Schlagwort: 5 von 5 Sternen (Seite 8 von 9)

Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934)

Äußerst erhellender Blickwinkel auf die Reformation

Wie immer schafft es Stefan Zweig, die von ihm skizzierte Person nicht nur in literarisch schöner und emphatischer Sprache zu zeichnen, sondern auch den moralischen Kern und ihr Dilemma mit ihrer Zeit aufzuzeigen. Wer sich mit der Reformation beschäftigt, lässt Erasmus gerne links liegen und steuert direkt auf Luther zu – ein großer Fehler. Fast möchte man meinen, dass man das Reformationsgeschehen erst durch die Person des Erasmus von Rotterdam richtig zu verstehen lernt.

Erasmus war der wichtigste Repräsentant einer geistigen Bewegung, der Humanisten, die neues Denken in die Zeit brachten, und die auch die Notwendigkeit einer Reform der Kirche klar erkannten und ansprachen. Doch die Reform blieb aus. Erasmus von Rotterdam hatte es zwar geschafft, mit seinem „Lob der Torheit“ die politischen Tabus seiner Zeit auf die Schippe zu nehmen und hatte damit einen vielbeachteten Erfolg, aber eine Reform wurde nicht bewirkt. Deshalb kam die Reform durch einen gröberen Keil zustande: Durch Luther. Der war nun leider kein guter Humanist. Das Versagen der Zeit, sich aus den Fängen ihrer politischen Tabus zu lösen einerseits, und das schlussendliche Aufbrechen der Probleme durch eine grobe Kraft andererseits, das ist die Tragik dieser Zeit, die sich in der Person des Erasmus am besten darstellen lässt.

Dieses Büchlein von Stefan Zweig fängt etwas langweilig an, entwickelt sich aber durch die Dramatik des Geschehens zu einem einzigartigen literarischen und intellektuellen Genuss.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. Januar 2014)

Douglas Adams: The Ultimate Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (1979-92)

Witziges und geistreiches Kultbuch der 1980er Jahre, immer noch aktuell

Der „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“, der mit seinen Nachfolgebänden (bis „Mostly Harmless“) im Zeitraum von 1979 bis 1992 erschien, ist inzwischen zu einem Kultbuch geworden. Durch seine lebendigen Dialoge, seinen Witz und seine geistreichen Einfälle hat es sich diesen Platz mit Recht erobert, und viele seiner Motive sind mittlerweile zu Urbildern der Popkultur geworden. Allein deshalb schon lohnt die Lektüre.

Die Lebendigkeit des Buches verdankt sich offenbar dem Umstand, dass es zunächst als Radiohörspiel an den Start ging, bevor es zum Buch wurde, was man den Dialogen heute noch ansieht. Diese Lebendigkeit nimmt mit dem dritten Buch spürbar ab; man sollte dennoch weiterlesen. Der Witz des Hitchhiker’s Guide lässt sich teilweise als zeittypischer Witz im Stil von Monty Python beschreiben. Oft sind es aber verrückte Koinzidenzen und das unerwartete Zusammenlaufen von Handlungssträngen, die den Witz ausmachen. Teilweise arbeitet das Buch mit Wiedererkennungseffekten beim Leser, die entweder einen komischen Zusammenhang herstellen, oder aber den Leser geschickt an der Nase herumführen. Zahlreiche running gags sind das Salz in der Suppe, darunter vor allem Marvin, the paranoid Android. Nicht zuletzt wurden zahlreiche Anspielungen an unsere irdische Alltagswelt in den Text eingebaut: Ob US-Präsidenten, Getränkeautomaten, Restaurantrechnungen, Partyverhalten, Umweltschützer, Philosophen, Psychiater, Polizeigewalt, Bahnhofsrestaurants, Bürokratie, globale Firmen, Journalisten, die Russen, Verlagswesen, Demokratie, Religion oder Klimaanlagen – alle nur erdenklichen Klischees werden treffsicher durch den Kakao gezogen.

Ein Grund für die Beliebtheit des Buches dürften seine philosophischen Überlegungen sein. Diese führen alles komplexe oder gar religiöse Denken teilweise mit Recht ad absurdum und setzen auf die einfache Botschaft, dass man nett zueinander sein sollte. Letzte Fragen, der Sinn des Lebens – all das löst sich gewissermaßen in Wohlgefallen auf. Das Buch überrascht auch mit physikalischen Gedankenspielen, die halb ernst, halb verulkt sind, darunter Zufall, Relativität, Vieldimensionalität und Zeitreisen. Ebenso gekonnt werden Sprachspiele und originelle Wortschöpfungen eingebaut, und im Zusammenhang mit Zeitreisen sogar neue Zeitformen der Sprache entwickelt. Ebenfalls im Zusammenhang mit Zeitreisen wird die Überlieferung alter Texte thematisiert.

