harmlosigkeit politischer sind, als es scheint

Randall Munroe, Autor der Nerd-Comic-Reihe xkcd, hat mit „what if?“ eine Sammlung von herrlich absurden Fragestellungen vorgelegt, die er mit ebenso absurder Konsequenz zu beantworten versucht – darin liegt die Komik. So geht es z.B. um die Frage,

  • ob man in einem Abklingbecken für Atombrennstäbe gefahrlos schwimmen könnte (ja, könnte man),
  • ob man eine Mauer in Form des bekannten Periodensystems der Elemente errichten könnte, wobei jeder Mauerstein tatsächlich aus dem entsprechenden Element des Periodensystems gefertigt ist (nein),
  • ob man den Mond rot färben könnte, wenn jeder Mensch einen Laserpointer auf den Mond richten würde (nein),
  • ob man ein Steak braten könnte, indem man es aus hoher Höhe auf die Erde fallen lässt (nein),
  • was geschehen würde, wenn das sprichwörtliche Glas plötzlich tatsächlich halb leer wäre (Vakuum-Implosion führt zu Scherben),
  • wann das Internet eine größere Bandbreite haben wird als eine Postsendung mit Datenträgern (niemals),
  • ob die Beschreibungen antiker Schlachten wahr sind, dass die Pfeile der Bogenschützen die Sonne verdunkelten (nein).

Der konsequente Versuch, diese Fragen zu beantworten, führt zu originellen Überlegungen und bringt einen immer wieder zum lachen. Da viele Möglichkeiten zu einem Versagen oder auch zum Tod führen, ist Sarkasmus die vorherrschende Form des Humors. Alle Fallbeispiele sind reichlich mit Grafiken im xkcd-Stil garniert.

So nutzlos die besprochenen Beispiele auch sind, so kann man doch eine Menge lernen: Man lernt vor allem, Möglichkeiten und Plausibilitäten abzuschätzen, mit Statistik umzugehen, und um die Ecke und out-of-the-box zu denken. Und nicht zuletzt die Dinge mit ein wenig Humor zu nehmen. Das ist nicht wenig.

Kritik

Die Auswahl der Themen ist konsequent harmlos: Es geht um rein naturwissenschaftliche Fragen, vor allem aus Physik und Astronomie, um den Büroalltag, um Sport, Freizeit und Urlaub – es geht durchweg nicht um „gefährliche“ Themen wie Politik und Religion. Das ist sehr unglücklich.

Denn erstens kommen gerade bei diesen „gefährlichen“ Themen die oben genannten Kompetenzen voll zum Tragen: Kann das überhaupt stimmen, was die Medien uns erzählen? Kann das überhaupt funktionieren, was die Politiker planen? Da ist es schon seltsam und auffällig, gerade diese Fragen auszuklammern. Nur die Frage, ob man in einem Abklingbecken für Atombrennstäbe schwimmen könnte, ist ein wenig politisch, aber auch nur für deutsche Verhältnisse. Denn in den USA, wo das Buch entstand, ist auch dies offenbar eine völlig unpolitische Frage.

Es ist aber zweitens auch deshalb unglücklich, weil damit eine Geisteshaltung des Vermeidens „gefährlicher“ Themen eingeübt wird. Der aufrechte Demokrat will aber keine „gefährlichen“ Themen vermeiden, sondern diese vielmehr unerschrocken ansprechen und rational diskutieren. In diesem Sinne ist dieses Buch ein Beitrag zu einer mindestens undemokratischen, wenn nicht gar antidemokratischen Gesinnung. Man erinnert sich an „Generation Golf“ von Florian Illies, wo es für unprofessionell gehalten wurde, sich politisch zu äußern. Für den humanistisch gesinnten Bildungsbürger ist das keine akzeptable Position. Ein Teil unserer heutigen Probleme mit der Demokratie geht definitiv auf solches Denken zurück.

Es gibt auch etwas zuviel Sarkasmus in diesem Buch, so dass die Stimmung manchmal in Zynismus hinübergleitet. Zynismus ist aber keine erstrebenswerte Geisteshaltung. Sarkasmus und Zynismus korrespondieren mit der festgestellten undemokratischen Gesinnung: Man hält es für klug, sich rauszuhalten, und lacht dann sarkastisch oder zynisch, wenn die Dinge den Bach heruntergehen. Was fehlt ist Optimismus, Mut zum Ausprobieren und auch Bereitschaft, Kritik zu kassieren, sowie die Freude am Gelingen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Michael Sommer: Volkstribun – Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik (2023)

Der Populist Clodius und der Einsatz organisierter, öffentlicher Gewalt am Ende der Römischen Republik

Das Buch „Volkstribun“ von Michael Sommer ist ein Leckerbissen für alle Fans des antiken Roms: Nicht nur Karriere und Schicksal des ruchlosen Clodius werden dem Leser vor Augen geführt, sondern auch das größere Bild der bekannten Abläufe drumherum, von Ciceros Aufstieg über Ciceros Verbannung bis zum Triumvirat und dem Aufstieg Caesars. Der Autor erklärt alles ausführlich und gut verständlich, was auch nötig ist, denn der Leser wird fortwährend mit den berühmt-berüchtigten termini technici bombardiert, die das komplexe Regelwerk der Römischen Republik bestimmten. Ob senatus consultum ultimum, interrex, ambitus, pietas oder mos maiorum: Wer’s mag, wird sich gut aufgehoben fühlen und kann unbeschwert Eintauchen in eine seit Schulzeiten wohlvertraute Welt. Ein Überblick über die wechselhafte Forschungsgeschichte zu Clodius, ein Register und eine Bibliographie runden das Buch ab, es ist wirklich ordentlich gemacht.

Clodius aus der altehrwürdigen gens Claudia war nicht der einzige, aber wohl der erfolgreichste „Populist“ im Alten Rom, der die Solidarität der Senatoren gegenüber dem Volk durchbrach und sich direkt beim Volk eine Machtbasis aufbaute (populariter agere). Dazu vollbrachte er eine organisatorische Glanzleistung, denn er musste über ein ausgeklügeltes Mikromanagement in die kleinteiligen Strukturen der römischen Gesellschaft hineinregieren. Überall hatte Clodius seine Leute, es muss ein riesiges Netzwerk gewesen sein. Clodius ließ sich zudem vom Patrizier zum Plebejer herunterstufen und auch sein Name wurde von Claudius zum volkstümlichen Clodius umgestylt.

Auf dieser Basis schaffte Clodius es, die bewährten Abläufe der republikanischen Staatsordnung immer wieder zu durchbrechen. Sei es durch die Störung von Abstimmungen, durch deren Verschiebung, oder auch durch die Einschüchterung von politischen Gegnern, die sich nicht mehr aus dem Haus trauten. Der Höhepunkt war zweifelsohne die Vertreibung von Cicero ins Exil – mithilfe eines ex post erlassenen Strafgesetzes – und die Zerstörung seines Hauses, an dessen Stelle Clodius ironischerweise einen Schrein der Göttin Libertas errichten ließ.

Ermöglicht wurde Clodius dieses Treiben auch dadurch, dass die römischen Senatoren sich nicht mehr so einig waren wie in früheren Zeiten, und sich immer heftiger gegenseitig bekämpften, so dass Clodius immer die eine Seite gegen die jeweils andere Seite ausspielen konnte. Außerdem versagten die Senatoren durch ihre Machtspiele immer häufiger in der Lösung von Problemen, was die Menschen in die Hände von Populisten wie Clodius trieb. Kurz: Die römischen Senatoren waren dekadent geworden und die Strukturen des alten Stadtstaates passten nicht mehr zu den Verhältnissen eines Weltreiches, in dem es um sehr viel Macht und sehr viel Geld ging.

Im besten Fall hätte das Treiben des Clodius zu einem Umbau der Republik hin zu einem demokratischeren System geführt, mit einem moderneren Verständnis von Libertas. Dafür war der Charakter des Clodius allerdings nicht geeignet. Er war wirklich Populist im negativen Sinne, d.h. er beutete die niederen Instinkte des Volkes aus Eigeninteresse aus, statt wirklich die Interessen des Volkes zu vertreten. Aus diesem Populismus erwuchs schließlich nicht die Freiheit, sondern die Tyrannei: Auch Julius Caesar übte sich im populariter agere und ersetzte schließlich die Republik durch eine Diktatur.

Heute ist Clodius weitgehend vergessen. Bekannt ist nur noch Caesar, natürlich aus Filmen und Comics. Schon Cicero dürfte nur noch jenen bekannt sein, die einmal Latein gelernt haben. In meiner Abiturprüfung zum Großen Latinum wurde ich nach dem Gegenspieler Ciceros gefragt. Ich antwortete vorsichtig: Caesar? Das war nicht falsch, gemeint war vom Prüfer aber Clodius, von dem ich bis zu dieser Prüfung nie etwas gehört hatte. Eine gute Note habe ich dann trotzdem bekommen. Gut, dass es jetzt dieses Buch gibt, mit dem ich meine damalige Wissenslücke gründlich schließen konnte!

Defizite

Zunächst einige Formalia: In den letzten Kapiteln des Buches überschlagen sich die Ereignisse so sehr, dass es dem Leser schwerfällt, die verschiedenen Drehungen und Wendungen der politischen Allianzen noch nachzuvollziehen. Manche Koalition erscheint überraschend und willkürlich. – Einige wenige Begriffe bleiben unerklärt, so z.B. Prodigien. Auch ambitus hätte vielleicht noch einmal erklärt werden müssen. – Im ganzen Buch finden sich nicht allzu viele, aber doch auffällig viele Rechtschreibfehler: Hier hätte der Verlag besser aufpassen müssen.

Die größte Kritik richtet sich aber gegen den Umstand, dass der Autor es scheute, Parallelen zu unserer Zeit zu ziehen. Dabei ist das doch eine der Hauptanwendungen antiker Geschichte: Dass wir unsere modernen Verhältnisse auf der Bühne der antiken Geschichte spiegeln, und so unsere modernen Probleme besser verstehen und vielleicht auch lösen können.

Moderne Parallelen zur organisierten öffentlichen Gewalt

Ergänzen wir also, was fehlt: Welche modernen Parallelen zu Clodius und seinen organisierten Volksmassen und Schlägerbanden lassen sich denken? Es geht um organisierte, sichtbare Gewalt von Gruppen im öffentlichen Raum. Es geht also nicht um Terror und Mord, wie er von RAF, NSU oder Islamisten verübt wird: Das ist eine völlig andere Kategorie von Gewalt.

  • Donald Trump und die Erstürmung des Kapitol am 06. Januar 2021. Richtig ist, dass hier organisierte Gruppen wie Proud Boys und Oath Keepers Gewalt gegen die Polizei anwendeten. Es ist allerdings falsch, dass Trump die Menge bei seiner Rede aufgepeitscht hätte. Die Erstürmer des Kapitols versammelten sich unabhängig von Trumps Versammlung direkt am Kapitol und begannen ihren Sturm, während Trump noch eine halbe Stunde redete und zu einem friedlichen Protest aufrief. Als dann einige Teilnehmer von Trumps Veranstaltung zum Kapitol herübergelaufen kamen, war der Durchbruch durch die Polizeikette schon geschehen. Ja, es war organisierte Gewalt, aber nein: Trump hat sie weder organisiert noch aufgestachelt. Außerdem hatten zuständige Demokraten „vergessen“, für genügend Polizei zu sorgen, obwohl genau bekannt war, wer an diesem Tag zum Kapitol kommen würde.
  • Die sogenannte „Antifa“. Dabei handelt es sich in der Tat um organisierte Gruppen, die in der Fläche des Landes präsent sind. Sie bedrängen teilweise Politiker, sprengen Versammlungen, schrecken Besucher von politischen Veranstaltungen ab, beschmieren die Häuser von Politikern, fackeln die Autos von Politikern ab usw. Geld fließt nicht selten vom Staat, etwa an „autonome Zentren“ oder für „autonome Projekte“.
  • Gewalt durch NGOs, sogenannte „Nichtregierungsorganisationen“. Diese werden meistens sehr wohl von der Regierung bezahlt. Oder von einflussreichen Milliardären. Einem physischen Gewaltbegriff nahe kommen sie als Klimaradikale der „Letzten Generation“ oder als angebliche „Seenotretter“, die illegale Migration unterstützen und dabei auch mal ein Polizeiboot über den Haufen fahren.
  • Islamistische öffentliche Gewalt, getragen von gewissen Gruppen und Moscheen, ist ebenfalls organisierte Gewalt. Dazu gehören auch pro-palästinensischen Proteste, die jüdische Studenten von der Universität und Juden generell aus dem öffentlichen Raum ausgrenzen. Nicht selten verbinden sich diese Gruppen mit linken Gruppen.

Es scheint, dass die politische Linke die Klaviatur der öffentlichen Gewalt derzeit wesentlich besser beherrscht und über wesentlich besser organisierte und finanzierte Strukturen verfügt, als die politische Rechte. Rechte organisierte Gewalt scheint sich auf manche Regionen in Ostdeutschland zu beschränken.