In vielen Punkten ist das Buch immer noch erstaunlich aktuell. Getränkeautomaten und Klimaanlagen scheinen sich seit den 1980er Jahren nicht mehr weiterentwickelt zu haben. Aber es gibt auch Anspielungen, die in Richtung von Entwicklungen deuten, die erst nach dem Erscheinen der Bücher Wirklichkeit wurden. Das Sub-Etha Netz erinnert stark an das Internet. Die Aufforderung des Getränkeautomaten, seine Erfahrungen mit seinen Freunden zu teilen, lässt an facebook denken. Das Flex-O-Panel im Handgelenk von Random könnte man fast als Smartphone durchgehen lassen.

Für manche ist dieses Buch gewissermaßen zur „Bibel“ geworden. Man kann es damit aber auch übertreiben. Das Buch ist natürlich einem eher linksliberalen politisch-weltanschaulichen Spektrum zuzuordnen. Ob es wirklich so einfach ist, die großen Fragen dadurch zu beantworten, dass wir die bisher gefundenen Antworten einfach wegwerfen und uns nicht mehr kümmern, sondern einfach nur „leben“ (wie denn?), ist doch sehr die Frage. Es gibt auch eine ernste Schicht im Leben und Konflikte, die durch Monty-Python-Humor nicht wegdiskutiert werden können. Schließlich kommt dem Leser die damals gegen den US-Präsidenten Ronald Reagan gerichtete Kritik ein wenig fade vor, wenn man bedenkt, dass man den immer selben Aufguss bei jedem neuen republikanischen US-Präsidenten zu hören bekommt, während demokratische US-Präsidenten, von denen nicht zu erkennen gewesen wäre, dass sie auch nur um einen Deut klüger gewesen wären, zum „besten Präsidenten aller Zeiten“, oder gleich zum „Messias“ erklärt werden (von Leuten, die im Sinne des Hitchhiker’s Guide von Religion angeblich nicht so viel halten). Das aber nur am Rande, denn es trübt die Witzigkeit und Spritzigkeit des Leseerlebnisses nicht wirklich.

Besonders im letzten Buch wird auch die Frage nach der Identität behandelt. Eine Tochter, die ohne Anteilnahme von Vater und Mutter aufwuchs, und die die Erde nie gesehen hat, weiß nicht, wohin sie gehört. Ein Drama. Außerirdische, die ihr Gedächtnis verloren haben, und die ihr kulturelles Vakuum mit unserer Fernsehsubkultur füllen. Und Arthur Dent sehnt sich nach einem Planeten, auf dem die Bewohner … so aussehen wie er. Natürlich ist das ein liebenswerter Gedanke, aber man fragt sich, ob das linksliberale Milieu von heute noch in der Lage wäre, das zu erkennen, und die Aussage nicht auf der Goldwaage des aktuellen Zeitgeistes als rassistisch zu verdammen.

Evtl. empfiehlt es sich, im Anschluss das Buch „Philosophy and the Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ von Nicholas Joll u.a. zu lesen, das den angerissenen Fragestellungen nachgeht und ihnen etwas mehr Tiefe verleiht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. Februar 2019)

Dirk Liesemer: Lexikon der Phantominseln (2016)

Gute Idee, interessantes Thema, schön gemacht – zu Atlantis aber etwas einseitig

„Insel-Bücher“ gibt es ja inzwischen eine ganze Reihe: Abgelegene Inseln, vergessene Inseln, literarische Inseln – und jetzt Phantom-Inseln: Inseln, die tatsächlich einmal auf Seekarten (und sogar bei Google Earth!) verzeichnet waren, obwohl es sie nie gab.

Dahinter steckt immer eine interessante Geschichte, die etwas über die Menschen, die Zeiten und das Schicksal lehren kann. Aber auch die menschliche Erkenntnis wird herausgefordert: Wie sicher können wir uns unserer Weltkenntnis eigentlich sein? Um wem verdanken wir sie eigentlich? Wir wähnen uns im modernen Zeitalter des Satelliten, und doch beruht noch vieles auf Wissen von alters her.

Zu Platons Atlantis gibt es allerdings noch ganz andere Meinungen, die hier etwas zu kurz kommen. Es ist keineswegs so, dass Atlantis in der Antike gemeinhin als Erfindung galt, und so war es von Platon wohl auch nicht gemeint. Während wir ganz genau wissen, dass Atlantis im wörtlichen Sinn niemals existiert haben kann, könnte es sich immer noch um eine verzerrte historische Überlieferung handeln, hinter der ein realer Ort steht. Richtig ist allerdings, dass im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe von Inseln für Atlantis gehalten und mit dem Namen „Atlantis“ auf den Karten verzeichnet wurden. Mehr zu Atlantis in dem Buch: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis: Von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2016)

Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können (2007)

Hört auf diese Frau! – Goldene Worte in Marmor gemeißelt

Die Probleme der Integration lösen sich leider nicht von selbst, wie viele noch vor Jahren gehofft haben. Die Probleme müssen also analysiert und angepackt werden. Aber der gelernte BRD-Bürger weiß: Das Thema Integration ist ein ideologisch hochgradig vermintes Gelände. Und im Stillen ahnt er, dass eine echte Problemlösung bereits an der äußerst mangelhaften öffentlichen Problemanalyse scheitert.

Und genau hier überrascht das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates: Sie kennt keine ideologischen Scheuklappen und wagt es, sich ihrer Vernunft ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen, um die Dinge so zu beschreiben, wie sie nun einmal sind; darauf aufbauend kann sie intelligente Lösungsansätze entwerfen. Diese Natürlichkeit des Denkens und ihre herzerfrischende Menschlichkeit lassen Seyran Ates alle Sympathien des Lesers zufliegen. Ihre Glaubwürdigkeit baut auf ihrer Lebenserfahrung auf: Selbst eine transkulturelle „Deutschländerin“ – ein Begriff, den Ates positiv besetzt – arbeitet sie in Berlin als Rechtsanwältin für Migrantinnen, wofür sie mitunter mit dem Tod bedroht wird; einen Mordanschlag hat sie bereits mit Müh und Not überlebt. Als Teilnehmerin an der Islamkonferenz des Bundesinnenministers wird sie von den dort vertretenen Islam-Funktionären angefeindet, an deren Verfassungstreue – nach eigenen Angaben – nicht einmal der einladende Innenminister glauben will.

Das Buch ist umfassend und lässt keinen Aspekt aus: Die unumgängliche Notwendigkeit einer Reform und Aufklärung des Islam wird genauso angesprochen wie die „schwere Schuld“ (sic!) der „urdeutschen Multikulti-Fanatiker“ und ihre vollkommen gescheiterte Gesellschaftspolitik. Ohne mit der Wimper zu zucken entlarvt Seyran Ates die politisch korrekten „Lösungen“ als fatale Irrwege: Nicht ein islamischer Religionsunterricht unter der Kontrolle der oben angesprochenen Islam-Funktionäre führt zu Integration und freiheitlicher Gesinnung, sondern z.B. ein gemeinsamer, weltanschaulich orientierender und aufklärender Unterricht für alle Kinder unter demokratischer Kontrolle. Nicht die servile Anbiederung an Migranten in deren Herkunftssprache führt zu einem guten Miteinander und gegenseitigem Respekt, sondern die konsequente Etablierung der deutschen Sprache als der in Deutschland geltenden lingua franca. Nicht die als Toleranz getarnte Akzeptanz einer wie auch immer motivierten Diskriminierung von Frauen und Mädchen bricht die Abschottung von Parallelgesellschaften auf, sondern die kompromisslose Durchsetzung der Gleichberechtigung.

Sehr wertvoll und für den Leser von unschätzbarem Wert sind die Einblicke in das Denken und Fühlen der türkischen Migranten, die uns Seyran Ates als Insiderin vermittelt: Wie verstehen die Zuwanderer den Islam konkret und praktisch, jenseits aller Theorie? Wie definieren sie Ehre, Respekt und Sexualität? Und was denken türkische Migranten über deutsche Behutsamkeiten, wenn gleichzeitig im türkischen Fernsehen eine tabulose Kampagne gegen häusliche Gewalt läuft und hunderttausende Türken in ohnmächtiger Wut gegen die Islamisierung ihres Landes auf die Straße gehen?

Wer das und noch viel mehr erfahren will, der sollte ARD und ZDF abschalten, Frankfurter Rundschau und FAZ in die Tonne treten und statt dessen zum Buch greifen: Zum „Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates, einem Buch, dessen analytische Schärfe und programmatische Kraft von manchen inzwischen mit den Standardwerken der 68er-Bewegung verglichen wird. Es bewegt sich wieder etwas in Deutschland. Es wurde auch Zeit.

PS 11.03.2016

Ein Grundkonzept von Seyran Ates ist die Transkulturalität:

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 4. August 2012)

Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion (2012)

Echter Reformer – aber teilweise noch zu kurz gesprungen

Ja, anders als manche andere Muslime, die nur deshalb von Reform reden, weil sie damit ihren traditionalistischen Islam verschleiern wollen, ist Mouhanad Khorchide in der Tat ein echter Reformer. Und was ebenso wichtig ist: Seine Reformideen sind kein Wunschdenken sondern funktionieren theologisch tatsächlich. Im Prinzip macht Khorchide mit dem Islam das, was christliche Theologen mit dem Christentum in den letzten Jahrhunderten getan haben: Er bringt die Vernunft in den Glauben und dessen Interpretation zurück, und drängt traditionalistische Elemente zurück.

Es ist in der Tat möglich, im Koran zwischen ewig gültigen und kontextbedingten Aussagen zu unterscheiden, und man kommt damit in der Tat zu einem Islamverständnis, das Allbarmherzigkeit (bzw. Liebe) und Gnadenbarmherzigkeit ins Zentrum rückt. Ja, die problematischen Koranverse werden durch ihre historische Kontextualisierung entschärft. Ja, man kann bei Mohammed unterscheiden zwischen verschiedenen Rollen als Gesandter bzw. Staatsoberhaupt. „Islam“ im Kontext des Koran bedeutet auch noch nicht „den“ Islam als eigene Religion, sondern Religion im Allgemeinen. Diese Unterscheidungen lassen sich sogar sprachlich im Koran festmachen. Es funktioniert wirklich. Khorchide „verbiegt“ den Islam also nicht, sondern man kann mit Fug und Recht sagen, dass Khorchide den Islam wieder auf seinen eigentlichen Sinn zurückführt.