Hinzu kommt, dass die etablierten Medien die politische Linke decken. Dazu gehört, dass über die organisierte, öffentliche Gewalt von Links kaum gesprochen wird. Thematisiert wird vielmehr vor allem Gewalt von Rechts. Das geht so weit, dass offensichtlich falsche Statistiken, die die linke Gewalt klein- und die rechte Gewalt großreden, unhinterfragt zur veröffentlichten Meinung werden.

Drei Maßnahmen lassen sich in aller Kürze nennen, die zu einem Ende der politischen Gewalt führen würden:

  • Die Finanzierung ist trockenzulegen. Politik muss sich aus der Finanzierung von liebgewordenen Gruppen und Grüppchen gleich welcher Art auch immer grundsätzlich zurückziehen. Wer sich für das Klima und gegen Rechts engagieren will, kann dies gerne tun, aber bitte mit eigenem Geld und auf friedliche Weise.
  • Die Medien müssen fair berichten, dann wird politische Gewalt schnell unattraktiv für diejenigen, die sie organisieren und finanzieren. Dazu müssten die Medien neu geordnet werden.
  • Polizei und Staatsanwaltschaft müssen ohne Ansehen der Person konsequent durchgreifen. Dazu müsste wohl u.a. die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften in Deutschland abgeschafft werden.

Wie man sieht, hängt die Lösung ganz vom politischen Willen ab, Gewalt nicht zu einem Mittel der Politik zu machen. Ein solcher politischer Wille, eine solche Entschlossenheit gibt es derzeit offenbar nicht. Was am ehesten zur Wiedergewinnung eines solchen Willens führen könnte, ist der Aufbau alternativer Medien, die den Finger immer spürbarer in die Wunde legen und die Anwendung öffentlicher Gewalt auf diese Weise immer unattraktiver machen. Mit der Fairness des Mediensystems steht und fällt der gesamte demokratische Prozess in allen seinen Facetten, so auch hier.

Weitere Parallele: Populismus

Populismus im negativen Sinne gibt es heute ebenfalls, und zwar auf allen Seiten: Die etablierten Parteien gehen dem Volk um den Bart, indem sie über ihre Medienherrschaft Heile-Welt-Propaganda verbreiten, auch wenn alles den Bach heruntergeht, und indem sie Rentnern und Sozialhilfeempfängern Geldgeschenke machen. Gewisse Probleme werden verschwiegen, kleingeredet, relativiert oder mit primitivem Lösungsoptimismus überdeckt.

Mithilfe von Medien und NGOs wird außerdem „Astroturfing“ betrieben: Damit ist die Vortäuschung einer Bewegung „von unten“, aus dem Volk, gemeint, die in Wahrheit nicht wirklich „von unten“ kommt, sondern „von oben“, von Strippenziehern, organisiert wird, ganz wie bei Clodius im alten Rom. Häufig sind daran auch NGOs beteiligt. Beispiele sind Fridays for Future oder die Demonstrationen gegen die angebliche Wannsee-Konferenz 2.0 von Correctiv: Hier wird jeweils über Medien ein aufpeitschendes Angstnarrativ gestreut und zugleich der Protest von einschlägigen Gruppen vor Ort organisiert (Linksradikale, Kirchen, Ökos, Islamisten). Manche Normalbürger denken, es handele sich um eine „breite Bewegung“ und laufen naiv in solchen Demos mit.

Linksradikale und Rechtsradikale Parteien hingegen sprechen diese Probleme offen an, benutzen sie aber oft nur, um ganz andere Ziele zu verfolgen, mit denen die Bürger vom Regen in die Traufe kommen würden. Teilweise hat man den Eindruck, dass die etablierten Parteien und Medien eifrig daran mitwirken, dass sich in neuen Parteien radikale Kräfte durchsetzen, denn dann kann man diese leichter ausgrenzen. Deshalb gibt es in vielen europäischen Ländern inzwischen nicht mehr nur eine, sondern zwei Rechtsparteien: Eine populistisch-radikale, und eine liberal-konservative. Die Vernunft hat es schwer, in diesen Tagen.

Weitere Parallelen: Dekadenz und Weltreich

So wie die römischen Senatoren dekadent geworden waren, korrumpiert durch ständigen Machtbesitz und die neuen Möglichkeiten des Weltreiches, so sind unsere heutigen Eliten teilweise einfach zu lange an der Macht – teilweise sind sie aber auch globalistisch abgehoben und folgen linksradikalen Träumereien gegen die Interessen der Menschen vor Ort, deren nationale Verwurzelung nur noch als Störfaktor im Weltbetrieb gilt.

Und so, wie die Strukturen des alten römischen Stadtstaates nicht mehr zu den Verhältnissen eines Weltreiches passten, so sind heute viele internationale Strukturen aus der Zeit gefallen und dringend reformbedürftig: Sei es die UN, die von Antidemokraten und Antisemiten beherrscht wird, oder die EU, die von Multikulti-Fanatikern und Lobbyisten durchsetzt ist. Aber auch der Nationalstaat ist in seiner Funktion wieder neu zu entdecken, und das Verhältnis zwischen internationalen Organisationen und Nationalstaaten muss neu austariert werden.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Christopher de Bellaigue: The Islamic Enlightenment – The Modern Struggle Between Faith and Reason (2017)

Modernisierungsgeschichte der islamischen Welt – Wichtig zum Verständnis der Verhältnisse

Christopher de Bellaigue hat mit „The Islamic Enlightenment“ (deutscher Titel: „Die Islamische Aufklärung“) einen äußerst wertvollen Beitrag zum Verständnis der islamischen Welt geliefert. Im Westen denkt man über die islamische Welt oft, dass sich dort in 1400 Jahren nichts verändert hätte. Und auch nichts verändern könne. Weil dass der Islam nicht zulasse, der seinerseits seit 1400 Jahren unverändert sei. Doch das alles ist falsch. Dieses Buch zeigt die dramatische Modernisierungsgeschichte des Nahen Ostens an den Beispielen Ägypten, Türkei und Iran.

Diese Modernisierungsgeschichte beginnt im Jahr 1798 mit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten und dessen Sieg über die Mameluken in der Schlacht bei den Pyramiden. In diesem Moment wurde den Menschen in der islamischen Welt schlaglichtartig klar, dass sie den Europäern hoffnungslos unterlegen sind und dass sie Europa in der kulturellen Entwicklung um Jahrhunderte hinterher hinken. Symbolisch steht dafür die Druckerpresse, die um 1450 in Europa erfunden wurde und zu einer fortwährenden geistigen Revolution geführt hatte – in der islamischen Welt war die Druckerpresse aufgrund einer religiösen Fatwa bis ins 19. Jahrhundert hinein verboten.

Der Beginn der Modernisierung

Die treibende Kraft hinter der Modernisierung war am Anfang die Notwendigkeit, sich gegen moderne europäische Armeen verteidigen zu können. Denn so wie Ägypten gegen Napoleon, so hatten auch das Osmanische Reich und der Iran in dieser Zeit schmerzhafte Niederlagen gegen Russland einzustecken.

Überall begann die Modernisierung mit der rigorosen Beseitigung konservativer Kräfte. In Ägypten war die bis dahin herrschende Schicht der Mameluken bereits durch Napoleons Sieg in der Schlacht bei den Pyramiden buchstäblich vernichtet worden. Der neue Herrscher Ägyptens, Muhammad Ali Pascha (regierte 1805-1848), führte zudem eine großflächige Enteigung von Land durch, wodurch er die Machtbasis des islamischen Klerus beseitigte. Von Klerikern angeführte Rebellionen wurden niedergeschlagen. (S. 23) – Im Osmanischen Reich blockierten die Janitscharen jede Reform, woraufhin Sultan Mahmud II. (regierte 1808-1839) im Jahr 1826 die Janitscharen zu tausenden massakrieren ließ und auf diese Weise die große Tradition der Janitscharen zu einem Ende brachte. (S. 59)

In allen drei Regionen – Ägypten, Türkei und Iran – spielte die Aussendung von jungen Gelehrten und Studenten in westliche Länder eine große Rolle im Modernisierungsprozess. Von Bedeutung waren insbesondere deren Reiseberichte aus Europa, die in tausend Einzelheiten die Unterschiede zwischen West und Ost beschrieben, und die von zahllosen Lesern verschlungen wurden und so moderne Gedanken weit verbreiteten. In Ägypten war dies insbesondere Rifaa al-Tahtawi, der fünf Jahre in Paris verbrachte. (S. 34-36) Aus dem Iran kam Mirza Saleh Schirazi nach England. (S. 118-125) Die Reisenden lernten aber auch Medizin und Technik, die sie nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatländern zu implementieren begannen, unterstützt von den Kontakten zu westlichen Gelehrten, die sie geknüpft hatten.

Eindrücklich werden die Verhältnisse beschrieben, bei denen die Reformen beginnen mussten. So verursachten die hygienischen Verhältnisse regelmäßige Seuchen. Der religiöse Fatalismus, der das Treffen von Vorsorge verhinderte, muss weit verbreitet gewesen sein. (S. 65 ff.) Frauen waren verschleiert und vegetierten ohne jede Ausbildung in ihren Harems dahin. (S. 175 ff.) Entsprechend war Homosexualität unter Männern extrem weit verbreitet, offenbar als eine Folge der Schwierigkeit, an Frauen heranzukommen. (S. 195 ff.) Auch die Sklaverei existierte noch, allerdings in teilweise milderer Form, als manche meinen, insofern der Islam die Freilassung von Sklaven motiviert. (S. 188 ff.)

Einzelne Modernisierungen

In rasendem Tempo wurde alles eingeführt, was man für nützlich hielt und sich von Europa abschaute, darunter Militär- und Ingenieurschulen, die Druckerpresse, Dampfschiffe, Industrie, Hygienemaßnahmen, Wasserbauten, nicht zuletzt der Bau des Suez-Kanals 1859-69. Sultan Mahmud II. brachte auch preußische Militärberater nach Istanbul, u.a. Helmut von Moltke. (S. 61) Ibrahim Schinasi publizierte 1860 die erste unabhängige Zeitung im Osmanischen Reich und trug durch seine Artikel maßgeblich zur Formung der modernen türkischen Sprache bei. (S. 77) In Ägypten startete Tahtawi eine große Übersetzungsbewegung, die westliches Schrifttum verfügbar machte. Zugleich erwachte das Bewusstsein für die ägyptischen Altertümer, deren Abtransport ins Ausland von nun an erschwert wurde. Man begann, ein eigenes ägyptisches Museum einzurichten. (S. 43)

Um 1830 wurde das Millet-System abgeschafft, das jeder Religion ihr eigenes Recht zugesprochen hatte, so dass alle Bürger des Osmanischen Reiches zu gleichberechtigten Staatsbürgern wurden. (S. 69 ff.) Im Jahr 1843 wurde auch der Wechsel der Religion offiziell erlaubt. (S. 72) Die praktische Durchsetzung dieses Erlasses steht auf einem anderen Blatt. Die Sklaverei wurde abgeschafft, spät, aber noch vor den USA. (S. 188 ff.) In Tunis musste sich der Konsul der USA über die Vorzüge der Abschaffung der Sklaverei belehren lassen. (S. 191 f.) Schließlich wurden Verfassungen erlassen, die mal mehr, mal weniger demokratisch waren. (S. 103) Teilweise hatte sich das Volk diese Freiheiten auch selbst erkämpft, so z.B. im Urabi-Aufstand in Ägypten um 1880 oder in der „Konstitutionellen Revolution“ des Iran von 1905/06, wo die Geistlichen – ja! – das Volk unterstützten und ein Geist der Freiheit im Volk zu herrschen begann, der beeindruckend ist. (S. 210-213, 237 ff.)

Es bildeten sich politische Parteien, in der Türkei z.B. 1907 das Komitee für Einheit und Fortschritt, in dem die fortschrittlichen „Jungtürken“ den Ton angaben, oder 1908/09 die „Gesellschaft Mohammeds“ der konservativen Gegenkräfte (S. 261-268) Mit Ziya Gökalp (1876-1924) entstand der türkische Nationalismus im Gegensatz zum imperialen Gedanken des Osmanischen Reiches, das viele Völker unter einer autoritären Herrschaft umfasst hatte.