Und dieser Sinn ist mit westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten hinreichend kompatibel. Die Auffassungen von Khorchide sind zudem nicht brandneu, sondern haben in der islamischen Theologie schon immer eine gewisse Tradition gehabt. Soweit so gut.

Kritikpunkte

Die historische Kontextualisierung bei Khorchide beschränkt sich auf eine Kontextualisierung im Rahmen der überlieferten Mohammed-Legenden (Propheten-Biographie und Hadithe). Das ist theologisch nicht illegitim, aber dann hätte Khorchide mehr dazu sagen müssen, wie er denn unterscheidet, welche Überlieferungen glaubwürdig sind und welche nicht. (Die Frage nach menschlichen Einflüssen im Korantext lässt Khorchide gleich ganz aus, sie ist aber durch die Idee eines Gottes, der in einen historischen Kontext hinein spricht, praktisch mit abgedeckt.)

Khorchide wird, wenn er konsequent bleibt, nicht darum herum kommen, so manche liebgewordene Mohammed-Überlieferung als Legende zu entlarven. Insbesondere zu zwei dieser Legenden hat Khorchide nichts gesagt, obwohl er beide Ereignisse in seinem Buch berührt: (1) Das Massaker an den Juden von Banu Quraiza. Dieses Massaker ist nach historisch-kritischer Auffassung zum Glück nur eine böse Legende. Wer den Islam reformieren will, muss die Überlieferung dieses Massakers entschärfen. (2) Die Zerstörung der Götterbilder in der Kaaba durch Mohammed. Wenn Mohammed es ernst gemeint hätte, Toleranz im Glauben zu üben, dann hätte er diese Götterbilder von Andersgläubigen wohl kaum zerstört, sondern er hätte sie z.B. an einem anderen Ort wieder aufstellen lassen, damit sie dort weiter angebetet werden können. Auch diese Überlieferung muss entschärft werden.

Khorchide spricht über den zur Unbarmherzigkeit verfälschten Islam an vielen Stellen des Buches so, wie wenn dies nur eine Minderheit von „Fundamentalisten“ wäre. Erst am Ende des Buches kommt er darauf zu sprechen, dass nicht nur einige „Fundamentalisten“ das Problem sind, sondern der ganz normale traditionalistische Mainstream des Islam. Leider hat der verfälschte, unbarmherzige Islam die Mehrheit und die Haupttradition des Islam seit über 1000 Jahren auf seiner Seite. Die humanistische Interpretation des Islam hat hingegen fast immer nur als Nebenlinie der Haupttradition existiert. Das ist ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt, den Khorchide hätte mehr berücksichtigen und besprechen müssen.

Wenn wir das Spektrum der Glaubensrichtungen grob in die vier Kategorien traditionalistisch – konservativ – liberal – modernistisch unterteilen, gehört Khorchide zu den Liberalen. Er verbiegt und bricht den Glauben durch seine Reformen also nicht, wie es anpasserische Modernisten tun würden, und sein Fundament ist für einen vernünftigen Glauben von Konservativen und Liberalen gleichermaßen geeignet, gegen die Irrationalitäten von Traditionalisten und Modernisten.

Allerdings ist die Liberalität von Khorchide auch ein pädagogischer Schwachpunkt. Für traditionalistische Muslime ist der Schritt vom Traditionalismus zu einem aufgeklärten Konservatismus vielleicht gangbar. Aber der Schritt zu einem liberalen Verständnis von Religion könnte für viele zu weit sein, weshalb das Buch von Khorchide hier kontraproduktiv wirken könnte.

Das Ideal eines Glaubens, bei dem alles aus Gefühl und Neigung heraus geschieht, ist schön, aber oft ist es einfach nur rationale Pflichterfüllung. Bei Khorchide gibt es keinen aufgeklärten Begriff von Pflicht, Gehorsam und Autorität, er verwendet dieses Worte so gut wie nicht. Das Vollziehen von Ritualen, auch wenn es schwer fällt, kann zudem auch etwas Heilsames haben. Der Vorwurf von „Fundamentalisten“ (so nennt sie Khorchide), dass ein Muslim, der nicht betet, kein echter Muslim ist, ist im Prinzip durchaus berechtigt, was Khorchide verkennt. Schließlich ist Khorchides Auffassung zu hinterfragen, dass der Glaube allein zum Seelenheil nicht genügen würde. Dazu hat Luther bereits das Nötige gesagt. Khorchide hätte besser so formuliert, dass der Glaube zwar genügt, aber nur dann echt sein kann, wenn er auch zu Taten führt. Khorchide pflegt auch eine sehr modische Sprache: Es ist etwas zu viel von Liebe und Dialog, von Dynamik, Kritik und Dialektik die Rede, zu wenig von Pflicht, Vertrauen, Autorität und Glaubensgehorsam in einem aufgeklärten Sinn.