In Ägypten wurden Frauen zu Geburtshelferinnen ausgebildet. 1901 wurden die ersten Mädchen zur höheren Bildung nach Europa geschickt. Frauenzeitschriften verbreiteten sich. Um 1900 beginnt die Debatte um die Verschleierung der Frau, die damals noch allgemein verbreitet war. (S. 183 ff.) 1899 erschien das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ des Ägypters Qasim Amin. (S. 185 f.) Europäische Moden und Umgangsformen hielten Einzug. Der Umgang zwischen den Geschlechtern veränderte sich. Es wurden auch neue Worte eingeführt, um die neuen Verhältnisse abzubilden, z.B. „familiya“. (S. 169 f.) Und es entstand eine Romankultur, die sich an der europäischen Romankultur orientierte. In diesen Romanen wurden die neuen Verhältnisse gespiegelt und gesellschaftliche Konflikte verhandelt. Bekannte Autoren waren der Libanese Ahmad Faris al-Shidyaq oder Ahmet Midhat Efendi. (S. 167-172)

Optimismus zur Reform des Islam

Die Modernisierung wurde teilweise mit despotischer Gewalt durchgesetzt, auch gegen Religionsgelehrte (S. 23). Teilweise wurden die islamischen Religionsgelehrten aber auch mit Zuckerbrot und Peitsche dazu gebracht, ihre Zustimmung zu geben. Es gab aber auch islamische Gelehrte, die als Modernisierer wirkten, so z.B. der spätere Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo Hassan al-Attar, oder im Osmanischen Reich Sanizadeh Ataulla: Sie führten das Sezieren von Leichen für medizinische Zwecke ein, indem sie die Studenten schrittweise daran gewöhnten. (S. 30 f., 62-64) Zuguterletzt geschah es auch häufig, dass die islamischen Religionsgelehrten ihre Zustimmung zu einer Maßnahme im Nachhinein gaben, nachdem für alle zu sehen war, welchen Nutzen die Maßnahme hatte. (S. 67)

Generell herrschte bei führenden Intellektuellen das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein großer Optimismus vor, dass Moderne und Islam miteinander vereinbar wären. So z.B. bei Hassan al-Attar (1766-1835), der auch Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo wurde. (S. 26 ff.) – Oder bei Rifaa al-Tahtawi (1801-1873), der an vielen Stellen als Reformer wirkte, vor allem als Übersetzer: Er meinte, dass sich der Islam, anders als das Christentum, leicht mit der Moderne vereinbaren lassen würde, weil der Islam so rational sei. Tahtawi übersetzte u.a. auch das Buch „Principes du droit naturel“ des Schweizer Philosophen Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748), demzufolge Gott hinter den natürlichen Gesetzen steht. (S. 38-46) Tahtawi plante auch die Ausbildung von Mädchen, kam aber zu seiner Zeit nicht mehr dazu. – Optimismus sehen wir auch bei Namik Kemal (1840-1888), einem Schriftsteller, der nach Paris und London reiste. Kemal sah keinen Grund, warum Moderne und Scharia nicht vereinbar sein sollten. Die Scharia bestand für ihn als gebildeten Menschen natürlich nicht aus einer Sammlung überlieferter Detailregeln, sondern repräsentierte das abstrakte Gute.

Fortschritt trotz Rückschlägen

Das ganze 19. Jahrhundert hindurch gab es ein ständiges hü und hott der Modernisierung: Mal ging es voran, dann stockte der Prozess wieder. Manchmal ging es auch rückwärts. Aber aufs Ganze gesehen ging es doch stetig voran, und alle Rückschläge waren nur temporär. Es kam dabei auf den jeweiligen Herrscher an, ob er sich für Modernisierung einsetzte oder lieber auf die Jagd ging. Und es kam auf die außenpolitische Konstellation der Kolonialmächte an: Mal wurde die Modernisierung als nützlich empfunden, mal wurde sie unterbunden. Und mal paktierte der Herrscher mit den Konservativen, um ein Ziel zu erreichen, mal konnte er ohne sie regieren.

Christopher de Bellaigue diagnostiziert: „Islam did not show any more opposition to modernisation than Judaeo-Christian culture had done to its earlier iteration in the West.“ (S. xxv) Das kann man auch gut an der Reaktion des ägyptischen Religionsgelehrten Abd ar-Rahman al-Dschabarti (ca. 1753-1825) ablesen, von dem uns ein Bericht über die Franzosen in Ägypten erhalten ist. Seine Argumente gegen die Modernisierung gleichen aufs Haar den Argumenten, die katholische Priester gegen die Veränderungen der französischen Revolution vorbrachten: Wie könne es sein, so fragt er z.B., dass die Menschen gleich sind, wo Gott doch bestimmte Menschen zum Herrschen ausersehen hat? (S. 5-13) Hundert Jahre nach al-Dschabarti stellte niemand mehr diese Frage, auch Islamisten nicht.

Obwohl die europäischen Kolonialmächte hie und da übergriffig wurden – z.B. durch eine nicht unabsichtlich herbeigeführte Überschuldung der islamischen Staaten mit nachfolgender Abhängigkeit, oder indem die Briten Ägypten nach dem Urabi-Aufstand besetzten, um sich den Suez-Kanal zu sichern – blieb der Westen vorläufig dennoch das unangefochtene Vorbild für Modernisierung. (S. 159 f.) 1869 hatte der ägyptische Khedive Ismail Pascha den Suez-Kanals mit einer großen Show feierlich eröffnet, für die Giuseppe Verdi (angeblich) die Oper Aida komponierte, und 1878 erklärte er, dass Ägypten nicht länger in Afrika liege, sondern zu Europa gehöre. (S. 51) Tatsächlich hatte Ägypten in dem Wettlauf um Modernisierung lange Zeit die Nase vorn, noch vor der Türkei.

Dennoch begann eine langsame Umorientierung gegen Europa als Vorbild. So rückte z.B. Japan immer mehr als Vorbild in den Blick als Beispiel einer Nation, die sich modernisierte, ohne ihre Kultur aufzugeben. Als die Kolonialmacht Russland 1905 ihre Flotte gegen Japan verlor, erregte das große Freude im Nahen Osten. (S. 231 f.)

Der große Anlauf zur Reform des Islam

Die Modernisierungen des 19. Jahrhunderts waren zuerst weltlich motiviert. Dennoch betrafen sie in vielerlei Hinsicht auch den Islam. Doch zunächst blieb alles Denken in bezug auf den Islam nur Stückwerk, wenn auch viel Optimismus vorhanden war. Wie immer in der Geschichte, folgt die Modernisierung der Religion als der letzte Schritt am Ende von gesellschaftlichen Reformen. So auch hier. Der große Anlauf zur Reform des Islam selbst lässt sich an den folgenden Namen festmachen, mit denen die „kritische Masse“ für einen Durchbruch der Reformen erreicht war.

Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897): Dschamal ad-Din wuchs im Iran auf, wo er in den Seminaren des Schia-Islams auch Philosophie lernte. Dann ging er nach Ägypten und lehrte an der Al-Azhar Universität.

Dschamal ad-Din entwickelte praktisch alle Grundlagen und Voraussetzungen für eine Reform des Islam. Er erneuerte das Wissen um den islamischen Rationalismus (Mutazila), bezog auch die menschliche Geschichte und ihre Errungenschaften vor Mohammed in sein Denken ein, und machte die Sunniten mit der neuplatonischen Philosophie bekannt. Dschamal ad-Din lehrte, dass Glück aus Vernunft und Einsicht rührt, und forderte Weltzugewandtheit, nicht Weltabgewandtheit. Seine Kritiker beklagten: „(his) interest in philosophy, his advocacy of certain Mutazilite principles, his prohibition of traditional interpretation, his call for the study of modern sciences, his preference for the science of the Franks.“

Dschamal ad-Din förderte ein pan-islamisches Bewusstsein der Muslime, für das er unermüdlich durch die islamische Welt reiste und eine vielgelesene Zeitschrift publizierte, wandte sich gegen den Einfluss der europäischen Kolonialmächte, und soll auch an einem Attentat auf den Schah von Persien beteiligt gewesen sein. Dschamal ad-Din gilt damit als der Vater des politischen Islams. Allerdings wollte Dschamal ad-Din einen modernisierten Islam als politischen Islam, keinen rückwärtsgewandten Islam. (S. 203-208, 217-219, 228-230)

Muhammad Abduh (1849-1905): Abduh war ein Anhänger von Dschamal ad-Din al-Afghani und gilt als der Gipfelpunkt der damaligen Reformbewegung. Er lehrte in Ägypten und wurde 1899 zum Großmufti von Ägypten ernannt (nicht zu verwechseln mit dem Großimam der Al-Azhar Universität). Als Großmufti setzte er Reformen in der Al-Azhar Universität durch. Sein Hauptwerk erschien 1897 unter dem Titel „Die Theologie der Einheit“ und wurde in der ganzen islamischen Welt rezipiert.

Abduh sah die Rationalität bestens in der islamischen Religion begründet und bedauerte, dass so viel Obskurantismus im Namen des Islams entstanden war. Er wandte sich gegen das Prinzip der bloßen Nachahmung (Taqlid) und für das Prinzip der individuellen Entscheidung mithilfe der Vernunft auf Grundlage der islamischen Quellen (Idschtihad). Wie die Mutaziliten hielt Abduh den Koran für geschaffen und damit offen für die Interpretation nach den Umständen. Der Koran als geschaffenes Werk könnte sogar Fehler enthalten, die von Menschen in ihn hineingetragen wurden. Abduh sprach sich für die Evolutionslehre aus, gegen die Mehrehe, und gegen eine Vorsehungslehre, die die Eigeninitiative lähmt. Auch Zinsen sah er nicht als Problem, weil das Gemeinwohl oberste Richtschnur sei.

Die ersten Muslime, die Salafs (Vorfahren), waren für Abduh maßgebend – aber nicht im Sinne einer blinden Nachahmung, wie heutige (Pseudo-)Salafisten das verstehen, sondern im gegenteiligen Sinne: Denn aus dem Koranvers, dass die Juden den Islam deshalb ablehnten, weil sie an der Lehre ihrer Vorväter festhielten, leitete Abduh folgerichtig ab, dass das blinde Festhalten an der Lehre der Vorväter nicht richtig sein kann und auch nicht dem Verhalten der Salafs entsprach, die von der Lehre ihrer Vorväter abwichen und sich für den Islam öffneten.

Abduh war umfassend gebildet. Er las Goethe und Schiller auf Französisch, außerdem den damals vorherrschenden Philosophen Herbert Spencer (1820-1903), der die Evolutionslehre erstmals auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendete. Er zitierte aber auch aus der Korrespondenz von Kaiser Friedrich II. mit dem andalusischen Gelehrten Ibn Sabin (ca. 1217-1271). Abduh hatte eine freundliche Stimme und Erscheinung, die ihm ein Charisma verliehen, mit dem er seine Zuhörer faszinierte. – Muhammad Abduh wurde allerdings von der britischen Kolonialmacht, speziell von Lord Cromer, dem britischen Gouverneur in Ägypten, protegiert. Das brachte ihm Anfeindungen ein und war ein Hinderungsgrund für das weitere Wirksamwerden seine Reformideen. (S. 280-288)

Qasim Amin (1863-1908): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Wie wir oben schon sahen, verfasste Amin 1899 das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ (S. 185 f.)

Raschid Rida (1865-1935): Ein libanesischer Schüler Abduhs, der dessen Reformtheologie weiterführte. Raschid Rida plädierte für eine Überwindung der Trennung der Muslime nach Rechtsschulen, und für ein Verständnis von Dschihad nur als Verteidigungskampf. Raschid Rida wollte außerdem die Tötung von Apostaten weitgehend einschränken, indem er sie nur noch für Fälle von offensivem Glaubensabfall vorsah. (S. 284)

Ali Abdel Razeq (1887/8-1966): Ein ägyptischer Schüler Abduhs, der als Vater des islamischen Säkularismus gilt. In seinem Buch „Das Kalifat und die Souveränität der Nation“ sprach er sich für eine klare Trennung von Staat und Religion aus. Außerdem betonte er, dass der Prophet Mohammed eben nur das war: ein Prophet, während seine weltliche Herrschaft rein weltlich war. Deshalb sollte man eine weltliche Gesetzgebung für eine weltliche Herrschaft nicht in der Offenbarung des Islam suchen. (S. 294)

Taha Hussain (1889-1973): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Einerseits der bedeutendste arabische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Andererseits der Begründer einer skeptischen Geschichtsschreibung des Islams. Taha Hussain betrachtete den Koran erstmals als ein literarisches Werk und forderte eine kritische Betrachtung überlieferter Texte. 1950-52 war er Erziehungsminister in Ägypten. (S. 294)

Jäher Abbruch der religiösen Reformen

Doch leider kam es nicht zum Durchbruch des religiösen Reformdenkens. Vielmehr wurde das religiöse Reformdenken mit dem Ersten Weltkrieg buchstäblich abgewürgt. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich:

Zum einen war die Übergriffigkeit der europäischen Kolonialmächte mit dem Ersten Weltkrieg zu groß geworden, um keine negative Reaktion hervorzurufen. Der ganze Nahe Osten – außer der Türkei, die Atatürk erfolgreich verteidigte – wurde von Briten und Franzosen besetzt. Grenzen wurden willkürlich gezogen und Regierungen nach Belieben ein- oder abgesetzt. Es kam zu Massakern und Bombardierungen. Auch die sich anbahnende Gründung Israels wurde als Willkür der Kolonialmächte gedeutet, auch wenn dieses Ereignis damals nicht im Zentrum stand. – Man hatte im Nahen Osten ganz wie in Deutschland auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Woodrow Wilson gehofft, und ganz wie in Deutschland war man auch im Nahen Osten schmerzlich enttäuscht, als Woodrow Wilson sich nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges einfach wieder zurückzog. (S. 297) Den neuen Völkerbund verstand man nur noch als verlängerten Arm der Kolonialmächte.

Das alles war zuviel. Das Pendel der Sympathie schlug nun gegen Europa und den Westen aus, und damit taugte der Westen auch nicht mehr als Vorbild für weitere Reformen. Ob Liberalismus, Rationalismus oder Demokratie: Alles trug nun den Makel der kolonialen Übergriffigkeit an sich.

Der andere Grund war, dass die Eliten in Nahost oft keinen Reformislam anstrebten, sondern ihre Verbindung zur Religion gleich ganz kappten. Man las damals Darwin, Haeckel, Schopenhauer, Poincaré oder Herbert Spencer, spekulierte über die Seele als mechanischen Apparat und lancierte Polemiken gegen den Klerus. Von türkischen Medizinstudenten ist überliefert, dass sie Atheisten waren und das Buch „L’homme machine“ von d’Holbach wie den Koran als heiliges Buch aufgeschlagen im Zimmer stehen hatten. (S. 74 f., 276-279)

In der Türkei und im Iran wurden die Reformen nach dem Ersten Weltkrieg deshalb von Kemal Atatürk und Reza Schah ohne die Religion und gegen die Religion fortgesetzt. An einer Islamreform bestand schlicht kein Interesse, es gab auch kein Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Reform. Religion wurde beiseitegeschoben, unterdrückt und nur in einer streng reglementierten Form zugelassen. Das kam eher einer Kastration als einer Reform der Religion gleich. Auch in Ägypten feierten die Eliten in Kairo und Alexandria hemmungslose Parties, ohne sich um die Armut der religiösen Landbevölkerung zu kümmern. (S. 301-306)

Der Islamismus als Reaktion

Diese Zustände führten zur Herausbildung des Islamismus in Gestalt der „Muslimbrüder“, die von den beiden ägyptischen Lehrern Hassan al-Banna und Sayyid Qutb gegründet und geprägt wurden. Der Islamismus wurde von zwei Motiven getrieben: Man wollte die eigene Kultur und Freiheit gegen die Übergriffigkeit der Kolonialmächte verteidigen. Zu dieser Kultur gehörte der Islam fest dazu. (S. 306 ff.) Und man wollte gegen soziale Ungerechtigkeit vorgehen. (S. 309, 317) Kurz: Der Islamismus entstand praktisch als Aufstand der vergessenen kleinen Leute gegen eine Elite, die sich geistig völlig von ihren eigenen kulturellen Wurzeln entfernt hatte.

Diese durchaus verständlichen Motive wurden leider ins Extrem gezogen, so dass eine Karikatur von Islam entstand. Der Islamismus ist nicht einfach eine Rückkehr zum traditionalistischen Islam, sondern stellt einen höchst seltsamen Synkretismus von traditionellen und modernen Ideen und Vorstellungen dar:

  • Getragen wird der Islamismus von Laien-Brüdern. Es ist also kein Islam der Religionsgelehrten, wie es früher einmal war. Zwar schlossen sich auch manche Religionsgelehrte dem Islamismus an, doch waren sie nicht die treibende Kraft.
  • Die islamistische Deutung des Islam ist denkbar oberflächlich und allzu wörtlich, wie man es von Laien erwarten kann. Dieser Islam hat sämtliche Denktraditionen des Islams abgeschnitten, sei es Mystik oder Rationalismus, und auch von der traditionellen Rezeption der antiken Philosophie ist nichts mehr übrig geblieben. Manchmal hat man das Gefühl, die islamistische Deutung des Islam orientiert sich an der Deutung westlicher Islamhasser: Wie wenn man aus Trotz die schwarzgemalte Islamdeutung der Islamhasser bestätigen wollte.
  • Die karitative Tätigkeit und Gemeinschaftsbildung der Muslimbrüder ist ebenfalls nicht traditionell islamisch, sondern ist natürlich durch den oben beschriebenen sozialen Konflikt motiviert. In der Praxis haben sich die Muslimbrüder eine Menge von der karitativen Tätigkeit der christlichen Missionaren abgeschaut, die damals in Ägypten tätig waren.
  • Kennzeichnend für den Islamismus ist auch ein übersteigerter Hass auf die Juden, den es in dieser Form – bei allen Problemen – im traditionellen Islam nicht gegeben hatte. (Dieser Punkt bleibt in diesem Buch allerdings unerwähnt.)
  • Weil man sich vom Westen nichts sagen lassen wollte, wurde großspurig behauptet, dass sich alle Gesetze für einen guten Staat in der islamischen Überlieferung finden würden, was natürlich genauso unsinnig ist, wie wenn man dasselbe über die Bibel behaupten würde.
  • Trotz allem finden sich zahllose moderne, „westliche“ Elemente im Islamismus. Allerdings auf eine völlig verklemmte Weise, was anzeigt, dass der Islamismus mit sich selbst nicht im Reinen ist: Irgendwie möchte man doch demokratisch sein und ein Parlament haben, nur soll die Scharia Vorrang haben. Wobei im Einzelnen völlig unklar bleibt und der reinen Willkür unterliegt, was man unter Scharia verstehen will. Frauen sollen irgendwie gleichberechtigt sein, aber doch nicht ganz, und bitte nur mit Kopftuch. Die westliche Technik übernimmt man gerne, aber die westliche Wissenschaftsfreiheit möchte man nicht haben. Und auch die Idee der Nation hat man übernommen, wobei man zugleich pan-islamisch sein möchte, was aber nie so richtig funktioniert hat. (Vgl. S. 330, 344 f.)

Christopher de Bellaigue schreibt, dass die Muslimbrüder sich heute etwas gemäßigt hätten. So würden sie heute z.B. den „Takfirismus“ ablehnen. Unter takfir versteht man die Erklärung eines Muslims zum Apostaten, was die Erlaubnis, diesen zu töten, zur Folge hat. (S. 328)

In Ägypten kam Präsident Nasser 1952 mithilfe der Muslimbrüder an die Macht. Zwei Jahre später bootete er die Muslimbrüder aus, was zu deren Radikalisierung beitrug. (S. 323)

Im Iran soll es der Schah mit der Unterdrückung der Religion und der radikalen Verwestlichung der Kultur völlig übertrieben haben. Damals sollen 25.000 Amerikaner im Iran gewesen sein, um alle Bereiche der Gesellschaft nach westlichem Muster umzugestalten, so dass nichts mehr von der angestammten Kultur übrig blieb, nicht einmal in der Architektur. (S. 332 f., 342)

Das rief die Kritik von Intellektuellen hervor: Dschalal Al-e Ahmad (1923-1969) schrieb das berühmte Buch „Gharbzadegi“, dessen Titel man mit „Westvergiftung“ übersetzen könnte. Darin wird eine nostalgische Kritik an der Moderne geübt, die naiv und undifferenziert ist, wie wenn früher alles besser gewesen wäre: Solches kennt man auch aus dem Westen. Und wie so oft war auch hier der Autor solcher Ideen selbst ein durchaus moderner Mensch. (S. 334 ff.) – Ali Schariati (1933-1977) hatte an der Universität in Paris den westlichen Antikolonialismus kennengelernt, den er nun mit dem Schia-Islam verband: Islam wolle, so meinte er, eine freie und klassenlose Gesellschaft. Das Volk erinnere sich nicht an die große Zeit des Perserreiches, die der Schah beschwor, sondern nur an den Schia-Islam. Diesen stellte sich Ali Schariati aber – verrückt! – ohne Klerus vor. (S. 342 ff.)

Als es zu ökonomischen Verwerfungen und schlussendlich zur Revolution im Iran kam, bootete Khomeini alle anderen Kritiker des Schah-Regimes aus und errichtete einen klerikalen Staat, den es in dieser Form noch nie zuvor in der Geschichte des Islams gegeben hatte. Doch obwohl die Religionsgelehrten im Iran eine große Rolle bei der Herausbildung des iranischen Islamismus gespielt hatten, sind auch die schiitischen Religionsgelehrten in ihrer Haltung zum Islamismus gespalten. Khomeini war übrigens auch nicht der höchste schiitische Geistliche. Der höchste schiitische Geistliche Ali as-Sistani (1930-) residiert in Nadschaf im Irak, der Stadt mit dem höchsten schiitischen Heiligtum, und lehnt die Idee eines Gottesstaates ab.

Abschluss: Das große Wendejahr 1979

Für Christopher de Bellaigue ist 1979 das große Wendejahr hin zum Islamismus. In diesem Jahr kam im Iran Khomeini an die Macht. Im selben Jahr marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, wo islamistische Kämpfer Kampferfahrung sammeln konnten. In diesem Jahr wurde auch die islamistische Gruppe al-Dschihad gegründet, die zwei Jahre später Sadat ermordete. Und schließlich fand 1980 ein Militärputsch in der Türkei statt, der die politische Linke dermaßen dezimierte, dass anschließend (angeblich) der Weg frei war für den Aufstieg der Islamisten bis hin zu Erdogan. (S. 345 f.)

Nur am Rande erwähnt wird der Wahhabismus aus Saudi-Arabien, der sich durch die üppig fließenden Öl-Milliarden in der islamischen Welt ausbreitet. Der Ausblick auf die Zukunft am Ende des Buches ist eher düster.

Kritik

Christopher de Bellaigue hat ein großartiges Buch vorgelegt. Dennoch muss manches daran kritisiert und ergänzt werden. Das wollen wir im folgenden auf konstruktive Weise tun.

Kritik: Religion nicht ernst genommen?

Natürlich möchte der Autor den Islam ernst nehmen, aber an zwei Stellen überkommt den Leser das Gefühl, dass der Autor das nicht wirklich tut. Das eine ist der Untertitel des Buches: „The Modern Struggle Between Faith and Reason“. Ist es wirklich klug, Glaube und Vernunft als Gegensätze einander gegenüberzustellen? Geht es nicht darum zu zeigen, dass Glaube und Vernunft eben gerade keine Gegensätze sind? Hätte man nicht besser „Das Ringen um die richtige Balance zwischen Tradition und Fortschritt“ als Untertitel wählen sollen?

Die zweite Stelle ist ein Satz in der Conclusion des Buches: „people … who, while respecting the moral precepts they have received from their forebears, are lax in matters of observance. … in their secular world view and relatively liberal values they represent the successful part of the Islamic Enlightenment.“ (S. 350) – Menschen, die ihre Religion lax handhaben, mögen vielleicht in gewisser Weise aufgeklärt sein, aber eine „islamische Aufklärung“ ist das nicht! Eine islamische Aufklärung bestünde darin, dass die Religion des Islam selbst aufgeklärt wird, so dass Liberalität nicht durch Laxheit in der Beachtung der Regeln entsteht, sondern dadurch, dass die Regeln selbst liberal werden, soweit dies möglich ist. Ein großer Unterschied!

Kritik: Islamische Geschichte

Der Autor möchte mit diesem Buch vor allem zeigen, dass die islamische Welt zur Moderne fähig ist. Dazu liefert aber auch die islamische Geschichte vor dem Jahr 1798 reichlich Anschauungsmaterial – doch dieses Thema hechelt der Autor nur sehr kurz angebunden im Vorwort durch. Man hätte besser ein eigenes Kapitel daraus gemacht.

Zudem bleibt die neuere historisch-kritische Forschung zu den Anfängen des Islams unerwähnt. Wir wissen heute, dass die Anfänge des Islams anders waren, als es die Legenden überliefern. Das „zerstört“ den Islam keineswegs, sondern eröffnet im Gegenteil neue Möglichkeiten für eine Reformierung des Islams im Einklang mit dessen Ursprung.

Kritik: Zu trüber Ausblick

Am Ende des Buches wird ein etwas trüber Ausblick gegeben. Dafür gibt es aber keinen Grund. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, und wer die Wendungen der Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt, der weiß, dass vieles möglich ist.

Zu kurz gekommen sind in diesem Buch Entwicklungen außerhalb der Zentren der islamischen Welt: Die Ölstaaten, Marokko, Indien oder Indonesien, aber auch die Muslime in den westlichen Ländern stricken an der Gesamtentwicklung des Islams in der Welt mit.

Manches hätte noch in einem Ausblick Erwähnung finden können. So z.B. auch das Werk „Die Kritik der arabischen Vernuft“ von Mohammed Abed Al Jabri (1935-2010) aus dem Jahr 1984, oder die Bemühungen um eine historisch-kritisch geerdete „Theologie der Barmherzigkeit“ von Mouhanad Khorchide in Münster.

Kritik: Linker Bias

Christopher de Bellaigue scheint einem politischen Bias zu unterliegen, einem linken Bias. Vielleicht verdankt sich der linke Bias teilweise auch der Notwendigkeit, Lippenbekenntnisse für das derzeit im Westen vorherrschende intellektuelle Milieu abzugeben, gerade auch bei diesem Thema. Der Wert des Buches wird dadurch kaum geschmälert, auch wenn manches fehlt.