Schließlich taucht die Toleranz gegenüber Agnostikern und Atheisten bei Khorchide mit keinem Wort auf. Er spricht immer nur von Religionen, die alle der Weg zu Gott seien, und dass alle diese Religionen auf ihre Weise im Prinzip „Islam“ = „Hingabe an Gott“ seien. Nichtmonotheistische Weltanschauungen wie z.B. polytheistische Neuheiden, Agnostiker oder Atheisten hat Khorchide leider nicht in sein System der Toleranz eingebaut. Auch das ist ein deutlicher Schwachpunkt. – Zu Khorchides Verwendung von Koranvers 2:256 („Kein Zwang im Glauben“): Khorchide bezieht diesen Vers auch auf andere Religionen. Das ist problematisch, denn der Satz bezieht sich nach allgemeiner Auffassung nur auf den islamischen Glauben und die Art seiner Praktizierung, nicht aber auf Religionen im Allgemeinen. Das zerstört aber seine Argumentation nicht grundsätzlich.

Grundsätzlich gilt, dass Khorchide ein echter Reformer ist, dessen Weg vernünftig und tragfähig ist und in die richtige Richtung geht. Er ist deshalb zu unterstützen, er muss aber noch in einigen Punkten nachliefern.

Als gut lesbare Einführung in die historische Kritik der Ursprünge des Islam für jedermann sei folgendes Buch empfohlen, dessen martialischer Titel völlig in die Irre führt: Tom Holland, Im Schatten des Schwertes.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. April 2014)

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte (2015)

Sensibler, geistreicher Psycho-Thriller mit (Selbst-)Reflexionen über Autoren und Literatur

Die Schriftstellerin Delphine hat Kinder, eine Beziehung und Freundinnen, doch alles eher fern: Die Kinder sind aus dem Haus, der Partner ständig auf Reisen, die Freundinnen wohnen in anderen Städten. Als Delphine in eine Schaffenskrise gerät, begegnet sie L. (im Französischen gesprochen wie „elle“, also ein unkonkretes „sie“). Diese L. kennt Delphine erstaunlich gut, taucht immer im entscheidenden Moment wie zufällig aus dem Nichts auf, und drängt sich immer mehr als vermeintlich beste Freundin in ihr Leben. Schließlich installiert sich L. in Delphines Wohnung, beantwortet ihre e-mails und unterbindet jeden anderen Kontakt soweit wie möglich. Die Atmosphäre ist gedämpft, und L. sorgt dafür, dass Delphine samtweich verpackt vor ihren Mitmenschen und vor ihrem eigenen Denken abgeschirmt wird. Dann beginnt L., sich herrisch zu benehmen.

* * * Spoiler-Warnung * * *

Was hat es mit L. auf sich?

Eine erste Fährte, auf die der Leser gelockt wird, ist der Verdacht eines Identitätsklaus oder vielleicht auch Identitätstauschs. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Delphine und wegen ihrer erstaunlichen Kenntnisse über Delphine und ihr Werk fährt L. anstelle von Delphine auf eine Autorenlesung. Doch das ist es nicht. – Eine weitere Fährte ist, dass L. als Ghostwriterin für berühmte Persönlichkeiten Autobiographien schreibt, und sich bei diesen jeweils vorübergehend „einnistet“, um alle Informationen für das Werk zu bekommen. Genau das tut L. bei Delphine. Und auch Delphine beginnt, heimlich eine Biograhie von L. zu schreiben. Dazu passt, dass L. von Delphine ständig fordert, ein „wahres“ Buch über sich selbst zu schreiben. Doch auch das ist nicht die richtige Spur. – Am Ende laufen die Biographien beider ineinander, und L. versucht, Delphine zu vergiften, scheitert aber damit.

Danach ist L. aus dem Leben Delphines verschwunden, aber L. hat unter dem Namen von Delphine ein Manuskript bei ihrem Verlag eingereicht, das hervorragend ist: Eine Biographie von Delphine und ihrem Leben mit L. Es ist im Grunde das Buch, das der Leser in Händen hält. Es stellt sich heraus, dass L. eine depressive Fiktion von Delphine war, die das im nachhinein alles gar nicht glauben kann. Deshalb stellt sie Nachforschungen an, die ergeben, dass nicht die geringste Spur von L. zu finden ist. Wir erfahren im Verlauf des Buches schrittweise, dass Delphine eine unmöglich gemachte Jugend hatte (die meisten berichteten Traumata entpuppen sich jedoch als Fiktion in der Fiktion, inspiriert durch Delphines Lieblingsbücher).

Die Stärken des Buches sind:

  • Die Sensibilität und Präzision, mit der die Verletzungen von Delphine und L. entfaltet werden. Der „samtweiche“ Schreibstil.
  • Die augenscheinliche Realität von L. und das ungläubige Staunen auch des Lesers, dass es L. gar nicht gibt (gespiegelt im ungläubigen Staunen von Delphines Partner François).
  • Die Genialität der Konstruktion der Beziehung von Delphine und L., die sich dem Leser erst ex post in allen Raffinessen enthüllt. Man blättert wiederholt zurück, und versteht manche Stelle erst dann richtig.
  • Die mehrfache Selbstreflexivität: Das Buch, das der Leser in der Hand hat, ist das Buch, das im Buch geschrieben wird. Die meisten Horrorgeschichten entpuppen sich als Fiktion in der Fiktion. Und die im Buch angestellten Überlegungen über Literatur werden praktisch an diesem selben Buch durchexerziert.