Kritik Linker Bias: Selbstkritik des Westens

Christopher de Bellaigue spart nicht mit Kritik an den westlichen Kolonialmächten. Aber an einigen Stellen lässt Christopher de Bellaigue durchblicken, dass es noch eine andere Kritik am Westen gibt: Der Westen des 20. Jahrhunderts war nicht mehr so attraktiv zur Nachahmung wie der Westen des 19. Jahrhunderts.

Zur Reise von Sayyid Qutb in die USA wird angemerkt, dass die Permissivität der sexuellen Sitten, für die das Jahr 1968 schlaglichtartig steht, Muslime eher abschreckt. (S. 322) Zur radikalen Vewestlichung des Iran durch den Schah wird angemerkt, dass die damals herrschende westliche Kultur banal sei. (S. 333) Treffend wird kritisiert, dass die westliche Architektur Teheran „into a version of everywhere else“ verwandelte. (S. 337) Dieses Phänomen kennen wir aus unseren eigenen, westlichen Städten nur allzu gut. Sayyid Qutb soll gesagt haben, dass er keinen Zusammenhang sehe zwischen den Menschen, denen er in den USA begegnete, und den Errungenschaften des Westens. (S. 322)

Leider führt der Autor diese Kritik nicht weiter aus. Denn womöglich hatte Sayyid Qutb wenigstens teilweise Recht: Der Westen hat tatsächlich kulturell teilweise abgebaut und sich darüber teilweise selbst verloren. Immerhin wird der Gedanke auf der allerletzten Seite des Buches noch einmal aufgegriffen (S. 352): Christopher de Bellaigue hat also verstanden, dass hier ein wichtiges Thema lauert, das bearbeitet werden müsste. Es wäre aber eine konservative Kritik, die hier geübt werden müsste. Vielleicht hat er das Thema deshalb nur angedeutet.

Kritik Linker Bias: Verharmlosung

An manchen Stellen verharmlost der Autor islamische Verhältnisse zu sehr. So z.B. die Sklaverei im Islam. Es ist sicher richtig, dass der Islam auch einen Beitrag zur Milderung von Sklaverei geleistet hat und Sklaverei im Islam anders verstanden wurde als z.B. in den Südstaaten der USA. Dennoch erscheint die Darstellung zu weich gezeichnet. (S. 188 ff.) – Ähnliches gilt für die Homosexualität im Islam. Insbesondere der Gedanke, ob die sexuelle Toleranz der alten Zeit nicht besser war als die spätere Ächtung von Homosexualität unter dem Einfluss des viktorianischen Westen, ist völlig irreführend: Diese angebliche Toleranz war vielmehr eine Ausweich- und Ersatzhandlung und eine große Heuchelei. Eine Toleranz gegenüber Homosexualität, die diesen Namen verdient, hat erst der Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. (S. 195 ff.)

Ebenfalls eine Verharmlosung ist die Behauptung, dass nur eine kleine Minderheit der Migranten, die aktuell aus islamischen Ländern nach Europa kommen, islamisch motiviert wären. (S. 352) Natürlich kommen die wenigsten mit der Absicht, eine Moschee zu gründen oder ein islamistisches Attentat zu verüben. Aber sehr viele kommen eben doch mit dem Mindset eines traditionalistischen bzw. islamistischen Verständnisses von Islam. Und das allein ist ein großes Problem, das man nicht unterschlagen darf. – Schließlich werden auch die islamistischen Selbstmordattentäter verharmlost: Dass sie oft keine Ahnung vom Islam hätten usw. usf. (S. 351) Es mag zwar richtig sein, dass sie oft nur wenig Ahnung haben, aber es ist der traditionalistische bzw. islamistische Mindset, der sie anfällig sein lässt für islamistische Propaganda, und in diesem Sinne sind diese Selbstmordattentäter sehr wohl Muslime und Islamisten, und nicht nur verwirrte Jugendliche.

Kritik Linker Bias: Mode-Themen

Die Beschaffung von Altertümern aus Ägypten und anderen Ländern des Nahen Ostens durch westliche Antiquare und Wissenschaftler wird wiederholt „loot“ genannt, also „Beute“ oder „Plünderung“. (S. 35, 43) Das ist in dieser Pauschalität natürlich falsch. Kultur gehört zunächst einmal immer demjenigen, der sich für sie interessiert und sie zu schätzen weiß. Und insofern ein solches Bewusstsein in diesen Ländern damals nicht vorhanden war, kann man nicht einfach von „loot“ sprechen, sondern man sollte die Dinge differenzierter sehen.

Völlig obskur und „woke“ ist ein Satz, der „multiculturalism“ mit „black slaves“ in Verbindung bringt. (S. 121) Hier wird so getan, als ob die Hautfarbe von Menschen kulturelle Vielfalt bedeuten würde. Das ist aber falsch. Hautfarbe und Kultur sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Gleich mehrfach falsch ist auch dieser Satz über die Migrationsbewegung ab dem Jahr 2015: „civil war in Syria, Libya and elsewhere, along with poverty and climate change, pushed millions of Muslims into Europe“ (S. 352) – Die größte Unwahrheit des Satzes liegt in dem Wort „push“: Denn die Migranten kommen vor allem deshalb nach Europa, weil Europa sie kommen lässt, statt sie zurückzuweisen, und dazu werden noch soziale Wohltaten verteilt, die eine große Anziehungskraft entfalten. Die pull-Faktoren sind entscheidend, nicht die push-Faktoren, sonst wären schon das ganze 20. Jahrhundert über die Armen nach Europa geströmt. Aber selbst heute machen sich gerade die Ärmsten der Armen nicht auf den Weg nach Europa: Dass es um Armut ginge, ist die zweite Unwahrheit. Die dritte Unwahrheit liegt in der angeblichen Fluchtursache „climate change“: Dass Menschen aus islamischen Ländern in Massen nach Europa kommen, weil sich das Klima gewandelt habe, glauben nur hartgesottene Ideologen.

Kritik Linker Bias: NS-Vergangenheit ausgeblendet

Seltsamerweise wird die Beeinflussung des Islamismus durch den Nationalsozialismus mit keinem Wort erwähnt. Weder die engen Verbindungen des palästinensischen Muftis von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini (ca. 1896-1974) mit den Nationalsozialisten, noch die bosnische SS-Division „Handschar“, noch die arabischsprachige Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten kommen zur Sprache. Dabei soll der nationalsozialistische Einfluss eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des spezifisch islamistischen Judenhasses gespielt haben. Im traditionellen Islam gab es – bei allen Problemen – keinen derartigen Judenhass wie im Islamismus.

Wir können nur vermuten, dass Christopher de Bellaigue diesen Aspekt der Geschichte des Islamismus aufgrund irgendwelcher falscher Rücksichtnahmen vollständig ausgeblendet hat. So etwas sollte man natürlich nicht tun.

Kritik Linker Bias: Versagen der Linken kleingeredet

Ganz am Rande wird erwähnt, dass die erfolgreiche Nasser-Regierung in Ägypten die Regierungen in anderen Ländern inspirierte, darunter Algerien, Syrien und der Irak. (S. 324) Völlig unerwähnt bleibt jedoch, dass diese Regime sich als sozialistische Regime verstanden („Baath-Partei“). Insofern auch das ein Beitrag zum Fortschritt in die Moderne war, bräuchte man das auch gar nicht verstecken. Es wird in diesem Buch aber dennoch versteckt. – Der Grund liegt wohl darin, dass diese linken Regime am Ende keine allzu rühmliche Rolle spielten. Ebenso wie Kemal Atatürk und der Schah von Persien strebten sie eine Modernisierung ohne und gegen die Religion an. Und nicht selten verkamen sie zu Diktaturen, wie in Syrien und Irak, aber auch Ägypten. Auch der Bürgerkrieg im Libanon soll sich linken Kräften verdanken.

Ebenfalls kaum beleuchtet wird der Umstand, dass sehr viele Intellektuelle der islamischen Welt direkt von linken Ideologien beeinflusst waren, die an europäischen Universitäten im Umlauf waren. Es wird nur erwähnt, dass der Iraner Ali Schariati vom Antikolonialismus der französischen Universität beeinflusst war (S. 342 ff). Solches galt natürlich nicht nur für Ali Schariati, sondern auch für viele andere Intellektuelle des islamischen Raumes. – Man hätte auch Mohamed Arkoun erwähnen können, der die postmoderne Philosophie auf den Islam münzte. Oder Michel Foucault, der die islamische Revolution von Khomeini begrüßte. Dieses falsche postmoderne Denken hat bis heute Hochkonjunktur im Westen.

Es wird auch die fatale Rolle von Mossadegh im Iran zu weich gezeichnet. (S. 331 ff.) Vielleicht war Mossadegh eben doch ein Steigbügelhalter der Kommunisten? Ganz gewiss waren seine Anhänger später Steigbügelhalter für Khomeini. – Und stimmt es wirklich, dass die Islamisten in der Türkei deshalb an die Macht kamen, weil zuvor die Linken in einem Putsch ausgeschaltet worden waren? (S. 346) Wird hier die Rolle der Linken nicht völlig überhöht? Ist es nicht vielmehr so, dass die Islamisten in der Türkei vor allem durch die demographische Entwicklung zur Mehrheit wurden? – Und man hätte auch gerne etwas von der Erfahrung des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal gelesen: Laut Boualem Sansal war Algerien früher ein linkes Land. Als die ersten islamistischen Prediger eintrafen, verlachte man sie als die „Narren Allahs“ und nahm sie nicht ernst. Wenige Jahrzehnte später befand sich Algerien in einem blutigen Bürgerkrieg mit dem Islamismus.

Immer wieder stoßen wir darauf, dass die völlige Unfähigkeit der Linken, die Religion ernstzunehmen und einzubinden, in die Katastrophe führte. Christopher de Bellaigue schweigt dazu weitgehend.

Kritik Linker Bias: Irak-Krieg von George W. Bush

Den Irak-Krieg des US-Präsidenten George W. Bush von 2003 beschreibt Christopher de Bellaigue mit kurzen Worten als „failure of the Anglo-American occupation of Iraq“ (S. 349)

Doch war es wirklich nur ein „failure“? Hat man nicht den Diktator effektiv beseitigt, anders als z.B. in Syrien? Hat man nicht sichergestellt, dass der Diktator weder über Giftgas noch über sonstige Massenvernichtungswaffen verfügt? Und damit auch den Massenmord Saddam Husseins an Schiiten und Kurden ein für allemal unterbunden? Und war es wirklich nur eine „occupation“?! Wurden nicht Schiiten und Kurden, die immerhin 80% der Bevölkerung des Irak ausmachen, tatsächlich von der Herrschaft der sunnitischen Minderheit befreit? Haben wir nicht alle die Bilder gesehen, wie die westlichen Truppen von Schiiten und Kurden jubelnd begrüßt wurden? Der Schuh-Werfer auf George W. Bush war jedenfalls ein Sunnit aus der Hochburg der Saddam-Hussein-Anhänger. Und „Anglo-American“? Es waren über 40 Nationen am Irak-Krieg beteiligt. Nur Frankreich und Russland blieben fern. Aber das waren ja die Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein, die sich in Ölkonzessionen hatten bezahlen lassen. Und Deutschland war so dumm, sich diesen beiden anzuschließen. Und hatte Bush nicht erreicht, dass die Terrorwelle im Irak am Ende abebbte? Und war die eigentliche Katastrophe nicht erst der Truppenabzug durch Obama und Obamas Syrienkrieg? Und existiert die formale Demokratie, die George W. Bush 2003 im Irak etablierte, nicht immer noch? Trotz allem immer noch? Und wer hat jetzt eigentlich Zugriff auf das irakische Öl bekommen? Der US-Konzern „Hölliburton“? Nein, sondern ein norwegisch-chinesisches Konsortium.

Christopher de Bellaigue hätte George W. Bush unbedingt für dessen Weitsichtigkeit loben müssen! Aber vielleicht konnte er das nicht, aus Rücksicht auf gewisse Milieus. Und weil de Bellaigue das versäumt hat, wollen wir dies hier nachholen, indem wir einige Worte aus einer Rede von George W. Bush vom 06. November 2003 zitieren, die ihre Kraft bis heute nicht verloren haben:

„Time after time, observers have questioned whether this country, or that people, or this group, are „ready“ for democracy … It should be clear to all that Islam – the faith of one-fifth of humanity – is consistent with democratic rule. … As we watch and encourage reforms in the region, we are mindful that modernization is not the same as Westernization. Representative governments in the Middle East will reflect their own cultures. They will not, and should not, look like us. … And working democracies always need time to develop – as did our own. … There are, however, essential principles common to every successful society, in every culture. …

Iraqi democracy will succeed – and that success will send forth the news, from Damascus to Teheran – that freedom can be the future of every nation. … Sixty years of Western nations excusing and accommodating the lack of freedom in the Middle East did nothing to make us safe – because in the long run, stability cannot be purchased at the expense of liberty. As long as the Middle East remains a place where freedom does not flourish, it will remain a place of stagnation, resentment, and violence ready for export.“

Und wer jetzt sagt: „Es ist doch schiefgegangen im Irak!“, der hat nichts verstanden. Denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird erst dann zu Ende sein, wenn das Happy End erreicht ist. George W. Bush hatte das erkannt. Obama nicht.