Weitere Themen sind:

  • Das Leben und Leiden eines Schriftstellers, sein Kontakt zu Verlagen und Lesern, ganz unabhängig von Depressionen.
  • Die Frage nach Wahrheit und Fiktion in der Literatur. Dieses Thema wird in vielen Facetten durchgespielt. Von den „Realitätseffekten“ des Roland Barthes, über den Satz von Jules Renard, dass eine Wahrheit, die über fünf Zeilen hinausgeht, bereits ein Roman ist, bis hin zu der sinnlosen Frage nach der „reinen“ Wahrheit (während die ebenso sinnlose Frage nach der „reinen“ Fiktion so gut wie nie gestellt wird). Vorgeführt wird dies an dem Verwirrspiel um Delphine und L. und deren Biographien, gespeist aus ihrer realen Biographie, aus den fiktionalen Gehalten von Delphines letztem Buch, und aus Schlüsselstellen von Delphines Lieblingsbüchern (fast alle traumatischen Erlebnisse entpuppen sich am Ende als Fiktion in der Fiktion, S. 346; die tote Mutter von Delphine soll sogar quicklebendig sein, S. 324).

Im Grunde ist „Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan eine Art Psycho-Thriller, aber er ist nicht auf Action, Horror und Effekt getrimmt, sondern sensibel, intelligent und geistreich.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. März 2019)

Andrea de Carlo: Wenn der Wind dreht (2007)

Moderne Großstädter treffen auf Aussteiger im Niemandsland: Clash und Katharsis

In seinem Büchlein „Wenn der Wind dreht“ (Originaltitel: Giro di Vento) lässt Andrea de Carlo eine Gruppe top-moderner, handysüchtiger Erfolgsmenschen aus der Großstadt in einem Niemandsland ohne Handyempfang stranden, wo sie auf eine kleine Kolonie von Aussteigern treffen, bei denen sie vorübergehend Unterschlupf finden müssen, bis ihr Wagen wieder flott gemacht ist.

Das Verhalten der Großstädter den Aussteigern gegenüber ist peinlich und wird immer peinlicher, zumal ihre Situation sich immer weiter verschlechtert, und sie vom Wohlwollen der misstrauisch beäugten Aussteiger vollkommen abhängig sind. Die Charaktere beider Seiten kommen sich näher und tasten einander ab. Es entstehen Sympathien und Rivalitäten. Unangenehme Fragen nach dem erreichten Glück im Leben werden gestellt. Beide Seiten sehen sich hinterfragt, auch die Aussteiger.

Schließlich führen die Lebenslügen und Selbstwidersprüche speziell der Stadtmenschen in einem fulminanten Finale zu einer eruptiven Katharsis gegenseitig abgezwungener Selbsterkenntnis.

Ein kluges, teils ausgewogenes, bedenkenswertes, schönes und gutes Büchlein!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. Februar 2019)

Stefan Zweig: Die Kunst ohne Sorgen zu leben – Letzte Aufzeichnungen und Aufrufe (2023)

Stefan Zweig en miniature

Dieses schmale Insel-Bändchen versammelt einige kurze Texte, die Stefan Zweig in seinen letzten Lebensjahren verfasste, die aber bislang nirgendwo greifbar veröffentlicht worden waren. Es handelt sich um einige weitere Perlen aus der Feder des Verfassers, ganz im Stile der „Welt von gestern“, an der er zur selben Zeit arbeitete.

Einige Texte sind Charakterstudien und Beobachtungen menschlichen Verhaltens. Da ist der Habenichts Anton in Salzburg, der sich aber nützlich zu machen weiß und sich dadurch Dank und Anerkennung verdient, mehr noch als materielle Gegenleistungen, die er souverän nur nach Bedarf in Anspruch nimmt. Die Schilderung der Erlebnisse mit diesem Lebenskünstler gab dem Büchlein den Titel. Ein anderer Text reflektiert die Beobachtung, dass menschlicher Zuspruch spontan und sofort erfolgen sollte. Da ist auch die wunderbare Begegnung mit dem Künstler Rodin, bei dem Stefan Zweig lernte, dass wahre Kunst nur aus der völligen Versenkung in Konzentration auf die Sache erwächst. Oder es ist die tröstliche Geschichte von den Anglern an der Seine, die uns zeigt, dass kein Mensch das Geschehen in seiner Gegenwart ständig mit voller Anteilnahme verfolgen kann, sondern dass ein „Abschalten“ und der Rückzug ins Private hin und wieder eine innere Notwendigkeit sind. Die Inflation lehrte Zweig, dass Geld an sich keinen Wert hat, sondern nur das, was wir sind. Auch die Totenrede auf Alfonso Hernández-Catá ist enthalten, von der es im Nachwort heißt, dass sich Stefan Zweig in dieser Rede auch unfreiwillig selbst portraitiert habe.