Fazit

Mit seinem Buch „The Islamic Enlightenment“ hat Christopher de Bellaigue eindrucksvoll seine zentrale Botschaft untermauert: Die islamische Welt verharrt nicht statisch im Mittelalter, sondern hat in den letzten 200 Jahren massive Modernisierungen durchlaufen und ist grundsätzlich auch zu weitergehenden Modernisierungen fähig. Es gibt gute und verstehbare Gründe, warum die Modernisierung bis heute nicht vollständig geglückt ist. Eine grundsätzliche Modernisierungsunfähigkeit der islamischen Welt ist jedenfalls nicht der Grund.

Allerdings gilt: Diese Modernisierung ist kein Selbstläufer. Man darf sich nicht zurücklehnen und glauben, dass mit der Zeit schon alles von selbst gut werden würde. Modernisierung muss aktiv herbeigeführt werden. Und auch Rückfälle sind jederzeit möglich. Übrigens auch in der westlichen Welt. Auch deren Modernität ist nicht in Stein gemeißelt, sondern kann verloren gehen.

Schlussfolgerungen

Welche Schlüsse für unsere heutige Zeit können aus diesem Buch gezogen werden? Hier eine kurze Liste von Vorschlägen. Dabei gilt: Es ist immer leichter gesagt als getan.

  • Der Westen muss wieder zu sich selbst kommen, damit er wieder die Anziehungskraft von früher entfalten kann. Liberalismus und Rationalismus müssen wieder zum Leuchten gebracht werden. Eine Rückbesinnung auf nationale und regionale Traditionen ist erforderlich. Außerdem eine Neubesinnung auf religiös-weltanschauliche Traditionen, namentlich Christentum, klassischer Humanismus und Aufklärung.
  • Der Westen sollte sich nicht dafür schämen, dass er fortschrittlicher als die islamische Welt war. Nicht alle Aspekte des Kolonialismus waren schlecht und falsch. (Einiges davon aber schon, aber das ist nichts Neues.)
  • Die islamische Welt muss akzeptieren, dass sie an dem ganzen Schlamassel vor allem selbst schuld ist. Denn es war die islamische Welt, die mehrere Jahrhunderte kultureller Entwicklung verschlafen und sich auf diese Weise angreifbar gemacht hatte. Das, und nichts anderes, ist das Urübel.
  • Die islamische Welt muss verstehen, dass vieles von dem, was geschehen ist, jetzt nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, auch wenn es einst Unrecht war. Man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht auslöschen. Ein Vorbild kann hier Europa sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Begleichung alter Rechnungen verzichtete.
  • Alle beteiligten Akteure, ob religiös oder nicht religiös, ob westlich oder östlich, müssen begreifen, dass es eine nachhaltige Modernisierung nur mit dem Islam geben kann, nicht gegen den Islam.
  • Die Modernisierung des Islam muss dort fortgeführt werden, wo sie um 1900 liegengeblieben ist. Eine Modernisierung des Islam „zerstört“ oder „verfälscht“ den Islam nicht, solange sie mit Vernunft, Wahrhaftigkeit und ohne Eifer durchgeführt wird. Ein Vorbild kann die Modernisierungsgeschichte der katholischen Kirche sein, die sich dabei ebenfalls nicht selbst aufgegeben hat. Reformen sind erst dann dauerhaft tragfähig, wenn sie auch von der Mehrheit der Konservativen mitgetragen werden.
  • Offenbar leidet der Islam heute auch daran, dass seine historisch gewachsenen Strukturen zerstört worden sind. Der Islam muss wieder eine Struktur von Religionsgelehrten aufbauen, die legitim und authentisch für den Islam sprechen können und von staatlichen Einflüssen unabhängig sind. Irgendjemand muss die Reformen schließlich tragen und durchführen. Irgendjemand muss sagen können: Diese Reform gilt jetzt, und diese nicht.
  • Muslime werden damit leben müssen, dass es dauerhaft verschiedene Auffassungen darüber gibt, wie ein moderner Islam aussieht. Hier ist mehr Toleranz und friedliches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Auffassungen notwendig.
  • Linke müssen damit aufhören, die Muslime und die islamische Welt für ihre linken politischen Zwecke zu vereinnahmen, Islamismus und islamischen Traditionalismus zu verharmlosen, und den Westen in seiner Fortschrittlichkeit zu verteufeln. Vielmehr müssen Linke ihre eigene Geschichte von Schuld, Missbrauch und Versäumnissen in bezug auf den Islam und die islamische Welt, aber auch in bezug auf Christentum, klassischen Humanismus, die Aufklärung und die westliche Welt, aufarbeiten.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)

Hans Jansen: Mohammed – eine Biographie (2005/07)

Das „Evangelium des Islam“ – Historische Kritik und Reformpotential

Die meisten Menschen lesen das falsche Buch, wenn sie sich über den Islam informieren wollen: Den Koran. Denn die Verse im Koran bleiben ohne einen historischen Zusammenhang, und über Mohammed sagt der Koran wenig oder gar nichts. Der zentrale Text des traditionalistischen Islam, der die Taten von Mohammed chronologisch erzählt und auf diese Weise eine Interpretation des Koran liefert, ist die Propheten-Biographie von Ibn Hischam. Dieses „Evangelium des Islam“ wurde erst (!) 200 Jahre nach Mohammed von Ibn Hischam geschrieben; angeblich auf der Grundlage einer vielleicht 50 Jahre älteren Propheten-Biographie von Ibn Ishaq.

Diese Propheten-Biographie aus dem 8./9. Jahrhundert ist die zentrale Grundlage des traditionalistischen Islam, nicht so sehr der Koran!

Hans Jansen versucht nun in seinem Buch „Mohammed, eine Biographie“ diese angebliche Lebensgeschichte Mohammeds, die ja erst lange nach Mohammed geschrieben wurde, und die darin enthaltene Ausdeutung des Koran zu hinterfragen: Was ist daran ein glaubwürdiger historischer Bericht und was ist spätere Legendenbildung? Und wenn eine Legendenbildung vorliegt, wie kam es zu dieser Legende?

Diese Hinterfragung gelingt Hans Jansen sehr gut. Am Ende weiß man, dass die Propheten-Biographie von Ibn Hischam bzw. Ibn Ishaq keine historische Biographie sondern eine Glaubensschrift ist, ganz genauso wie die Evangelien über das Leben Jesu. Man weiß also über die wirklichen Geschehnisse um Mohammed weniger als viele meinen. Vieles, was bei heutigen Muslimen für typisch islamisch gilt, ist höchstwahrscheinlich eine spätere Hinzuerfindung oder eine verzerrte und ausgeschmückte Version der wahren Begebenheiten.

Das eröffnet natürlich ein unerwartetes Potential für eine Reform des Islam:

So wie die Erforschung des „Urchristentums“ und des „historischen Jesus“ zu einem besseren und damit reformierten Verständnis des Christentums geführt haben, ganz genauso kann man sich Reformimpulse von der Erforschung des „Urislam“ und des „historischen Mohammed“ erhoffen. Das ist eine große Chance für alle modernen Muslime, die mit der Integration des Islam in die aufgeklärte, demokratische Gesellschaft ernst machen möchten. Wie war Mohammed wirklich? Das ist eine Frage, an der jeder Muslim brennend interessiert sein sollte.

Hinzu kommt, dass die Propheten-Biographie von Ibn Hischam bzw. Ibn Ishaq anders als der Koran kein heiliges, geoffenbartes Buch ist, sondern Menschenwerk: Hier ist Kritik viel leichter möglich als beim Koran.

Hans Jansen geht in seinem Buch sehr behutsam vor. Der Leser bekommt keine wissenschaftlichen Deutungen vor den Latz geknallt, die bei Menschen, die solches Hinterfragen nicht gewohnt sind, gläubigen Trotz provozieren müssen. Im Gegenteil: Das Buch arbeitet viel mit offenen Fragen: Klingt dies glaubwürdig? Ist jenes nicht ein seltsamer Zufall? Hört sich das nicht genauso an wie der Bibelvers xy? – Manchmal übertreibt der Autor es sogar mit der Behutsamkeit, wenn er z.B. die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode nicht über den Glauben an eine sichtlich ausgeschmückte Legende stellen will.

Das Buch hat aber auch einige Nachteile:

Zunächst bleibt das Buch oft dabei stehen, die Legenden um Mohammed zu hinterfragen, ohne Anhaltspunkte dafür zu geben, was denn statt dessen wirklich geschah. Nachdem sich manche wohlvertraute Deutung von Koranversen durch Hans Jansens Buch in Luft aufgelöst hat, hätte man gerne mehr über die wahren Hintergründe von diversen Koranversen gewusst.

Größter Malus: Vor allem im Nachwort fokussiert sich der Autor ziemlich überraschend und kurz angebunden auf die These, dass es Mohammed als historische Person vielleicht gar nicht gab. Das ist zwar eine legitime wissenschaftliche These (von mehreren), aber als Quintessenz dieses Buches völlig unpassend. Dieses Buch zeigt vor allem, dass die überlieferten Legenden nicht stimmen können. Was aber statt dessen wahr ist, dazu führt dieses Buch so gut wie keine Argumentation.

PS 17.08.2024

Der Verlag hat später offenbar den folgenden Untertitel hinzugefügt: „Der historische Mohammed – was wir wirklich über ihn wissen“. Dieser Untertitel ist insofern unpassend, als das Buch deutlich mehr dazu sagt, was wir nicht wissen, als dazu, was wir wissen. Wer wissen will, was man von Mohammed weiß, sollte z.B. Tom Holland lesen: In the Shadow of the Sword / Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs (2012).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. April 2016)

Franziska Schreiber: Inside AfD – Der Bericht einer Aussteigerin (2018)

Authentischer Insider-Bericht einer moralisch integren Ex-AfDlerin

Franziska Schreiber ist vermutlich die erste Aussteigerin aus der AfD, die nicht nur Interviews gibt, sondern ihre traumatisierenden Erlebnisse in einem Buch verarbeitet hat. Sie kann authentisch berichten: Es ist wirklich schlimm geworden mit der AfD.

Der Leser erlebt mit diesem Buch alles noch einmal mit, wie es war:

Anfangs war die AfD ein legitimes und sogar notwendiges demokratisches Projekt: Durch die sogenannte „Euro-Rettung“ wurden und werden die europäischen Verträge (von Verfassungsrang) gebrochen und unfasslich hohe Summen Geldes völlig sinnlos zum Fenster hinausgeworfen. Zudem werden die europäischen Südländer ökonomisch geknebelt. Auch die chaotische und oft rechtswidrige Zuwanderungspolitik ist ein großes Problem. In der Integrationspolitik gibt es völlig falsche Weichenstellungen zum Aufbau von Parallelgesellschaften, von denen einige zudem undemokratisch, frauenfeindlich und kriminell sind. Die EU hat sich bürokratisch statt demokratisch und planwirtschaftlich statt marktwirtschaftlich entwickelt. Die demokratische Kritik von Karl Jaspers an der „Parteienoligarchie“ der BRD aus den 60er Jahren ist nach wie vor berechtigt. Und Franziska Schreiber erklärt in sehr beachtenswerten Worten, warum die ostdeutschen Bürger sich in der BRD nicht mitgenommen fühlen. Ein Kollaps des Systems steht zwar nicht bevor, aber dass die derzeit Regierenden aus ideologischer Selbstverklemmung viel dafür tun, dass es uns allen deutlich schlechter gehen wird, ist unübersehbar.

Aber leider verlief sich der hoffnungsfrohe und elektrisierende Aufbruch gegen den Mehltau des immer undemokratischer werdenden etablierten Politik- und Medienbetriebes ins Leere. Denn die neue Partei füllte sich immer mehr mit rechtsradikal motivierten Mitgliedern. Zweimal wechselte die Partei ihre(n) Vorsitzende(n) aus (Lucke und Petry), bis sie schließlich zu jener rechtsradikalen Gauland-AfD geworden war, die sie heute ist. Im Grunde eine NPD in Nadelstreifen.

Die Autorin beschreibt eindrücklich, wie die Vorurteile und verzerrten Darstellungen der Medien dazu beitrugen, dass sich die falschen Leute von dieser Partei angezogen fühlten. Sie beschreibt, wie der neue Anspruch auf schrankenlose Meinungsfreiheit und Basisdemokratie die Parteiführung immer mehr nach rechts zwang. Sie beschreibt, wie die Liberalen in der Partei durch taktische Spiele und Bündnisse versuchten, die Partei zu retten, und dabei (fast) ihre Seele verkauften. Es wird deutlich, dass sich in der AfD immer mehr Menschen mit einem destruktiven Charakter sammelten, die in allem nur das Schlechte sehen wollen, und unfähig dazu sind, konstruktive Lösungen zu erarbeiten, die auch Kompromisse und die Anerkennung von Realitäten erfordert hätten. Es wird gezeigt, wie sich hinter legalen und legitimen Aussagen ganz andere Absichten und Ansprüche verbergen. Es gab nicht den einen „Rechtsruck“, sondern ein allmähliches Hinübergleiten ins Rechtsradikale. Die AfD war damit an derselben Problematik gescheitert, wie alle ähnlichen Gründungen zuvor auch schon: Die Republikaner, die Schill-Partei, die Partei „Die Freiheit“.

Fazit

Die Kernbotschaft des Buches ist so simpel wie einfach: Das gute und wichtige Projekt AfD ist gescheitert. Wählt diese Partei nicht mehr! Diese Partei lebt nur noch von dem Nimbus, den sie einmal hatte. Wo die Medien früher Dinge unfair verzerrt hatten, berichten sie heute leider die böse Wahrheit über die AfD. Irgendwann wird auch der Letzte kapieren, dass der Lack ab ist. Die AfD ist die NPD in Nadelstreifen. Selbst die anderen europäischen Rechtspopulisten, die selbst bekanntlich auch keine Waisenknaben sind, fragen sich inzwischen, ob die AfD nicht zu radikal für sie geworden ist.

Defizite dieses Buches

Das Buch bringt seine Botschaft für verständige Menschen verlässlich rüber, dennoch hat es auch Defizite. An einigen Stellen argumentiert die Autorin leider etwas ungeschickt, so dass der Leser den Eindruck bekommt, dass völlig legitime und korrekte Positionen für radikal gehalten werden. Es gilt natürlich, hinter den Vorhang des legalen Anspruchs zu schauen. Es ist durchaus legitim, eine konservative Familienpolitik zu wollen. Es ist legitim, die deutsche Kultur des deutschen Staatsvolkes erhalten zu wollen. Der Anstieg der Gewaltkriminalität im Zuge der Balkanroute 2015 ist Realität, auch wenn die Medien sich um diese klare Aussage herummogeln. Eine gewisse Geringschätzung der deutschen Fahne außerhalb der Fußball-WM gibt es leider doch. Vollverschleierung ist leider nicht so selten und auch nicht so unproblematisch, wie dargestellt. Und Kinder mit Migrationshintergrund sind nicht allein deshalb schon integriert, weil sie einen deutschen Pass haben; leider nicht.

Teilweise werden Bezeichnungen für Rechtsradikalität verwendet, die dafür unpassend sind, so z.B. „Nationalkonservative“, „Neocons“, „Patrioten“, „Rechte“. Es wäre ja schön, wenn die AfD nur rechts, aber nicht rechtsradikal wäre. Schön wäre es, wenn die AfD voller konservativer Patrioten oder Neokonservativer wäre. Aber es sind Rechtsradikale. Und so sollte man sie auch nennen. Man sollte sich die guten Worte nicht von der Gauland-AfD mit anderer Bedeutung überschreiben lassen. Genauso wie man sich Worte wie „Humanismus“, „Demokratie“ und „Aufklärung“ nicht von den Linken mit anderer Bedeutung überschreiben lassen sollte.

Teilweise werden die problematischen Aussagen von AfDlern nicht präzise genug analysiert, so dass die Kritik Gefahr läuft, die Pointe zu verpassen. So hatte Bernd Höcke z.B. in seiner zweifelsohne schrägen Rede über den „Ausbreitungstyp“, anders als die Autorin es darstellt, keineswegs behauptet, dass dieser genetisch angeboren sei. Das ist nur eine Deutungsmöglichkeit, die noch nicht einmal nahe liegt, wenn man bedenkt, dass Höcke eine Änderung des Fortpflanzungstyps durch eine Änderung der Politik in Afrika forderte. Im Nachhinein kann man natürlich sagen: Das war Absicht von Höcke. Er wollte tatsächlich, dass es so verstanden wird. Aber wirklich gesagt hat er es nicht. Das ist ja gerade die Masche, die von der Autorin an anderen Beispielen besser dargestellt wurde.

In einem Punkt scheint die Autorin Frauke Petry zu Unrecht in Schutz zu nehmen. Es geht um die Ereignisse im Stuttgarter Landtag 2016, als Meuthen die Fraktion spaltete, nachdem die Hälfte der Abgeordneten den glasklaren Antisemiten Gedeon nicht ausschließen wollte. Frauke Petry hatte hier nicht genügend erkannt, dass Gedeon nicht das Hauptproblem war, sondern diese Gedeon-Schützer. Frauke Petry stellte es damals so dar, als sei alles in Ordnung, nachdem sie Gedeon zum Gehen bewegen konnte. Aber wer einen glasklaren Antisemiten nicht ausschließt, auf den fällt der Antisemitismus selbst zurück. Da ist in der Politik keinerlei Naivität erlaubt. Meuthen hatte dieses Problem mit seiner Fraktionsspaltung besser beantwortet als Petry. – Dass die AfD-Basis die Fraktionsspaltung nicht verstand und ablehnte, und dass Meuthen später zusammen mit Gauland die Fraktion sang- und klanglos wieder vereinigte, war das erste öffentlich erkennbare Fanal, dass die AfD auch von ihrer Führung her in den Radikalismus abgerutscht war.

Am Ende des Buches bekommt der Leser den Eindruck vermittelt, dass doch alles wieder irgendwie in Ordnung wäre mit Deutschland. Es wird am Ende des Buches nicht noch einmal herausgestellt, dass die schwerwiegenden Probleme, wegen derer die AfD sich legitimerweise gegründet hatte, immer noch existieren. Und dass das Scheitern der AfD leider auch ein gewisses Scheitern unserer Demokratie als ganzes bedeutet, sowie ein ungehindertes Voranschreiten der etablierten Parteien auf ganz falschen Wegen. Der Schluss des Buches ist zu optimistisch! Wie wenn es keine Eurokrise gäbe. Wie wenn die Asylkrise gelöst wäre. Wie wenn die Integration in Deutschland auf einem guten Weg wäre. Wie wenn es keine Brüche von Recht und Verfassung gäbe. Die Probleme sind weiterhin da, und sie werden uns allen tonnenschwer auf die Füße fallen. Nicht als Weltuntergang, aber doch als große Belastung für viele Generationen.

Halbwegs rationale AfD-Anhänger, die durch Argumente noch erreicht werden können, könnten sich durch dieses Buch wegen der genannten Defizite unerschüttert zeigen. – AfD-Gegner hingegen könnten sich durch dieses Buch in dem falschen Glauben bestätigt sehen, dass die AfD schon immer eine unnötige und überflüssige Partei war, und dass doch alles in Ordnung sei in Deutschland. Dafür gibt es zwei Punkte Abzug. Aber weil’s nun einmal ein echt authentisches Werk ist, das nun einmal so ist wie es ist, gibt es einen Pluspunkt, also im ganzen nur einen Punkt Abzug.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. August 2018)

Thilo Sarrazin: Wunschdenken – Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert (2016)

Handbuch für kommende Politiker – lesenswerte Zusammenstellung

In diesem Buch abstrahiert Sarrazin völlig von den aktuellen Problemen und erklärt, was gute Politik ausmacht, und wie der Politikbetrieb funktioniert. Die aktuellen Probleme kommen zwar vor, werden aber als Fallbeispiele für schlechte Politik besprochen. Damit hat Sarrazin eine Art Handbuch für künftige Politiker geschrieben, aber auch eine Grundlage des Verstehens für Wähler gelegt, warum Politik so läuft wie sie läuft. Es gibt nicht die große Verschwörung, sondern es gibt viel Dummheit und Machtgerangel.

Sarrazin erklärt einmal mehr, wie gute Politik aussehen sollte, und warum die aktuelle Politik falsch ist, denn sie beruht auf Wunschdenken, das die Realität ausblendet. Der gute Politiker sollte eine langfristige Perspektive haben, auch eine Rückbindung an Philosophie, hier z.B. Karl Popper. Kurzfristig wird er jedoch wenig erreichen, und seine Themen nur durchsetzen, wenn der Moment günstig ist. Nicht das bessere Argument, sondern Machtkonstellationen entscheiden häufig darüber, welche politische Meinung sich durchsetzt.

Für erfahrene Vielleser ist das Buch ein wenig hausbacken und wiederholt vieles, was man auch woanders her schon kennt. Doch es ist eine schöne Zusammenstellung von Überlegungen, die – wie gesagt – fast schon Handbuchcharakter haben.

Was fehlt ist eine Besprechung der konkreten Mode-Ideologien, die den Zeitgeist früher und heute beherrschen, sagen wir angefangen mit den 1950er Jahren.

Außerdem ist Sarrazin gegenüber militärischen Interventionen in Nahost zu skeptisch. Sicher wurde dabei auch schon viel falsch gemacht, aber gar nicht zu intervenieren könnte auch falsch sein. Obama hat den Nahen Osten jedenfalls nicht friedlicher gemacht, indem er in Ägypten den Muslimbruder-Präsidenten stützte, in Syrien mitzündelte, in Libyen Gaddafi wegbombardierte, ohne einen Plan für das Danach zu haben, und natürlich auch die Truppen aus dem Irak kopflos abzog, um die Bahn für den IS freizumachen, der dann aus Syrien in den Irak einfiel. George W. Bush hingegen hat den Irakkrieg vor Ort durchgefochten, bis der Terror besiegt war, und ist darüber hinaus dort geblieben, und bis heute stellen die irakischen Kurden und die irakische Regierung zwei (den Umständen entsprechend) demokratische Stabilitätsfaktoren in der Region dar, die sich George W. Bush verdanken, und die heute den Kampf gegen den IS führen. Man muss eine Intervention eben ganz oder gar nicht machen, könnte man sagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Honoré de Balzac: Die Frau von dreißig Jahren (1842)

Ein Frauenleben zu Balzacs Zeiten – nur begrenzt auf heute übertragbar

Balzac durchleuchtet mit diesem Buch den typischen Werdegang einer Frau seiner Zeit vom Jugendalter bis zum Tod (insofern ist der Titel irreführend). Dieser Werdegang, der eine fortgesetzte Lebenskatastrophe ist, wurde damals durch das Institut der Ehe bestimmt, die offenbar praktisch unauflöslich war. Aus diesem Umstand ergeben sich eine ganze Reihe von zwangsläufigen Konsequenzen.

Am Anfang allen Übels steht die enthusiastische Wahl eines oberflächlich beeindruckenden Ehegatten. Dieser entpuppt sich jedoch schon bald als Langweiler und Dummkopf. Doch die Ehe ist ein für allemal geschlossen. Abwechslung bietet eine ältere, erfahrene Freundin. Doch diese stirbt alsbald. Abwechslung bietet ein Kind. Doch es ist kein Kind der Liebe. Abwechslung bietet auch ein Liebhaber. Doch die Ehe verhindert, dass aus dieser Beziehung eine ernste Sache werden kann. Der Liebhaber stirbt tragisch, es kommt der nächste Liebhaber. Die Erwartungen und der Schwatz der Gesellschaft sind unerträglich, ebenso die außerehelichen Ausschweifungen des Ehegatten. Vor einem Notar muss Normalität geheuchelt werden. Die Tochter läuft irgendwann davon, weil sie genau spürt, dass sie nicht geliebt wurde. Eine andere Tochter wird glücklich verheiratet, und für ihr Glück wird am Ende alles Eigene geopfert. Kurz: Ein Frauenleben als durchgängige Tragödie vom Anfang bis zum Ende.

Der Roman war für seine Zeit bedeutsam, es fällt jedoch schwer, die Situation ohne weiteres auf die heutige Zeit zu übertragen. Viele Einzelaspekte dieser Tragödie zeigen sich natürlich auch in unseren Tagen, doch der zentrale Zwang der Ehe ist heute nicht mehr in gleicher Weise vorhanden. Aus heutiger Sicht wäre es z.B. interessant gewesen zu lesen, wie die Protagonistin nach ihrer Eheschließung schrittweise bemerkt, dass ihr enthusiastisch verehrter Ehemann ein Dummkopf ist. Man hätte es dann mit dem Hintergedanken lesen können: Woran merkt sie es, und hätte man es nicht schon vorher merken können? Doch genau diesen Vorgang der Erkenntnis überspringt Balzac komplett. Im einen Moment ist die Protagonistin noch enthusiastisch verliebt, im nächsten Kapitel ist sie schon die enttäuschte Ehefrau ein Jahr später.

Der Verlauf der Handlung ist zudem nicht rund. Insbesondere zum Ende hin wird viel gesprungen. Man liest, dass Balzac hier verschiedene Erzählungen zu einer vereinigte. Diese Vereinigung ist leider nicht gut gelungen.