Schließlich sind noch drei Stücke zum Nationalsozialismus von 1940, 1941 und 1942 enthalten. Stefan Zweig macht darauf aufmerksam, dass Diktatur Schweigen bedeutet, und wie bedrückend dieses Schweigen ist, und dass er sich anstelle derer zum Reden verpflichtet fühlt, die schweigen müssen. Er verteidigt auch die deutsche Sprache und die deutsche Kultur gegen ihre Beschmutzung durch den Nationalsozialismus. Schließlich weist Stefan Zweig darauf hin, dass der Schriftsteller Vicente Blasco Ibáñez schon 1916 in seinem Roman „Los cuatro jinetes del apocalipsis“ mit der Romanfigur Hartrott einen Charakter erschuf, dessen wahnwitzige Ideologie die Ideologie Hitlers vorwegnahm. Was als absurde Satire gedacht war, traf die kommende Wirklichkeit nur zu gut.

Es fällt auf, dass in allen drei Stücken kein Wort über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu finden ist. Obwohl Stefan Zweig in Freiheit lebte und die westliche Presse nicht damit sparte, dem Feind jedes nur erdenkliche Übel zuzuschreiben, wusste damals offenbar niemand von diesem Verbrechen. Auch Hannah Arendt hielt 1945 die ersten Berichte von US-Korrespondenten aus befreiten KZs für alliierte Propaganda, bis sie begriff, dass es die Wahrheit ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Ewald Arenz: Alte Sorten (2019)

Zwei beschädigte Seelen treffen aufeinander und finden aneinander Heilung

Die Jugendliche Sally tut sich schwer damit, sich in die „vernünftige“ Welt einzuordnen, ist wahnsinnig misstrauisch gegen alles und jeden, reagiert hysterisch, ritzt sich, wird deshalb von ihren aalglatten und verständnislosen Eltern von Klinik zu Klinik geschickt, und reißt eines Tages aus – da trifft sie auf Liss, die alleinstehend und schon über 40 einen Bauernhof mit allem drum und dran umtreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf, sagt nicht viel, lässt sie gleichmütig gewähren und an den Arbeiten des Bauernhofes teilhaben. Sally erfährt zum ersten Mal die Freiheit, die sie benötigt, und beginnt Interesse an dem ihr völlig unbekannten Landleben zu zeigen. Aber Liss ist keineswegs die heile Seele, als die sie zunächst erscheint. Nach und nach zeigen sich ihre Beschädigungen, und nun ist es an Sally, Liss vor dem Abgrund zu retten.

Eine wunderschöne Geschichte von zwei Menschen, die aneinander ihr Glück finden und beste Freunde werden. Es sind genau die richtigen zwei aufeinander gestoßen. So ist es auch im richtigen Leben. Wir wollen und sollen alle freundlich und hilfsbereit zueinander sein, aber das alles muss dennoch an der Oberfläche bleiben. Nur in seltenen Fällen geschieht es, dass sich zwei Seelen treffen, die sich mehr zu sagen haben als das. Und manchmal trifft man eben keine. Dann bleibt man allein. So wie Liss, die immer an die Falschen geriet, und sich daraufhin in ihrem Leben durchaus sinnvoll eingerichtet hatte, soweit es ihr möglich war, mit ihrer Arbeit, mit ihren Büchern, und mit ihrem stoischen Gleichmut.

Der Roman wird ruhig erzählt und entfaltet mit einfachen Worten eine eindrucksvolle Geschichte. Neben dem eigentlichen Thema ist der Leser mindestens genauso fasziniert wie Sally von den Einzelheiten des Landlebens. Ein wahres Lesevergnügen, das zum Nachdenken über das Leben anregt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Verfasst Februar 2022.

Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus (2023)

Eine Marzipanpraline von einem Buch

Joachim Sartorius tut in diesem Buch etwas großartiges: Seit etlichen Jahren hat er einen Zweitwohnsitz in Syrakus, eine Wohnung mitten in der Altstadt auf der Insel Ortygia. Und in diesem Buch lässt er uns teilhaben an seinen Erfahrungen und Eindrücken, an seinen Gedanken und Überlegungen, die er seit seiner Ankunft gesammelt hat.

Wir gehen mit ihm zum Friseur oder in sein Stammcafé. Wir besuchen lokale Künstler und Kulturschaffende, zu denen Joachim Sartorius offenbar schnell Kontakt geknüpft hat. Wir lernen, welche Geschäfte und Restaurants Besonderheiten zu bieten haben. Wir sind aber auch bei zwei alteingesessenen Adligen eingeladen, um mit ihnen ihre Sammlung antiker Münzen zu bestaunen und ihre Forschungen zur Lokalgeschichte zu besprechen. Wir erleben eine Aufführung im Teatro Greco mit, und nehmen an den Diskussionen teil, wie man das städtische Theater auf Ortygia wieder zum Leben erwecken könnte. Wir sind mitten im Trubel des Festes der Stadtheiligen Santa Lucia oder in der Einsamkeit des städtischen Friedhofes mit seinen Totenhäusern. Auch die nähere Umgebung von Syrakus wird besucht und besprochen. Gelegentlich wird die Bedeutung der Geschichte für das Syrakus von heute reflektiert, von der Antike über die Araber und Normannen bis zu den Spaniern. Wir lernen auch, welche Persönlichkeiten schon alle in Syrakus waren, von August von Platen über Johann Gottfried Seume und Ferdinand Gregorovius, bis hin zu Pier Paolo Pasolini und Winston Churchill.

Kurz: Joachim Sartorius lässt uns teilhaben an seiner Heimischwerdung in Syrakus, wie wenn wir selbst dort einen Zweitwohnsitz hätten. Die Kapitel sind meist nicht länger als zwei Seiten. Jedes davon ist ein Genuss für sich, eine kleine Miniatur, die im Alltag das Besondere aufblitzen lässt. Ein großartiges Buch, dessen Konzept so einfach wie genial ist. Wer mag, kann (fast) alle genannten Orte bei Google Streetview persönlich in Augenschein nehmen.

Ergänzungen

Zu dem großen Reigen an historischen Persönlichkeiten und Werken, die Joachim Sartorius zusammengetragen hat, sei noch dieses aus eigenem Wissen hinzugefügt:

Zunächst fehlt die vorgriechische Epoche gänzlich, die immer wieder systematisch unterschätzt wird. Wie wenn alles erst mit den Griechen begonnen hätte. Doch ganz versteckt hat sich die Prähistorie doch hineingeschlichen: Genannt wird das Caffè „Al Ciclope“ in Pachino oder das Landgut des Barons Lucio Tasca di Lignari in den Hybläischen Beren. Die Hybläischen Berge sind nach dem Sikanerkönig Hyblon benannt, der den ersten Griechen Land zur Ansiedlung zuwies, und auch der Kyklop wird traditionellerweise auf Sizilien verortet. Auf Ortygia gab es Ausgrabungen zur Vorgeschichte, zwei Ecken hinter dem Dom, bei der Polizeipräfektur. Die Vorgeschichte Siziliens ist überall präsent, doch kaum einer sieht sie.

Der Philosoph Ludwig Marcuse, nicht zu verwechseln mit Herbert Marcuse, hat 1947 ein engagiertes Büchlein „Der Philosoph und der Diktator“ verfasst. Es verdient, genannt zu werden.

Im Jahr 1966 veröffentlichte Mary Renault ihren Roman „Die Maske des Apoll“, in dem es um das griechische Theater im Allgemeinen und um Platons Aufenthalte in Syrakus im Besonderen geht. Wo anders als im Roman wird alles noch einmal lebendig?

Kurt von Fritz hat 1968 dasselbe Thema aufgegriffen: „Platon in Sizilien“.

Schließlich ist das Büchlein „Atlantis och Syrakusai“ des schwedischen Philologen Gunnar Rudberg aus dem Jahr 1917 zu nennen, das eine interessante Möglichkeit diskutiert: Hat Platon seine Geschichte von Atlantis nach dem Vorbild von Syrakus entworfen? Das Büchlein wurde erst 2012 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, als es aus dem Schwedischen ins Englische übersetzt wurde („Atlantis and Syracuse“). Daraus wollen wir die Schlussworte zitieren, wie gesagt aus dem Jahr 1917:

„There is a wonderful mood over the present-day Syracuse, although the city is quite often overlooked by tourists visiting from afar; nor can it measure up to Taormina, Palermo or certain other Sicilian cities in terms of picturesque location and breathtaking beauty. It is primarily a historical mood that rests over the place, whether one is visiting today’s crowded and dirty city on the island with its mighty and renowned, if lesser visible, remains from ancient times, or the more grandiose ruins out in the old Neapolis, one of the countless tomb grottoes carved into the mountain, the Latomiae with their fantastic shapes and lush foliage, protected even when the summer sun has burned all other greenery, Cyane spring with its forest of papyrus plants, the venerable monuments from the oldest Christian times or, finally, the barren high plateau over the city, Epipolae, with the ruins of Euryalos in the background and Dionysius‘ walls still visible at the northern and southern edge of the plateau; with the panorama over the city, the Ionian sea, and the historical neighborhood on the east coast of Sicily and Etna far to the north. Amid the jumble of historic sources, it is often somewhat difficult to follow the course of the massive historic dramas that played out around this city; a visit there removes the veil over much of this, and allows one to see the events in a much clearer light than before. Those who have seen and experienced this will surely never forget it. Certainly this mood of millenia of history and colossal events in the struggle between East and West is not disrupted by the fact that one of the greatest figures of our Western civilization mused, hoped and failed in his reformer’s zeal in this place; nor by the fact that he seems to have taken from here the foundation for one of his most remarkable and gripping dreams and poems, a poem which has held humanity captivated under its spell ever since.“

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

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