Interessant eine Episode am Rande:

Der Notar Alexandre Crottat ist ein Anaisthetos, also ein Mensch, der für soziale Empfindlichkeiten, Gefühle und unterschwellige Signale nicht empfänglich ist. Dieser Crottat schwadroniert in Gegenwart der Familie d’Aiglemont – Ehemann, Ehefrau und Liebhaber mitsamt ehelichen und außerehelichen Kindern – ehrlich und direkt über die schier unglaublichen Rechtsfälle in Ehesachen in der Gesellschaft, und bemerkt gar nicht, dass er damit genau die Situation der Menschen trifft, in deren Gegenwart er redet. In gewissem Sinn ist er der moralischste, glaubwürdigste Charakter in diesem Buch. Man kann es ihm noch nicht einmal als einen Fehler ankreiden, dass er sich „unmöglich“ benimmt, denn „unmöglich“ sind ja in Wahrheit die anderen, nicht er. Allerdings wäre er klug beraten, zu schweigen, denn die anderen lernen durch seine richtigen Reden nichts, und er schadet sich nur selbst. Man würde ihm diese Einsicht und mehr Gespür wünschen zu schweigen, dann könnte er ein Weiser sein. Jedenfalls ist es unzureichend, diesen Menschen als dick und dumm zu charakterisieren, wie es anscheinend geschieht. Seine „Dummheit“ erscheint nur vor dem Hintergrund einer verlogenen Gesellschaft „dumm“.

Besser hat es der alte Dorfpfarrer gemacht, der versuchte, die Protagonistin zu belehren: Erstens spricht er die Protagonistin unter vier Augen an, zweitens kann er durch das Beispiel seines eigenen Leidens Eindruck machen, und drittens spürt er irgendwann, dass er nicht weiterkommt, und stellt daraufhin seine Bemühungen stillschweigend ein.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Dezember 2020)

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (um 1320)

Verdichtung von Mittelalter und Antike provoziert aufklärerische Reaktion

Die Leistung Dantes

Die „Göttliche Komödie“ von Dante ist ein großartiger Bilderbogen der Weltanschauung des ausgehenden Mittelalters. Dante integriert eine ganze Reihe von Themen in ein umfassendes Epos: Das christliche Weltbild von Hölle, Fegefeuer und Himmel sowie die christliche Theologie von freiem Willen, Sünde, Gnade, Liebe, Erlösung und Trinität. Das aristotelische Weltbild von Erdgeographie, Kosmologie und Theologie. Die antike Mythologie und antike philosophische Ansichten über Gott, die Welt, Urbild und Abbild. Die Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte der norditalienischen Stadtstaaten, insbesondere der von Florenz. Und nicht zuletzt Dantes eigene Lebensgeschichte und seine große Liebe Beatrice.

Jedes einzelne dieser Themen wird von kleineren dichterischen Freiheiten abgesehen mehr oder weniger brav und treu von Dante abgearbeitet. Dante ist in keinem inhaltlichen Punkt wirklich originell und es gibt für Kenner der jeweiligen Materie auch keine „größeren“ Geheimnisse bei Dante zu entdecken. „Kleine“ Geheimnisse gibt es hingegen in Hülle und Fülle: Die große dichterische Leistung Dantes muss in der Integration all dieser Themen zu einem umfassenden Gesamtwerk, zu einer anspielungs- und beziehungsreichen Wissensordnung seiner Zeit gesehen werden, die abstrakte Dinge wie Hölle oder Himmel in teils origineller Weise extrem konkret und anschaulich werden lässt. Das Eigentliche des Dichtens, die „Verdichtung“, ist die große Leistung Dantes!

Dante als unfreiwilliger Wegbereiter der Renaissance

Dante selbst muss eindeutig noch als mittelalterlicher Mensch gesehen werden, der den christlichen Glauben ungebrochen glaubte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo die Philosphie als ungenügend verurteilt wird und der Glaube den Vorrang eingeräumt bekommt. Doch explodiert in Dantes Werk gewissermaßen die Konkretheit des christlichen Weltbildes und die Synthese mit antikem Denken wie komprimierte Materie in einem Urknall, so dass Dante unfreiwillig zu einem Verursacher der Renaissance geworden sein dürfte; dies auf folgende Weisen:

Zunächst trug Dante wie andere auch schon dazu bei, dass die antike neben der biblischen Mythologie wieder salonfähig wurde. Das eröffnete weitere Horizonte. Zudem schuf Dante eine unglaubliche Fülle an Bildern, die es in dieser Form bisher so nicht gab, und die die Menschen nun tatsächlich als Bild sehen wollten. Aber das ist nicht der wesentliche Beitrag Dantes.

Der Leser wird bei Dante von der Konkretheit und Anschaulichkeit des christlichen Weltbildes schockiert. Denn in dieser Konsequenz der Darstellung, die alles auf die Spitze treibt, wird zugleich auch die Absurdität des christlichen Weltbildes bewusst. Derart konkrete Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel mussten natürlich einen teilweise grotesken Eindruck machen, der ungewollt satirisch ist. Man stelle sich vor, der hl. Thomas von Aquin, ein Gelehrter, dessen Lebenselement das Studium von Büchern ist, tanzt im Himmel geistlose Tänze wie auf einem Kindergeburtstag: Was für ein unwürdiges Schauspiel! Gebt dem Mann doch eine Studierstube damit er glücklich sein kann, möchte man rufen vor Empörung! Die Bilderwelt von Dantes Hölle prägte zweifelsohne die negativen Auffassungen der Aufklärer über das Mittelalter mit. Man fühlt sich teilweise an die bitterböse Satire „Zappenduster“ („The Living End“) von Stanley Elkin erinnert, die ihren satirischen Effekt gerade daraus bezieht, dass sie die christlichen Jenseitsvorstellungen ganz und gar ernst nimmt. Ist es völlig abwegig zu vermuten, dass genau dieser satirische Effekt sich auch bei dem ein oder anderen Leser Dantes einstellte?

Am sympathischsten und glaubwürdigsten – wenn überhaupt – ist bei Dante das Fegefeuer: Hier trifft man auf Menschen, die sich mühen und arbeiten und auf ein Ziel hinarbeiten. Sie sind nicht verdammt, leben aber auch nicht in einer grenzdebilen Heiligkeit. Das Fegefeuer kommt dem irdischen Leben der Menschen am nächsten. Grotesk, dass ein Vergil nicht im Himmel ist, wohl aber getaufte Kleinkinder. Grotesk, dass moralisch gute Inder in der Hölle sind, nur weil sie nie von Christus hörten. Grotesk, dass zur Heirat gezwungene Nonnen einen Malus bekommen, weil sie statt in die aufgezwungene Ehe einzuwilligen schließlich auch den Märtyrertod hätten sterben können! Das Groteske ist aber nicht Dantes Schuld; Dante macht hier unfreiwillig auf den Widersinn der auf die Spitze getriebenen christlichen Theologie aufmerksam.

Beatrice wiederum erscheint wenig liebevoll, vielmehr rauh und derb, hält Dante bei ihrer Wiederbegegnung eine Gardinenpredigt, kommandiert herum, schleift ihn durch einen Bach, taucht ihn rüde unter, und ist abgehoben heilig, geradezu arrogant. Grotesk wiederum, dass Dante nicht an der Liebe von Beatrice interessiert ist, sondern nur an der Liebe Gottes, die sich durch Beatrice offenbare. Wenn dies eine Sublimation von Dantes Liebe zu Beatrice sein soll, dann ist sie missglückt, denn die Sublimation hat den Kern der Sache zerstört. Ja, das ist Christentum auf die Spitze getrieben. Auch ist es existentiell extrem unglaubwürdig, vor Gott zu stehen zu kommen, Gott bewiesen zu sehen, alle Zweifel ausgeräumt zu haben, und dann nichts besseres zu tun zu wissen, als theologische und philosophische Theoreme zu erörtern. Es passt auch nicht, die Philosophie dafür anzuprangern, dass sie die Menschen entzweie, wenn gleichzeitig darüber geklagt wird, wieviele theologische Irrtümer es doch gibt, die die Menschen … entzweien.

Mit all diesem auf die Spitze getriebenen Widersinn hat Dante gewiss manchen Leser zum Nachdenken gebracht, und so unfreiwilligerweise die Renaissance mit angeschoben.

Die zweite unfreiwillige Provokation zur Aufklärung ist der Umstand, dass Dante viele antike mythologische Figuren und Begebenheiten an Stellen und auf eine Weise in sein Werk verwoben hat, wo sie völlig unpassend sind. In der Hölle fällt dies noch am wenigsten auf, zumal auch die antike Mythologie einen Hades kannte. Doch spätestens im Himmel ist es teilweise äußerst unpassend. Da betritt Dante den Himmel des einen Gottes … und ruft Apollon an, auf dass er gut dichte. Da steht Dante vor dem einen Gott und staunt … wie Neptun beim Anblick des Schattens der Argo. Wie passen Apollon, Neptun, usw. zu diesem einen Gott?

Zum Dritten ist Dante erstaunlich anmaßend, scheint dies aber selbst nicht zu bemerken. Christliche Demut scheint ihm zu fehlen. Woher nimmt er sich das Recht, diverse Menschen in die Hölle zu bannen, noch dazu in bestimmte Höllenkreise, anderen aber den Himmel zuzusprechen? Was für einen modernen Schriftsteller bedeutungslos wäre, ist für einen mittelalterlichen Schriftsteller eine Anmaßung sondersgleichen. Dante benutzt zudem die christliche Theologie, um seine ganz eigene Geschichtsdeutung festzuschreiben. Florenz wird von ihm nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Aber wer gibt ihm das Recht, seine persönliche Meinung mit den höheren Weihen eines religiösen Epos zu versehen? Tagespolitische Händel als Thema einer zeitlosen Dichtung?! Überhaupt ist zu fragen, warum er sich selbst für auserkoren hält, das Jenseits erkunden zu dürfen? Die Frage nach der ungeschminkten Kritik in seinem Werk beantwortet sich Dante gleich selbst in Canto XVII des Paradiso: Nur zu, es sei ein Ruf wie der Wind in den Wipfeln.

Völlig unangebracht ist es, die Caesar-Attentäter in die unterste Hölle in die Mäuler Satans zu platzieren, wo sie auf einer Stufe mit Judas stehen; sie überhaupt in die Hölle zu platzieren mag der mittelalterlichen Kaiserlichkeit Dantes zuzurechnen und zu entschuldigen sein, aber man bedenke ihre Gleichstellung mit Judas: Dadurch wird im Umkehrschluss Julius Caesar auf eine Stufe mit Christus gestellt! Es ist einfach unfasslich.

Einzelkritiken

Es ist oft wenig geschickt, dass Dante die Handlung über die Grenzen seiner Canti springen lässt. Es wäre kunstvoller gewesen, die Grenzen der Handlung und die Grenzen der Canti aufeinander abzustimmen. Man beachte: Dante ist kein Säulenheiliger, den man nicht kritisieren dürfte – Ungünstig ist, dass vieles nur angedeutet wird. Die klare Nennung von Namen hätte oft vieles erleichtert. Man liest darüber hinweg und erkennt es nicht. Nicht erkennbare Anspielungen sind schlechtes Handwerk. Auch bei Dante. – Wenig überzeugend ist es auch, wenn Dante sagt, er habe keine bildhafte Erinnerung mehr an die Trinität, aber dann mit einem sehr anschaulichen Bild von drei Kreisen aufwartet. – Im Sinne der Glaubwürdigkeit eines Berichtes aus dem Jenseits fehlt am Ende unbedingt auch der Rückweg auf die Erde. Wie soll denn Dante über all das berichten, wenn es keinen Weg zurück gab? – Was Dante hingegen teilweise recht gut gemacht hat, ist die Hinterfragung christlicher Fehldeutungen antiker Texte, so etwas die Gleichsetzung von Paradies und Goldenem Zeitalter oder die Vergil-Stelle zur Geburt eines Knaben. Dante schwärmt hier nicht ganz ohne zügelnde Vernunft. – Warum das Paradiso Paradiso heißt, ist unklar, es handelt sich bekanntlich nicht um das Paradies, sondern um den Himmel. Stammt diese Bezeichnung von Dante?

Schluss

Dantes Werk geriet zwischenzeitlich offenbar in Vergessenheit, was nicht wunder nehmen kann, und wurde erst später wiederentdeckt, als Romantik und Nationalbewusstsein der Dichtung eine neue Bedeutung als Projektions- und Identifikationsobjekt gaben. Dantes Werk gehört sicher zur Weltliteratur, als eine große Dichtung eines großen Autors, der seine Zeit in sich und seinem Werk spiegelte und verdichtete und auf die Spitze trieb, und so unfreiwillig den Boden für eine kommende Zeit bereitete, was zweifelsohne eine große Leistung ist. Doch ist das eher als wichtige Etappe einer Entwicklung von Bedeutung. Dantes Werk ist zu zeitgebunden, um zur zeitlosen ersten Reihe der Weltliteratur dazu zu gehören, zu der z.B. Platons Dialoge oder die Epen Homers zählen. Wiederum unfreiwillig hat Dante mit der Wahl seines Führers, Vergil, seinen eigenen Platz zutreffend markiert: Auch Vergil gehört zweifelsohne zur Weltliteratur, doch auch er gehört nur in die zweite Reihe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon um den 01. Juli 2013)

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »