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Mouhanad Khorchide: Scharia – der missverstandene Gott – Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik (2013)

Echter aber naiver Reformer

Mit seinem Buch über die Scharia setzt Mouhanad Khorchide die Entfaltung jener islamischen Reformtheologie fort, die er in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ vielversprechend begonnen hat.

Es handelt sich um eine echte und glaubwürdige Reformtheologie, die den Islam kompatibel zu unseren westlichen Werten macht, ohne ihn plump anzupassen. Die Theologie Khorchides nimmt Koran und Sunna völlig ernst, kann sich auf maßgebliche Quellen der islamischen Tradition stützen, und verknüpft damit eine vernünftige und moderne Lesart, die den Koran in seinem historischen Kontext interpretiert. Auch die Person von Khorchide erscheint sehr glaubwürdig, sofern eine „Ferndiagnose“ zu einem solchen Urteil berechtigt.

In dem Buch „Scharia“ übt Khorchide traditionelle und moderne Quellenkritik an den Hadithen (das sind die Prophetenüberlieferungen, die zusammengenommen die Sunna bilden) und stellt Vernunft und Herzensbildung gegen eine traditionalistische Gesetzesreligion des blinden Gehorsams. Scharia soll als Moral und nicht als juristisches Gesetz verstanden werden. Insbesondere die Theologie des Wahhabismus, die den Islam heute immer mehr beherrscht, wird ausführlich und scharf kritisiert. Khorchide argumentiert nicht nur überzeugend, er liefert auch viele interessante Informationen.

Kritik 1: Reform ohne Strukturen

Khorchide glaubt an einen Islam, der keine Autoritäten mehr kennt. Dieses Thema wird in diesem Buch nur gestreift, an anderer Stelle ist Khorchide da deutlicher. Ein solcher Islam hat keine Struktur mehr, und das ist ein Problem: Es fehlt das Verbindende, der Zusammenhalt, die Einheit in der Vielfalt.

Außerdem ist der Reform-Schritt von autoritären Strukturen hin zu gar keinen Strukturen utopisch. Denn so sind die Menschen nicht. Menschen brauchen Orientierung. Autoritäten, die natürlich nicht autoritär sein sollten, sondern Orientierung geben, werden immer wichtig sein. Die Menschen werden sich immer Autoritäten suchen. Da wäre es doch klug, wenn man die Etablierung von Autoritäten aktiv regeln würde, statt den Kopf in den Sand zu stecken.

Kritik 2: Reform ohne Konservativismus?

Khorchide zeigt an manchen Stellen Tendenzen zu einem postmodernen, linksliberalen Verständnis von Religion und Islam. Es gibt praktisch gar keine feststehenden Gebote mehr, die dem Gläubigen Gerüst und Geländer sind. Die Bürde, seinen Weg mit Gott zu gehen, wird komplett dem einzelnen Gläubigen aufgelastet. Das ist utopisch.

Eine ausformulierte islamische Moral ist wichtig: Zum einen, um grundlegende Orientierung zu geben. Moral wird von Kindesbeinen an eingeübt. Zum anderen aber auch, um klare Kontrapunkte gegen traditionalistische Irrlehren zu setzen. Eine bloß implizite Ablehnung traditionalistischer Lehren reicht nicht, obwohl dem gebildeten Leser durchaus deutlich wird, was Khorchide will. Es muss klar ausgesprochen werden: Männer und Frauen haben wirklich dieselben Rechte, nicht nur „gleiche, aber verschiedene“ Rechte; das Kopftuch ist mitnichten Pflicht; die Gebete müssen nicht gegen alle praktischen Erwägungen punktgenau fünf Mal am Tag durchgeführt werden; Alhohol ist nicht per se „giftig“, sondern es geht um die Vermeidung des Rausches; usw. usf.

Khorchides Reformtheologie ist grundsätzlich auch für einen modernen Konservativismus – vergleichbar zum Ratzinger-Katholizismus – offen. Das ist gut so, denn für traditionalistische Muslime wäre der Schritt vom Traditionalismus hin zu einem progressiven Verständnis von Islam zu weit und deshalb wenig attraktiv. Es ist viel realistischer, dass Muslime den Schritt vom Traditionalismus hin zu einem modernen Konservativismus tun. Khorchide selbst allerdings tendiert klar zu einem allzu liberalen Islamverständnis. Dass Gott nach den Schriften auch (auch!) ein zorniger und strafender Gott sein kann, will er radikal nicht gelten lassen (S. 145).

Zwischenfazit

Man könnte sagen: Khorchide hat eine wohlkonstruierte Reformtheologie entwickelt, aber Khorchide scheitert an deren Implementierung ins Leben der Gläubigen. Ohne Imame, Religionsgelehrte, Moscheen usw., ohne Autorität, Organisation und ohne ausformulierte Lehre wird eine Reform sich nicht durchsetzen können gegen die starken Strukturen des Traditionalismus. Dass es bereits zahlreiche traditionalistische Verbände und Strukturen des Islam bei uns gibt, und wie sich ein Muslim gegenüber diesen Verbänden verhalten soll, wenn er die Ideen von Khorchide übernimmt, dazu sagt Khorchide leider nichts. Das ist zu wenig.

Kritik 3: Wunsch nach naivem Sich-Öffnen gegenüber Islam

Einen grundlegenden Fehler begeht Khorchide, wenn er von der westlichen Welt erwartet, dass sie sich vorbehaltlos gegenüber dem Islam öffnet und vorbehaltlos auf Muslime zugeht (S. 191 f.). Da der Islam von Strömungen beherrscht wird, die keinesfalls der Reformtheologie von Khorchide entsprechen, wäre eine solche Offenheit naiv und selbstzerstörerisch. Khorchide will den Islam glaubwürdig reformieren, aber er kann nicht gleichzeitig den Islam und die Muslime pauschal in Schutz nehmen wollen. Hier muss er sich entscheiden.

Offenbar denkt Khorchide noch in den Kategorien früherer Zeiten, als Muslime noch eine kleine Minderheit waren, die sich der westlichen Welt gegenüber schon von selbst öffnen würden, wenn sich nur die westliche Welt ihnen gegenüber öffnen würde. Doch über diesen Punkt sind wird längst hinaus: Muslime sind keine kleine Minderheit mehr, und traditionalistische und islamistische Strukturen sind fest etabliert. Da ist kein Platz mehr für Naivität und ein pauschales Sich-Öffnen.

Sonstige Kritik

Die Gesellschaft der westlichen Welt bzw. die Leser werden immer als Muslime und Christen angesprochen. Nichtreligiöse Menschen oder z.B. Buddhisten kommen nicht vor. Das ist zu eng geführt.

Khorchide meint, dass Christen und Muslime Bibel und Koran als ihre „eigenen“ Bücher wahrnehmen sollten (S. 63). Das funktioniert aber nur für Muslime. Christen können den Koran vielleicht als Buch mit einigen Weisheiten ansehen, aber sie können den Koran nicht als „eigenes“ oder „heiliges“ Buch anerkennen. Das wäre zu viel verlangt.

Khorchide beruft sich an einigen wenigen Stellen positiv auf den Islamwissenschaftler Mathias Rohe und auf Tariq Ramadan. Rohe ist ein unverbesserlicher Islamversteher und Optimist, was die Integration des Islam in der westlichen Welt anbelangt. Rohe meinte u.a., dass es überhaupt kein Problem sei, Teile der Scharia in das westliche Rechtssystem zu integrieren. Da Khorchide die Scharia gerade nicht juristisch verstanden wissen will, darf gefragt werden, ob Rohe in diesem Zusammenhang überhaupt zitierfähig ist. – Tariq Ramadan ist eine schillernde Figur, die man wohl eher als Pseudo-Reformer einstufen muss. Tariq Ramadan redet viel von Modernität und Veränderung, aber den traditionalistischen Islam möchte er im Kern unverändert erhalten. Auch Tariq Ramadan ist im Zusammenhang mit Khorchides Reformanliegen nur begrenzt zitierfähig.

Fazit

Khorchide ist ein echter Reformer, der unsere Unterstützung im Grundsatz verdient. Er ist aber kein Luther, der die Reform wirklich ins Leben der Muslime zu bringen und durchzusetzen vermag. Und wo Khorchide zu optimistisch ist bezüglich der Reformierbarkeit des Islam, darf man sich von seinem naiven Enthusiasmus nicht mitreißen lassen: Eine Islamreform wird auf absehbare Zeit die Sache einer (anerkennenswerten) Minderheit bleiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. März 2016)

Seyran Ates: Wahlheimat – Warum ich Deutschland lieben möchte (2013)

Seyran Ates verfälscht die geniale Idee „Transkulti“ und landet wieder bei „Multikulti“

In Ihrem 2007 erschienen Buch „Der Multikulti-Irrtum“ hatte Seyran Ates eine intellektuell wie menschlich anspruchsvolle Anklage gegen die deutschen Gutmenschen erhoben, dass die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft nicht funktionieren kann, und dass Multikulti sowohl für die Aufnahmegesellschaft als auch für die Zuwanderer in die Katastrophe führt. Dem hatte Seyran Ates mit der Idee der Transkulturalität eine intelligente Alternative gegenübergestellt. Dieses Konzept von „Transkulti“ verwässert, verzerrt und verfälscht Seyran Ates nun in ihrem 2013 erschienenen Buch „Wahlheimat“, so dass Seyran Ates am Ende wieder beim alten, dummen Multikulti anlangt. Doch der Reihe nach.

Was ist Transkulturalität?

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Seyran Ates ist umgekippt

Doch in beiden Kernpunkten schlägt Seyran Ates nun andere Töne an. Die geniale Idee der gleichzeitigen Beherrschung zweier Kulturen ist bei ihr jetzt wieder dem Gedanken der Mischung und des Nullsummenspiels gewichen: Der Zuwanderer pickt sich aus beiden Kulturen das heraus, was er möchte, was einer Aufteilung seiner Person nach dem Schema 50:50 entspricht, anstatt dass er beide Kulturen ganz beherrscht, also 100:100. Und Seyran Ates stellt alles ins Belieben des Zuwanderers: Die Priorität der Kultur der Aufnahmegesellschaft wird von ihr nicht mehr formuliert.

Damit ist Seyran Ates ganz heimlich still und leise wieder ganz ins Lager der alten, dummen Multikulti-Ideologen zurückgekehrt. Jetzt findet sie es in Ordnung, dass sich ganze Stadtviertel in „Klein-Istanbuls“ (ihre Wortwahl) verwandeln. Jetzt hat sie großes Verständnis für Mesut Özil, der als Nationalspieler (!) die Nationalhymne nicht singt. Sie nennt das Verhalten von Özil sogar „transkulturell“ – nichts könnte falscher sein, man kippt fast vom Stuhl, wenn man das liest! „Integration“ ist nun plötzlich ein Wort, das Seyran Ates ungern verwendet, denn Integration bedeutet „Einfügung“ in die Aufnahmegesellschaft, und genau das wolle sie nicht! Vielmehr wolle sie die „Inklusion“, also die Aufnahme, eines auch kulturell fremd gebliebenen Zuwanderers: Denn sie will jetzt nicht mehr, dass dem Zuwanderer für die Aufnahme das Erlernen der Aufnahmekultur abverlangt wird. Auch druckt sie in diesem Buch ein mehrseitiges Lied auf Türkisch ab – ohne Übersetzung! Multikultureller geht es nicht. Nach Meinung von Seyran Ates hätte sich die Aufnahmegesellschaft „ebenso“ (!) zu verändern wie der Zuwanderer, womit wir wieder beim Modell 50:50 angekommen sind. Dann drischt sie auch noch die hohle Politikerphrase von der „Willkommenkultur“, deren Fehlen die Aufnahme der Zuwanderer behindern würde. Die Kultur der Aufnahmegesellschaft hätte keinerlei Vorrecht vor irgendeiner zugewanderten Kultur, denn man könne nur die Verfassungwerte abverlangen. Man müsse akzeptieren, dass Zuwanderer ausschließlich deshalb zuwandern, weil es ihnen dann besser geht, und dass sie sich für die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht interessieren. Das alles ist nun wahrlich das Gegenteil von Transkulti, das ist das alte, dumme Multikulti in Reinform.

Seyran Ates ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Doch nur eine Seite, nachdem Seyran Ates Verständnis dafür gezeigt hat, das Özil als Nationalspieler (!) die Nationalhymne nicht singt, fordert sie, dass bei der Einbürgerung die Nationalhymne gesungen werden soll, um den Neubürgern zu zeigen, dass sie auch Pflichten haben – wie passt das denn zusammen?! Im Zusammenhang mit dem Bau der Kölner DiTiB-Moschee äußert Seyran Ates Verständnis für die Sorgen der Anwohner vor „Überfremdung“ (ihre Wortwahl!). Kopftücher an Schulen und Behörden will sie konsequent verbieten! Wenn es nicht wegen der Juden wäre, würde sie den Muslimen sogar die Beschneidung komplett verbieten wollen! Seyran Ates kritisiert, dass deutsche Journalisten so naiv waren, die ägyptischen Muslimbrüder für gemäßigt zu halten.

Die alte Grundidee geistert noch durch das Denken von Seyran Ates. So wettert sie z.B. gegen die von der „Integrationsindustrie“ (ihre Wortwahl) angebotenen Integrationskurse, die die Zuwanderer eben nicht in die Kultur der Aufnahmegesellschaft integrieren würden. Ist das nicht ein glatter Selbstwiderspruch zu dem, was sie an anderer Stelle des Buches sagte? Sie kritisiert, dass manche die Forderung nach Integration als Zumutung zurückweisen.

In der Mitte des Buches macht Seyran Ates explizit Werbung für ihre alte Idee von Transkulti, wie wenn sich ihre Meinung gar nicht geändert hätte! Sie kritisiert die Idee einer multikulturellen Gesellschaft an dieser Stelle des Buches explizit. An vielen anderen Stellen dieses Buches jedoch spricht Seyran Ates seelenruhig von der „multikulturellen“ Gesellschaft. Seyran Ates macht in diesem Buch den Eindruck einer gespaltenen Persönlichkeit: Dr. Jekyll und Mr. Hyde!

Seyran Ates ringt mit ihrer linken Identität!

Die tiefere Ursache für diesen fatalen Schlingerkurs muss darin gesehen werden, dass Seyran Ates zwar den Irrtum der Multikulti-Ideologie aus praktischen Erwägungen heraus klar durchschaut hatte, dass sie aber immer noch auf theoretischer Ebene einer radikalen linken Utopie von der Auflösung der nationalen und lokalen Identitäten anhängt. Diese Utopie hat in den Jahren seit der Veröffentlichung von „Der Multikulti-Irrtum“ offenbar ihre vernünftige und menschliche Seite verdrängt und die Oberhand gewonnen. Nur so kann man sich dieses widersprüchliche Buch erklären. Seyran Ates ringt gar nicht mit ihren verschiedenen kulturellen Identitäten (kurdisch-türkisch-deutsch), wie sie sich und anderen weismachen möchte, sondern sie ringt in diesem Buch vor unser aller Augen mit ihrer linken Identität und kommt damit nicht zu Rande! Und das ist – böse gesprochen – nur allzu deutsch.

Ihre linke Utopie vom Ende der Nation

Seyran Ates äußert sich in diesem Buch ausführlich zu ihrer Utopie vom Ende nationaler und lokaler Kulturen. Sie stellt sich vor, dass Kulturen nur noch an Menschen gebunden sind, nicht an örtlich vereinigten Menschengruppen, also z.B. Nationen. Dann könnte jeder Mensch von Ort zu Ort ziehen, und würde überall mit seiner Kultur aufgenommen, ohne dass er sich anpassen muss. Das ist natürlich eine grauenhafte und realitätsfremde Utopie, die voll und ganz den Ungeist von Multikulti atmet.

Nationen gäbe es ihrer Meinung nach erst seit dem sogenannten „Zeitalter der Nationalstaaten“, und das sei ja jetzt vorbei. Sie sieht nicht, dass örtlich verbundene Menschen immer eine Konvention brauchen, auf deren Grundlage sie sich verständigen und eine kollektive Identität herausbilden, aufgrund derer sie auch erst zu einem politischen Subjekt werden, das z.B. eine Demokratie bilden kann. Dazu gehört mehr als nur eine gemeinsame Sprache: Es gehört auch eine gemeinsame Kultur dazu. Seyran Ates selbst bringt das Beispiel von der deutschen Verabredung, bei der Pünktlichkeit erwartet wird. Wenn sich jeder nach seiner Facon an Verabredungen halten würde, kämen die Menschen niemals zusammen! Babylon funktioniert nicht, denn die Menschen verstehen einander dann nicht mehr, „nein, nicht mehr“, wie es in dem Lied „Die Legende von Babylon“ so treffend heißt.

Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, wo Demokratie und Rechtsstaat mit Füßen getreten werden, schwärmt Seyran Ates von dem hohen Niveau der Demokratie, das in der Europäischen Union verwirklicht sei! Dabei zeigt diese Krise überdeutlich, dass die Nationen und ihre Nationalkulturen noch höchst lebendig sind, und es niemandem nützt, wenn man so tut, als gäbe es sie nicht mehr. Europa kann über die Nationalstaaten hinauswachsen, überwinden kann es sie nicht. Und selbst wenn der Zusammenschluss zu einem europäischen Einheitsstaat gelingen würde, wie Seyran Ates hofft, dann würde dieses Europa nur eine neue Nation bilden, die z.B. gegen die USA Front macht – de facto geschieht dies bereits.

Wer die Konflikte der Nationalstaaten dadurch abschaffen will, dass er die Nationalstaaten abschafft, handelt wie einer, der das Geld abschaffen will, weil dann niemand mehr an Geldmangel leidet. Es ist eine dumme, linke Utopie.

Eine utopische Vorstellung von Verfassungspatriotismus

Seyran Ates träumt davon, dass die Klammer aller Menschen ein Verfassungspatriotismus sein könne, der sich ausschließlich auf die Menschenrechte der Verfassung gründet. Die Menschen könnten kulturell sein, wie sie wollen, denn da ja die richtige Verfassung gelte und sich alle daran halten, sei das ja dann kein Problem.

Hier unterliegt Seyran Ates jedoch einem schweren Denkfehler: Obwohl die Menschenrechte natürlich universal sind, sind sie dennoch Ausfluss bestimmter Kulturen, die einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben. Nicht jede Kultur hat die Menschenrechte hervorgebracht oder akzeptiert. Eine Verfassung ist immer der Ausfluss der nationalen Kultur! Eine gute Verfassung schreibt deshalb auch immer die nationale Kultur als zu pflegendes Gut fest – das deutsche Grundgesetz hat hier noch behebbare Defizite. Verfassungspatriotismus ist nur dann zu bejahen, wenn er sich des Zusammenhangs von Kultur und Verfassung bewusst ist.

Die USA werden von Seyran Ates gerne als Vorbild für Integration herangezogen. Dort kann man studieren, dass neben der Verfassung die Kultur der White Anglo-Saxon Protestants („Whasps“) entscheidend ist. Würden diese Whasps sehr schnell aus dem Staat verdrängt, ohne dass nachfolgende Zuwanderer sich in die Kultur der Whasps integrieren könnten, dann würden die USA auch ihre Verfassung verändern und verlieren, das steht fest. Ja mehr noch: Am Beispiel der USA kann man sogar studieren, dass nicht nur die Kultur zu einem Verfassungsstaat dazu gehört, sondern auch eine gewisse Art von weltanschaulicher Kompatibilität: Jede Religion und jede Weltanschauung, die sich integrieren möchte, muss gewissen Anforderungen der Aufklärung bzw. des Humanismus genügen. Christentum, Judentum und Islam können sich nur in ihren humanistischen Formen in die Gesellschaft der USA integrieren, und letztlich gilt das auch für alle anderen Weltanschauungen. Deshalb sind die Gebäude in Washington alle der griechisch-römischen Architektur nachempfunden: Das soll bedeuten, dass hier der Geist des klassischen Humanismus herrscht. Das gilt auch dann, wenn davon in der Verfassung der USA gar nichts geschrieben steht. Ja, es gibt eine Leitkultur in den USA.

Seyran Ates hat noch nicht verstanden, dass der Schlüsselsatz im Film „Agora“ lautet: „Seit wann gibt es so viele Christen in Alexandria? Wir müssen mit ihnen verhandeln!“ – Wenn sich die Kultur der Menschen eines Landes ändert, wird sich auch dessen Verfassung ändern. Dann wird die Verfassung gnadenlos zur Verhandlungsmasse. Denn eine Verfassung kommt nicht von Gott, sondern von den Menschen. Ein Verfassungspatriotismus, der nur die Worte der Verfassung ernst nimmt, aber nicht die Kultur, die dahinter steht, ist wertlos. Man denke nur an Weimar: War das nicht auch eine Demokratie – nur ohne Demokraten? Es hat nicht funktioniert.

Wenn Seyran Ates davon spricht, dass sie Deutschland liebe, meint sie in Wahrheit gar nicht Deutschland, sondern nur die Menschenrechte in der deutschen Verfassung. Irgendwelche positiven Eigenschaften der deutschen Kultur wie Ordnungsliebe, die deutsche Landschaft, die Vorzüge der deutschen Sprache, die deutsche Geschichte oder die deutsche Küche meint sie damit nicht. Da ist es dann schon sehr seltsam, wenn sie die Deutschen zu einem enspannten Verhältnis zu ihrer Nation aufruft: Wer das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Nation nach einer perversen linken Ideologie bestimmt, derzufolge Liebe zu Deutschland nicht Liebe zu Deutschland heißt, der ist ein blinder Blindenführer.

Maßlosigkeit und Mangel an Realismus

Maßlos ist Seyran Ates in der Verdammung derer, die an einem normalen, maßvollen Nationalbewusstsein festhalten wollen, das über Meme und nicht über Gene definiert wird. Sie nennt sie wiederholt „Blut- und Bodenpatrioten“, wie wenn es rassistische Extremisten wären, und macht keinen Unterschied zu echten Rassisten! Dass der richtige, vernünftige und menschliche Weg in einem maßvollen Festhalten an den Nationen bestehen könnte, ist für sie keine Option.

Seyran Ates kritisiert den Begriff „deutsche Kultur“ als unbestimmbar. Aber obwohl die deutsche Kultur historisch gewachsen und nicht homogen ist und sich auch weiter verändern wird, so kann man doch hinreichend klare Vorstellungen davon umreißen, was „deutsch“ ist. Sie selbst tut dies am Beispiel der deutschen Pünktlichkeit bei Verabredungen: Da diskutiert sie ja auch nicht, dass es manche Deutsche gibt, die dennoch unpünktlich sind, oder dass die Deutschen vielleicht eines Tages nicht mehr für Pünktlichkeit bekannt sein werden; nein: sie nimmt die Pünktlichkeit einfach so als deutsch hin: Es geht also!

Seyran Ates schafft es auch nicht, die Einsicht zu formulieren, dass sich eine Aufnahmekultur durch Zuwanderer zwar verändert, dass dies aber tunlichst nicht zu schnell und nicht zum Schlechten hin geschehen sollte. Und dass die Aufnahmekultur selbstverständlich das Recht hat, über sich selbst zu bestimmen, und maßvolle Grenzen zu setzen.

Seyran Ates bringt auch nicht die Einsicht über die Lippen, dass nur für die erste Generation der Zuwanderer die volle 100:100-Transkulturalität die beste Lösung ist, dass aber spätere Generationen diesen Spagat immer weniger pflegen werden:

  • Weil die Aufrechterhaltung von zwei Kulturen viel Aufwand macht.
  • Weil spätere Generationen die Herkunftskultur nur noch von ferne kennen.

Seyran Ates hätte auch formulieren müssen, dass der Spagat vorwiegend zugunsten der Kultur der Aufnahmegesellschaft aufgelöst werden wird – nur ein kleiner Teil der mitgebrachten Kultur fließt in die Gesamtkultur der Gesellschaft ein:

  • Weil spätere Generationen ganz in der Aufnahmegesellschaft aufgewachsen sind.
  • Weil man von einer Aufnahmegesellschaft nicht zu viel verlangen darf.

Damit verändert sich das Schema 100:100 (Herkunftskultur:Aufnahmekultur) schrittweise zur Formel 10:90. Am Ende hat der Nachkomme von Zuwanderern nur noch eine einzige Kultur, die sich zu großen Teilen aus der ursprünglichen Kultur der Aufnahmegesellschaft zusammensetzt, und zu einem kleineren Teil aus der ehemaligen Herkunftskultur. Alles andere ist eine Utopie und eine Zumutung sowohl für Zuwanderer als auch für die Aufnahmegesellschaft. Ohne ein gerüttelt Maß an Assimilation geht es für nachfolgende Generationen nicht. Und das muss man auch klar sagen.

Seyran Ates spricht offen an, dass andere nicht die bunte Vermischung der Kulturen, sondern die Herausbildung einer neuen Einheitskultur als Folge von Multikulti prophezeien, weil die Vermischung der Kulturen die einzelnen Kulturen nicht bestehen lassen wird. Seyran Ates gibt aber keinen überzeugenden Grund an, warum das nicht so geschehen sollte. Sie wünscht nur, dass es nicht geschieht. Auch hier hätte Seyran Ates klar sagen sollen, dass die einzelnen Kulturen Orte brauchen, wo sie zuhause sind und Herr im eigenen Hause sind, um nicht unterzugehen. Hat sie als Kurdin noch nie davon gehört, dass die Türkei gezielt Türken in Kurdistan ansiedelte, um die kurdische Kultur zu verdrängen? Findet sie das etwa gut?

An ganz anderer Stelle beklagt Seyran Ates, dass die Religion mit der Auflösung nationaler und lokaler Identitäten wieder erstarkt, weil diese als einzige Identifikation übrig bleibt: Sieh an! Sie selbst spricht aus, dass der Schuss nach hinten losgeht, allerdings an einer anderen Stelle ihres Buches, so dass der Selbstwiderspruch nicht auffällt.

Filigrane Gefühligkeit statt klare Regeln

Seyran Ates hat auch nicht verstanden, dass nicht alle Menschen ein derart filigranes Empfinden haben wie sie selbst, das tausendfach abwägt und sich zwischen Alternativen nur schwer entscheiden kann. Die Masse der Menschen braucht klare, einfache, verstehbare Regeln. Natürlich müssen diese Regeln auch gute, vernünftige, menschliche Regeln sein, eine Diktatur wäre nicht akzeptabel. Aber man kann die Menschen dieser Welt nicht individuell mit dem Millimeterstab organisieren, wie Seyran Ates sich das in ihrer filigranen Gefühligkeit denkt. Das ist dann wieder – böse gesprochen – ein allzu deutscher Gedanke von ihr.

Ein Beispiel ist die doppelte Staatsbürgerschaft: Gerade dann, wenn man die Staatsbürgerschaft ganz emotionslos als Club-Mitgliedschaft versteht, gerade auch dann muss doch ins Auge fallen, dass ein unhaltbares organisatorisches Chaos entsteht, wenn immer mehr Menschen mehrere Staatsbürgerschaften haben. Es entstehen so übrigens auch Privilegien, die die Gleichheit der Menschen untergräbt, und es fallen wichtige Anreize weg, sich zu integrieren. Auch die Demokratie gerät ins Rutschen, wenn das politische Subjekt, das Staatsvolk, zu zerfließen beginnt. Wer nach Deutschland nicht nur als Gastarbeiter kommen möchte, sondern für Generationen hier leben will, der muss seine Herkunftsstaatsbürgerschaft abgeben, egal wie schmerzlich es ist. Umgekehrt sollte übrigens auch eine deutsche Auswandererfamilie die deutsche Staatsbürgerschaft irgendwann einmal abgeben müssen, wenn sie für mehrere Generationen dauerhaft im Ausland lebt.

Ein anderes Beispiel ist Özil: Wer für die Nationalmannschaft spielt, muss die Nationalhymne singen. Punkt. Dass dies Schmerzen bereiten kann, mag sein, ist aber nur für’s Feuilleton interessant. Ein anderes Beispiel ist ihre Verständnissinnigkeit für Bürger der ehemaligen DDR, denen mit der DDR ihre alte Heimat abhanden kam. Das ist zwar wahr, aber es ist nicht das Werk von bösen Mächten (Helmut Kohl *lach*), sondern von kleineren Aspekten abgesehen der Lauf der Welt und der Preis der Freiheit. Und spätestens beim Stichwort „Preis der Freiheit“ sollte Seyran Ates erkennen, dass es Schmerzen gibt, die man nicht vermeiden kann.

Weitere linke Verwirrungen

Beim Thema Maßlosigkeit muss auch der Umgang von Seyran Ates mit der „Geschichte“ thematisiert werden: Seyran Ates hat den deutschen Schuldkult offenbar gefressen wie einen Besen, der nun wie ein preußischer Ladestock in ihr steckt, so dass sie überall stramm steht, wo es um Nation und „Geschichte“ geht. Sie meint allen Ernstes, die deutsche Linke hätte ihre Lektionen aus „der Geschichte“ gelernt: Jene deutsche Linke also, die die „Geschichte“ als Nazi-Keule gegenüber Humanisten und Demokraten einsetzt. Jene deutsche Linke, die sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen des Sozialismus so schwertut. Der Gipfel ist ihre Meinung zum Thema Beschneidung: Wenn es nur um Muslime ginge, würde Seyran Ates sie rigoros verbieten, aber da es ja auch um Juden geht, dürfe man das „wegen der Geschichte“ nicht. Unsinn! Man darf es wegen Toleranz und Humanismus nicht, aber doch nicht „wegen der Geschichte“! Wer Juden nur „wegen der Geschichte“ toleriert, der hat nun wahrlich nichts aus der Geschichte gelernt.

Unredlich wird Seyran Ates in Sachen Thilo Sarrazin. Diesen hält sie für „rassistisch“, weil er sagte, dass Muslime und Türken in Deutschland genetisch im Durchschnitt von einem niedrigeren Niveau aus in die Bildungskarriere starten als der Rest der Gesellschaft. Was Seyran Ates weglässt, ist das Wörtlein „im Durchschnitt“ und die Begründungen: Weil die Einwanderung aus türkischen und islamischen Ländern nun einmal eher aus der Unterschicht der Herkunftsländer erfolgte, und weil die hie und da gepflegte Tradition der Cousinen-Ehe die Nachkommen manchmal erblich belastet. Diese Feststellungen sind aber weder bösartig noch rassistisch, sondern einfach nur die blanke Wahrheit. Doch Seyran Ates dreht es rhetorisch so, dass der Eindruck entsteht, Sarrazin hätte „die“ Türken und „die“ Muslime gemeint, was in der Tat ein rassistisches Vorurteil wäre, oder Sarrazin hätte mit seiner Feststellung Bildungsaufstiege von Türken und Muslimen für unmöglich erklärt. Indem Seyran Ates in den Chor der Heuchler gegen Sarrazin mit einstimmt, verfehlt sie ihre Menschlichkeit vollkommen. Sie hätte sich vielmehr wie Necla Kelek hinter Sarrazin stellen müssen und auf diese Weise für eine wahrhaftige, vernunft- und lösungsorientierte Haltung zu den Problemen streiten müssen.

Von Franz Josef Strauß weiß Seyran Ates nur zu berichten, dass dieser leider oft angetrunken gewesen sei – wie niveaulos! Seyran Ates hätte sich lieber Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete, dass Franz Josef Strauß gerne lateinische Redewendungen einfließen ließ, und sich fragen, warum Schopenhauer den Satz formulierte: „Ohne Latein lebt man wie im Nebel“. Vielleicht ist das entscheidende Defizit von Seyran Ates einfach ihre mangelnde Kenntnis des klassischen Humanismus, ohne den die deutsche Kultur und überhaupt die Welt der Aufklärung nicht zu verstehen ist?

Die Toleranzidee bei Friedrich dem Großen deutet Seyran Ates nicht vor dem Hintergrund seiner Zeit. Vielmehr legt Seyran Ates an Friedrich den Großen direkt den Maßstab heutiger Werte an, und kommt so zu dem Schluss, dass er kein Vorbild sein könne. Wenn man bedenkt, dass Seyran Ates an anderer Stelle die richtige Einsicht formuliert, dass man Mohammed und den Koran nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit verstehen darf, ist dieses niveaulose, linke „Geschichtsbashing“ gegen Friedrich den Großen – denn mehr ist es nicht – einfach nur traurig. Friedrich der Große wird für alle Zeiten ein Meilenstein der Aufklärung für die deutsche Kultur sein, und das auch und gerade dann noch, wenn man bedenkt, dass er vorwiegend französisch sprach und lateinische Autoren zur Lektüre empfahl.

Religion

Die Ausführungen zum Thema Religion sind höchst enttäuschend. Vor jeder inhaltlichen Argumentation verstört die Widersprüchlichkeit von Seyran Ates: Da will sie das Kopftuch konsequent aus Schulen und Behörden verbannen, aber gleichzeitig sei es völlig in Ordnung, wenn Özil als Nationalspieler (!) vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Nationalhymne nicht singt (sondern Koranverse rezitiert, was Seyran Ates aber verschweigt). Es ist Seyran Ates nicht gelungen, einen Maßstab zu formulieren, der ihre Meinungen widerspruchsfrei begründen könnte. Auf der einen Seite Multikulti, auf der anderen Seite ein erstaunlich niveauloses Islam-Bashing, das passt so nicht zusammen.

Statt zu Kernfragen zu kommen hält sich Seyran Ates mit Oberflächlichkeiten auf: Zur DiTiB fällt ihr nur „Kopftuch“ und „islamische Feiertage“ ein. Aber das ist doch nicht das Entscheidende! Das Entscheidende ist die Haltung von DiTiB zu den Menschenrechten, zur Gleichberechtigung von Mann und Frau jenseits des Kopftuchs, sowie natürlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft, das zentral ist für die Frage, ob sich diese Form des Islams bei uns integrieren kann. Das erwähnt Seyran Ates aber genauso wenig, wie das Ziel der DiTiB, türkische Zuwanderer dauerhaft an die Herkunftsgesellschaft zu binden und eine gelungene Integration in die deutsche Kultur zu hintertreiben. Übrigens schreibt Seyran Ates Ditib konsequent falsch als „Ditip“.

Ebenso enttäuschend ist, dass Seyran Ates den Islam immer nur über die einzelnen Gläubigen definiert. In Wahrheit definiert sich Islam weltweit über das, was die jeweiligen Religionsgelehrten lehren. Die islamischen Hierarchien sind zwar sehr viel heterogener als im Christentum, aber es gibt sie, und wer den Islam modernisieren will, der muss auch dort ansetzen. Seyran Ates setzt aber nur beim einzelnen Gläubigen an. Das wäre so, wie wenn der linke Katholik Heinrich Böll in den 1950er Jahren gesagt hätte: „Wir brauchen ein Zweites Vatikanisches Konzil doch gar nicht, wir können auch jeder für sich modern sein.“ – Daran sieht man, wie abwegig Seyran Ates denkt.

Völlig enttäuschend ist, dass Seyran Ates die existierenden Reformbewegungen im Islam restlos ignoriert (z.B. Schule von Ankara, Khorchide, Abu Said, etc.). Seyran Ates scheint in der Vorstellung zu leben, man könne dem Islam die Menschenrechte vor den Latz knallen, und dieser hätte sie dann brav zu schlucken. Sehr deutlich wird das bei ihrer Besprechung der Kairoer Menschenrechtserklärung des Islam: Hier sieht man wieder, dass Seyran Ates von der Wirkmächtigkeit der Kultur hinter den Verfassungstexten keine Ahnung hat. Wer den Islam mit der Moderne versöhnen will, der muss anfangen, Theologie zu betreiben und die Kultur des Islam verändern! Der muss aus dem Islam selbst heraus die Einsichten und Argumente entwickeln, die zur Moderne führen. Nur was im Islam selbst drin steckt, kann glaubwürdig zur Entfaltung gebracht werden! Und ja: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es möglich ist, die Moderne auch in den Urgründen des Islam vorzufinden. Wer hingegen glaubt, eine Religion durch Unterwerfung und Beschneidung „reformieren“ zu können, der wird fatal scheitern.

Damit nähern wir uns dem Kern der Irrtümer von Seyran Ates bezüglich der Religion: An manchen Stellen hat man das Gefühl, dass Seyran Ates zu jenen schlichten Geistern gehört, die glauben, der Islam bräuchte gar keine Reform. Das ist immer dort sehr deutlich der Fall, wo sie schreibt, die Fundamentalisten aller Religionen seien das Problem. Damit übersieht sie völlig, dass das, was wir beim Christentum als Fundamentalismus von Randgruppen kennen, beim Islam leider noch die vorherrschende traditionelle Theologie ist! Man kann den Islam nur dann als eine Religion wie jede andere auch behandeln, wenn man auf den Reformbedarf hinweist. Man muss begreifen, um wieviel moderner der konservative Ratzinger-Katholizismus gegenüber dem traditionalistischen Mainstream-Islam ist, um zu begreifen, um was es überhaupt geht. Davon spricht Seyran Ates aber nicht, sondern nur von Verfassungen, die über der Religion stehen müssen, ohne dass sie an den kulturellen Unterbau denkt, den Verfassungen brauchen. Das würde auch erklären, warum Seyran Ates die Reformbewegungen im Islam konsequent ignoriert, und warum sie lieber am Kopftuch als an den echten Kernfragen (s.o.) interessiert ist: Wo es nichts zu reformieren gibt, braucht es auch keine Reform. Dieses Denken ist ein besonders übler Aspekt von Multikulti, weil er das zentrale Problem völlig ausblendet. Seyran Ates hat eine komplett falsche Analyse des Islam-Problems! Ohne eine Reform ist eine Integration des Islam gerade auch in den von ihr so beschworenen Verfassungsstaat nicht möglich!

Fazit

Seyran Ates verfälscht ihre eigene geniale Idee von Transkulti, und landet wieder beim alten, dummen Multikulti. Dabei verstrickt sie sich in unauflösliche Widersprüche. Der tiefere Grund dafür ist, dass zwei Seelen in der Brust von Seyran Ates schlagen: Einerseits Aufklärung, Vernunft und praktische Menschlichkeit, andererseits eine linke Ideologie mit höchst romantischen Vorstellungen von der Gestaltung der Welt.

An manchen Stellen hat man das Gefühl, Seyran Ates hätte das Buch „Deutschsein – eine Aufklärungsschrift“ von Zafer Senocak gelesen, ein Buch gegen die deutsche Kultur und gegen die Kultur der Aufklärung, denn ihre Irrtümer und Selbstwidersprüche stimmen mit den Irrtümern und Selbstwidersprüchen dieser „Aufklärungsschrift“ in vielen Punkten überein.

Hoffen und wünschen wir, dass Seyran Ates ihre inneren Konflikte lösen kann, und zurückkehrt auf die Seite von Aufklärung, Vernunft und Menschlichkeit! Gegen Utopien und Romantik, für kluge Visionen mit Bodenhaftung! Gegen Multikulti, für Transkulti! Gegen kulturelles Chaos und Werterelativismus, für eine humanistische Nationalkultur als Leitkultur, als Garantin von Weltoffenheit und demokratischer Vielfalt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Februar 2014)

Melanie Amann: Angst für Deutschland – Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert (2017)

Demokratie-blinde Analyse der (leider) rechtsradikal gewordenen AfD

Melanie Amann hat zwar Recht: Die AfD (von heute) ist eine rechtsradikale Partei. Aber man kann die AfD nicht korrekt analysieren, ohne gleichzeitig den bedenklichen Zustand der BRD-Demokratie zu analysieren.

Der Gründungsimpuls der AfD war keineswegs Sarrazin. Der Gründungsimpuls der AfD war der Bruch von Staatsverträgen, Verfassung und Gesetzen durch die Merkel-Regierung, in „alternativloser“ Komplizenschaft mit den anderen etablierten Parteien, um den Euro zu „retten“. Unsere Demokratie war durch die „alternativlose“ Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien in immer mehr Politikfeldern schon davor in einer Krise, aber durch den formalen Bruch der demokratischen Grundregeln hatte unsere Demokratie nun einen echten Hau abbekommen: Und genau das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, genau das war der Gründungsimpuls, der Bernd Lucke und andere völlig seriöse Menschen zusammenbrachte, um die AfD zu gründen. Als liberal-konservative Partei.

Erst im Laufe der Zeit ist die AfD immer rechter geworden, bis sie schließlich die Grenzen zum Rechtsradikalismus überschritten hat (meiner Meinung nach war das im Sommer 2016, und nicht schon mit dem Abgang von Lucke). Heute schafft es die AfD nicht mehr, sich glaubwürdig von Antisemitismus abzugrenzen. Björn Höcke hält Reden im unverhohlenen Hitler-Duktus.

Und was den Islam anbetrifft, so ist die AfD schon längst von den Weisheiten Sarrazins abgewichen, der in seinem berühmten Buch auf S. 268 den folgenden klugen Satz schrieb: „Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert“. — Anders als Sarrazin lehnt die AfD von heute den Islam pauschal und radikal ab, und hat die die Solidarität mit Islamreformern aus ihrem Programm herausgestrichen. [PS 30.07.2023: Zum Islam hat Björn Höckes AfD-Fraktion im Thüringer Landtag Mitte 2016 eine Schrift veröffentlicht, die eine antihumanistische Haltung zum Thema Islam formuliert. Der Islam sei inhärent traditionalistisch, denn die „säkularen“ Ideen von Vernunft und Aufklärung könnten auf den Islam angeblich nicht angewandt werden. In islamischen Ländern habe der Islam seinen guten Platz, nur nach Europa gehöre er nicht. Auf dieser ideologischen Grundlage kann die AfD mit islamischen Traditionalisten und Islamisten weltweit kooperieren, während sie Islamreformer grundsätzlich ablehnt und auch keinen liberalen Islam in Deutschland möchte.]

Die AfD ist heute also rechtsradikal und damit abgehakt.

Die fundamentalen Probleme der BRD-Demokratie sind damit aber noch lange nicht abgehakt. Unsere etablierten Parteien brechen immer noch Staatsverträge, Verfassung und Gesetze. Unsere etablierten Parteien vertreten in vielen Politikfeldern immer noch eine derart einheitliche Meinung, dass andersdenkende Bürger praktisch keine Wahl bei der Wahl haben. Wer darin keine ernsthaften, fundamentalen und über kurz oder lang auch gefährlichen Probleme sieht, darf sich nicht Demokrat nennen.

Melanie Amann hat das falsche Buch geschrieben. Hier geht es schon lange nicht mehr um die AfD. Hier geht es schlicht um das Überleben der Demokratie in unserem Land. Aber dazu hat Melanie Amann nichts zu bieten. Und ja: Ich habe Angst davor in einem Land zu leben, das keine Demokratie mehr ist. Echte, berechtigte Angst.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15.04.2017)

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (2019)

Eine klassische Ermittlerfigur am Vorabend des Syrischen Bürgerkriegs

Diesmal schlüpft Rafik Schami in die Rolle eines Krimi-Autors und gestaltet mit dem Kommissar Barudi eine klassische Ermittlerfigur, die sich problemlos neben den anderen großen Ermittlergestalten der Literatur sehen lassen kann. Kommissar Barudi steht kurz vor seiner Pensionierung und ist ein alter Hase im Geschäft. Vor allem weiß er genau, was in Syrien geht und was nicht geht, denn die syrischen Verhältnisse schränken seine Ermittlungen immer wieder ein und sind eines der fortlaufenden Nebenthemen dieses Romans. Privat lebt er zurückgezogen und ein wenig unglücklich, da seine geliebte Frau vor Jahren gestorben ist. Ein anderes Nebenthema des Romans ist das Wiedererwachen seiner Lebenslust durch die Liebe und durch den Magen.

Der Kriminalfall selbst besteht in der Ermordung eines katholischen Kardinals aus Italien, der sich auf einer geheimen Mission in Syrien befand. Deshalb wird Barudi von dem italienischen Ermittler Mancini begleitet, der zusammen mit Barudi ein kongeniales Ermittlerpaar bildet. Immer wieder entdeckt Mancini Parallelen zwischen Syrien und Italien. Der Leser begleitet die beiden gerne bei ihrer Aufklärung, auf welcher Mission der Kardinal war, und warum und von wem er ermordet wurde.

Das Hauptthema des Romans, das sich erst langsam entwickelt und rein formal wie ein Nebenthema neben dem Kriminalfall behandelt wird, ist die Zuspitzung der Zustände in Syrien am Vorabend des syrischen Bürgerkrieges.

Wieder schildert Rafik Schami die Bedingungen der Vetternwirtschaft und der Diktatur in Syrien. Immer wieder jedoch streut er Momente des Aufbegehrens ein. Die Menschen verändern sich langsam, lassen sich nicht mehr alles gefallen. Dennoch ist Rafik Schami am Ende resigniert: Es fehlt den Menschen die Würde, und die Korruption hat sich zu tief in die Gesellschaft gefressen, als dass sich die Verhältnisse so leicht ändern ließen. In der Resignation des alternden Kriminalkommissars spiegelt der Autor Rafik Schami vermutlich auch seine eigene Resignation wieder. Man hat alles versucht, aber am Ende ist man doch gescheitert. Nicht menschlich und persönlich gescheitert, wohl aber politisch und in der Erreichung einer besseren Welt für Syrien.

Zu den beklagenswerten Zuständen gehört natürlich auch der Zustand der Religionen, vor allem von Islam und Christentum. Das traurige Los der Frauen in muslimischen Familien ist ebenso ein Thema wie christliche Wunderheiler und Scharlatane, die plötzlich wieder Hochkonjunktur haben. Und natürlich islamische Scheichs, die verzweifelten jungen Menschen einen scheinbaren Ausweg aus ihrer Misere im Islamismus aufzeigen. Bei ihren Ermittlungen stoßen Barudi und Mancini völlig überraschend auf ein Gebiet mitten in Syrien, das von Islamisten kontrolliert wird. Und in diesem Gebiet liegt wiederum eine christliche Enklave, die von einem mafiösen Clan und einem ominösen „Bergheiligen“ beherrscht wird. Stellenweise kommt man sich wie bei den Wiedertäufern in Münster vor, manche Absurdität erinnert an Margaret Atwoods „Report der Magd“.

Rafik Schami beschreibt, wie die Diktaturen Syriens und des Irans sich islamistische Kämpfer heranzüchteten, um sie gegen die Amerikaner im Irak in Bewegung zu setzen. Solche islamistischen Gruppen entstehen nicht aus dem Nichts und aus reinem Glauben heraus, sondern durch staatliche Hilfen und Gelder. Ziel war es, die Amerikaner im Irak scheitern zu lassen, denn wenn die Amerikaner im Irak Erfolg gehabt hätten, hätte dies die benachbarten Diktaturen unmittelbar bedroht, so wie die BRD durch ihren Wohlstand und ihre Freiheit die ständige Gegenthese zur DDR war.

Literarisch ist dieser Roman geradliniger und weniger verschlungen als z.B. „Die dunkle Seite der Liebe“, und die letzten Kapitel sind fast in einem Protokollstil gehalten. Dennoch ist es ein typischer Rafik Schami, eine große Erzählung mit vielen Abzweigungen, die sich zu einem Ganzen rundet. Der Protokollstil am Schluss kann auch literarisch gedeutet werden: Das Scheitern Barudis ist das Ende seines Schaffens, er sieht am Ende nur noch zu, was geschieht, und nimmt es notizenhaft zur Kenntnis. Seine Kreise sind gezogen, was danach kommt, ist nicht mehr Seines.

PS:

Rafik Schami beschreibt korrekt, was man in deutschen Medien so gut wie nie zu hören bekommt: Der Terror im Irak verdankte sich zu einem großen Teil den benachbarten Diktaturen, die natürlich kein Interesse daran haben konnten, dass die Amerikaner im Irak Erfolg haben. Allerdings gibt es dennoch einige Anti-Amerikanismen bei Rafik Schami:

Dass der Irak zu einer Kolonie Amerikas gemacht werden sollte, ist natürlich Unfug. Ist denn Deutschland nach 1945 eine amerikanische „Kolonie“ geworden? Und selbst wenn: War das denn so schlecht, von den Amerikanern „kolonisiert“ worden zu sein? Wäre es eine gute Idee gewesen, wenn die Amerikaner bald nach 1945 wieder aus Deutschland abgezogen wären, so wie Obama es mit dem Irak gemacht hat?

Ein anderer Fehler ist, dass es „die Iraker“ gewesen wären, die sich freiwillig in den Terrorcamps gemeldet hätten, um gegen die Amerikaner zu kämpfen. Die 60% Schiiten und 20% Kurden im Irak wohl eher nicht, denn diese fühlten sich durch die Amerikaner von der Vorherrschaft der Sunniten befreit. Die 20% Sunniten wohl eher, aber auch diese konnten die Amerikaner schließlich für sich gewinnen, indem sie deren Sicherheit gegenüber den anderen beiden Volksgruppen garantierten. Es war nach Jahren des Terrors tatsächlich einige Jahre Ruhe im Irak – bis Obama dann doch noch Hals-über-Kopf die Truppen aus dem Irak abzog, so dass die Sunniten sich verraten fühlen mussten und sich deshalb dem IS aus Syrien anschlossen.

In Syrien wiederum hatte Obama den Bürgerkrieg durch Waffenlieferungen an dubiose Gruppen mit aufgemischt, so dass in Syrien ein Gemetzel entstand, wie man es im Irak nicht gesehen hat, das zudem noch völlig umsonst war, während im Irak mit den Kurden und den Schiiten Zonen dauerhafter Selbstbestimmung entstanden sind, mit denen der Westen guten Gewissens zusammenarbeiten kann, z.B. im Kampf gegen den IS.

Man hätte sich von Rafik Schami ein Lob für George W. Bush und eine Kritik an Obama gewünscht. Keinen pauschalen Antiamerikanismus.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Januar 2020)

Zafer Senocak: Deutschsein – Eine Aufklärungsschrift (2011)

Verklärung statt Aufklärung – Warum Senocak irrt

Der äußere Eindruck von Zafer Senocaks Büchlein „Deutschsein – Eine Aufklärungschrift“ weckt hohe Erwartungen:

  • Aufklärung und Humanismus sollten unsere Leitzivilisation sein, nicht Religionen.
  • An diese Grundlage können alle Kulturen anknüpfen, auch der Islam.
  • Deutschland muss dieses große, von Goethe u.a. geprägte Kulturideal aus der Zeit vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wiederbeleben.
  • Voraussetzung von Integration ist eine gelingende Selbstdefinition der Deutschen, die Formulierung eines „deutschen Traumes“.
  • Das alles betrachtet aus der Perspektive und in der Sprache des Literaten, der ein Gefühl für Zwischentöne und das Menschliche hat.

Wer würde hier nicht zustimmen? Doch Senocak enttäuscht die geweckten Erwartungen auf fast schon brutale Weise! Seine Vorstellungen sehen radikal anders aus und sind alles andere als aufgeklärt. Listen wir einige seiner wunderlichen Thesen auf, und analysieren wir dann, wie Senocak zu diesen seltsamen Ideen gekommen ist. Denn das ist das eigentlich Interessante daran!

  • Integrations- und Islamkritiker sind für Senocak grundsätzlich fundamental-christlich und nationalistisch motivierte, spießige McCarthyisten mit beschränktem Horizont und irrationalen Verlustängsten. Sie seien durchweg „selbsternannte Experten“ und „Feierabendautoren“. Wenn sie mit der Aufklärung argumentieren, ist das für Senocak ein Missbrauch der Aufklärung, hinter dem sich die vorgenannten Motive verbergen würden.
  • Der Islam „an sich“ ist für Senocak überhaupt kein Problem. Der zentrale Grund für Kritik am Islam speziell in Deutschland ist nach Senocak die pure Fremdheit des Islam, nicht jedoch dessen theologisch-moralische Inhalte.
  • Senocak ist Anhänger der Vielfalt-Ideologie, nach der Nation und Religion nur zwei unwesentliche Aspekte in einem viel größeren Spektrum von individuellen Eigenschaften eines Menschen seien. Man dürfe Zuwanderer unter keinen Umständen unter der Perspektive von Kollektividentitäten betrachten. Den Kritikern unterstellt Senocak, sie forderten letztlich die 100prozentige Assimilation der Zuwanderer.
  • Der Begriff „deutsches Volk“ wird von Senocak abgelehnt, weil Deutschsein damit angeblich durch Abstammung definiert würde. Die Deutschen seien aber heute nicht mehr ein Volk, sondern lebten praktisch in einem Vielvölkerstaat wie es die Türkei sei.
  • Senocaks Vision von Integration entspricht der Vision des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan von einer „Integration“ der Zuwanderer als 100prozentigen Türken in die deutsche Gesellschaft. Dass deutsche Staatsbürger sich nicht als Deutsche verstehen, auch und zuerst die türkische Staatsbürgerschaft haben, in Deutschland sendende türkische Medien konsumieren, in türkische Moscheen gehen und ihre Kinder in Deutschland auf türkische Schulen, türkische Universitäten und in türkische Fußballvereine schicken, sieht Senocak als vielfältige und moderne Bereicherung für Deutschland. Dass die Zuwanderer aufgeklärte Menschen seien, genüge zur Integration völlig.
  • Auch die Deutschen lebten in Deutschland nur in ihrer Parallelgesellschaft. Wir Deutschen hätten kein Recht, den Zuwanderern ab der zweiten Generation noch irgendwelche Vorschriften zu machen.

Soweit ein ganz kurzer Abriss. Wie kommt Senocak zu diesen absonderlichen Thesen? Statt an den zahllosen Irrtümern zu verzweifeln muss man auf deren gemeinsame tiefere Ursache sehen. Es muss die „Seele“ von Senocaks Irrtümern aufgefunden werden! Dann entschlüsselt sich alles wie von selbst.

Ein romantisches Bild der Türkei

Die tiefere Ursache und der Schlüssel für Senocaks Irrtümer ist ein völlig falsches Bild von der Türkei, das schwärmerisch und romantisch die türkische Staatsideologie verklärt. Für Senocak verkörpert die Türkei das Ideal eines aufgeklärten, demokratischen Vielvölkerstaates; formale Modernisierungsdefizite erwähnt Senocak jedenfalls mit keinem Wort. Atatürks Reformen seien „eine der großen Kulturrevolutionen der Menschheit“ gewesen. Atatürk habe laut Senocak die Parole ausgegeben: „Es gibt viele Kulturen, aber nur eine Zivilisation.“ Diese türkische Staatsideologie, dass in der Türkei viele Völker und Religionen gleichberechtigt zusammenleben würden, hört man in der Tat gerade auch von gebildeten Türken immer wieder einmal. Deshalb ist für Senocak auch das Wort von der „Leitkultur“ ein Anschlag auf die Freiheit, denn auch in der Türkei gäbe es schließlich keine Leitkultur, sondern nur die eine „Zivilisation“ über den verschiedenen „Kulturen“. Exakt dasselbe fordert Senocak nun für Deutschland.

Es ist klar, dass Senocak auf der Grundlage dieses weltfremden Idealbildes auch noch dem harmlosesten Integrationskritiker eine bösartige, antiaufklärerische Motivation unterstellen muss. Senocak ist also der Auffassung, dass es eine „reine“, kulturfreie Aufgeklärtheit gäbe, und dass diese vollauf genüge, um in einem aufgeklärten Land völlig integriert zu sein. Senocak unterstützt damit praktisch vollkommen die Aufforderung von Erdogan an die Türken in Deutschland, sich als 100prozentige Türken zu „integrieren“.

Senocak übersieht natürlich völlig, dass in der Türkei eine massive nationaltürkische und staatsislamische Leitkultur am Werke ist, unter der ethnische und religiöse Minderheiten schlicht nichts zu lachen haben. Da helfen auch keine Märchen von angeblich kurdischen Ministerpräsidenten und dergleichen. Immerhin gibt Senocak wenigstens soviel zu, dass die Landbevölkerung in der Türkei dem Ideal nicht entspreche. Er gibt auch zu, dass die türkischen Zuwanderer in Deutschland überwiegend dieser Landbevölkerung enstammen, womit er sich sehr stark selbst widerspricht. Aber es seien nach Senocak die Deutschen, die den Zuwanderern Kollektividentitäten überstülpten! An einer Stelle unterliegt Senocak peinlicherweise dem typisch türkischen Abwehrreflex, als er eine ultraorthodoxe Familie aus der Türkei nicht als Türken, sondern als Kurden ansprechen möchte – wie denn: Sind Kurden für Senocak nicht auch zivilisierte, gleichberechtigte türkische Staatsbürger? Senocak widerspricht sich hier zumindest atmosphärisch massiv selbst, und das ist bei einem Schriftsteller ein schwerer Vorwurf.

Aufklärung und Nationalkultur

Senocak übersieht, dass Aufklärung immer in real existierenden Kulturen entsteht. Eine aufgeklärte Integration muss deshalb mindestens die Übernahme der nationalen Inkulturationsgeschichte der Aufklärung umfassen. In Deutschland gehören dazu z.B. Immanuel Kant oder 1848. Selbst in den USA, die vielleicht noch am ehesten dem Ideal von Senocak entspricht, ist die Zivilisation stark mit der Kultur der White Anglo-Saxon Protestants verwoben bzw. es hat sich eine Metakultur von Traditionen herausgebildet, die die Zivilisation für alle Amerikaner gemeinsam kulturell erdet. Eine kulturfreie Zivilisation gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben, nirgendwo auf der Welt.

Doch Senocak ist radikaler Idealist: Dass Mesut Özil als deutscher Staatsbürger und Repräsentant Deutschlands bei internationalen Wettbewerben die deutsche Nationalhymne nicht mitsingt, was uns Deutsche sehr verletzt, ist für Senocak völlig in Ordnung, denn diese Hymne ist für ihn kein Teil der „reinen“ Aufklärung, der „Zivilisation“, wie er es nennt. Die deutsche Hymne ist für Senocak nur Folklore der deutschen Kultur, die heute nur noch eine Parallelkultur unter vielen in Deutschland sei. Die deutsche Aufklärungsnationalkultur zählt für Senocak definitiv nicht zu den Erfordernissen der Integration in Deutschland! Analog könnte man sich auch einen „aufgeklärten“ Franzosen vorstellen, für den Voltaire und Marseillaise nicht zu seiner Kultur gehören. Eine Farce!

Aber auch diverse Konventionen und Gebräuche gehören unverzichtbar zu einer aufgeklärten Nationalkultur, allen voran die Sprache als wichtigste Konvention zur Verständigung, oder z.B. die deutsche Ordnungsliebe. Es ist ein Gebot der Vernunft und des Anstandes, mithin also ein Gebot der Aufklärung, sich den guten Gepflogenheiten des Zuwanderungslandes in maßvoller Weise anzupassen. Das kann man auch guten Gewissens abverlangen. Maßlos, wer da wie Senocak unterstellt, Muslime müssten Schweinefleisch essen, um als integriert zu gelten. Senocak beklagt auf der anderen Seite, dass man das positive Deutschlandbild der Zuwanderer nicht aufgreift: Aber dieses positive Deutschlandbild der Zuwanderer hat eben oft Dinge wie die Ordnungsliebe im Sinn, wie Senocak selbst von seinem Vater berichtet, also „kulturelle“ Dinge, und nicht nur die „reine“ Aufklärung. Auch hier kommt sich Senocak also mit seiner eigenen Argumentation ins Gehege.

Senocak redet von „Vielfalt“ und „Bikulturalität“ als Ideal, gibt aber gleichzeitig zu, dass viele Türken in Deutschland im Grunde sehr monokulturell orientiert sind und seinem Vielfalt-Bild in keiner Weise entsprechen. Senocak rechtfertigt diese Monokulturalität aber, denn er hält eine Übernahme deutscher Kultur für die Integration in keiner Weise für erforderlich; zwar hat Senocak nichts dagegen, wenn Zuwanderer sich freiwillig anpassen, aber abverlangen dürfe man den Zuwanderern nur eine kulturunabhängige Aufgeklärtheit. Peinlich, dass sich Senocak gleichzeitig darüber beklagt, dass er von Deutschen immer als deutsch-türkischer Schriftsteller, und nicht als deutscher Schriftsteller wahrgenommen werde – hat er wirklich das Recht, sich vor dem Hintergrund seiner verquasten Pseudo-Integrationsideologie darüber noch zu beklagen?

Verschweigen von Andersdenkenden

Senocak verschweigt konsequent längst entwickelte alternative Konzepte wie z.B. die „Transkulturalität“ im Sinne von Seyran Ates: Zuwanderer können und sollen nach Ates ihre Herkunftskultur durchaus bewahren und pflegen, aber sie müssen zusätzlich und vor allem die deutsche Kultur hinzugewinnen. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus, so wie man auch mehrere Sprachen gleichzeitig beherrschen kann. Nur wo es harte Widersprüche gibt, ist die Herkunftskultur aufzugeben. Staatsbürgerschaft kann es nur eine geben: Die des Zuwanderungslandes. Solche maßvollen, vernünftigen, wahrhaft aufgeklärten Überlegungen existieren in Senocaks Buch nicht.

Senocak hält die doppelte Staatsbürgerschaft für Deutsch-Türken für eine Riesenchance für Deutschland. Wer die doppelte Staatsbürgerschaft ablehne, denke in den Kategorien eines autoritären, vormodernen Staates. Dass ein moderner Staat eine Solidargemeinschaft ist, in der es auch Pflichten gibt und Loyalitäten notwendig sind, und dass sich nur im Kommunikationsraum des Nationalstaates mit einem Staatsvolk, dass sich zu verpflichten weiß, Demokratie effektiv verwirklichen lässt, und dass dem eine massiv ausgeweitete doppelte Staatsbürgerschaft völlig entgegen steht, sieht Senocak nicht; dass dies Erfordernisse der Aufklärung sind, diskutiert er nicht. Das Empfinden des Schriftstellers Zafer Senocak für das Beziehungsverhältnis von Kultur und Aufklärung ist taub und blind.

Senocak ignoriert auch konsequent, dass die Deutschen niemals gefragt worden sind, ob und auf welche Weise sie Zuwanderung haben wollen, beklagt aber ständig deren fehlende Bereitschaft zur Akzeptanz des „Fremden“, und betont, dass die Deutschen sich die Zuwanderer selbst ausgesucht hätten. Auch müssten die Deutschen lernen, sich in ihr eigenes Land zu integrieren. Wenn es um Deutsche geht, spricht Senocak von der kulturellen Auflösung in „Vielfalt“, wenn es hingegen um Zuwanderer geht, spricht Senocak von deren Recht, ihre Herkunftskulturen auf deutschem Boden hemmungslos auszuleben, solange sie nur „aufgeklärt“ sind.

Islam und Aufklärung

Auch beim Thema Islam liegt der Schlüssel zu Senocaks Irrtümern in dessen Türkeibild: Der Islam ist nach Senocak in der Türkei offenbar vorbildlich reformiert worden. Senocak macht an seinen Familienerfahrungen die Aussage fest: „Ich stehe in der Tradition eines türkischen Islam, der wie selbstverständlich aufgeklärt und europäisch ist.“ Der Islam „an sich“ ist für Senocak kein Problem. Was in Pakistan und andernorts geschieht, sind für Senocak Entartungen des Islam aufgrund sozialer Schieflagen. Wenn man den Islam sich in offenen Gesellschaften entfalten lasse, dann würde er sich schon öffnen, meint Senocak zuversichtlich.

Es ist klar, dass Senocak auf dieser kruden Grundlage auch den harmlosesten Islamkritiker als christentümelnden Aufklärungsmissbräuchler ansehen muss. Senocak macht natürlich den Riesenfehler, seinen Familienislam mit „dem Islam“ zu verwechseln. „Der Islam“ ist der historisch gewachsene, traditionelle Konsens der mit Autorität versehenen Religionsgelehrten weltweit, wie er in deren Religionsgutachten (Fatwas) formuliert wird, und dieser Islam sieht leider ganz anders aus als der schöne Islam von Senocaks Familie. Dass gewisse Koranverse „Makulatur“ sind, wie Senocak sagt, ist leider alles andere als islamischer Weltkonsens. Auch unter türkischen Muslimen dürfte Senocaks Idee von Koranversen, die „Makulatur“ sind, kaum eine Mehrheit finden. Senocaks Bild von der Türkei und den Türken erweist sich einmal mehr als Illusion.

Senocak hat eine völlig falsche Vorstellung von der „Reform“ des Islam in der Türkei: Unter Atatürk wurde der Islam keineswegs „reformiert“; das hätte nämlich bedeutet, dass von staatlichem Einfluss unabhängige und mit der nötigen Autorität versehene Religionsgelehrte (Theologen, Muftis, Ulema usw.) ausgehend von der islamischen Lehrtradition den Islam organisch und begründet weiterentwickeln und „in dem Lichte vertiefter Einsichten“ neu interpretieren – und dass sie die veränderten Standpunkte in Fatwas offiziell festhalten und auf diese Weise einen neuen theologischen Konsens begründen. Das ist aber nicht geschehen.

In Wahrheit wurde der Islam in der Türkei durch den Staat ganz einfach reglementiert und beschnitten. Von der türkischen Religionsbehörde hört man, dass sie den Imamen die Predigten wörtlich vorschreibt oder diverse Hadithe „streicht“. Das wäre so, wie wenn Bundeskanzlerin Merkel für alle deutschen Bibelausgaben die Streichung der potentiell antisemitischen Passagen aus dem Johannes-Evangelium anordnen würde! Dass das keine glaubwürdige und dauerhafte „Reform“ sein kann, weiß jeder. Heilige Texte kann man nicht „streichen“ oder unterdrücken, man kann sie nur „in dem Lichte vertiefter Einsichten“ neu interpretieren.

Eine solche kulturelle Unterdrückung kann immer nur für eine bestimmte Zeit Bestand haben, dann bricht das Verdrängte wieder auf. Genau das geschieht jetzt unter Erdogan. Ausgerechnet in Erdogan aber sieht Senocak die endgültige Versöhnung von Islam und Moderne. Ein bedauerlicher Irrtum. Die Versöhnung von Islam und Moderne ist im Prinzip möglich, da hat Senocak Recht, aber in hinreichendem Maße realisiert ist sie nicht. Die „Schule von Ankara“ wäre hier sicher als ein Hoffnungsträger zu nennen, auch wenn sie bis jetzt nur in ihrem akademischen Elfenbeinturm existiert.

Senocak erwähnt die „Schule von Ankara“ übrigens mit keinem Wort, was doch sehr verwundert. Vielleicht deshalb, weil der türkische Islam nach der Lesart von Senocak eine Reform gar nicht mehr nötig hat? Sind echte Reformbewegungen wie die „Schule von Ankara“ gar am Ende ein Dorn im Auge von Senocak, weil ihre Existenz nämlich aufzeigt, wie unaufgeklärt der Islam an sich noch ist, auch der türkische Staatsislam? Oder weil der wichtigste Vertreter der „Schule von Ankara“, Yasar Nuri Öztürk, ein scharfer Kritiker von Erdogans politischem Islam ist, den Senocak für die Versöhnung von Islam und Moderne hält? [PS 25.07.2023: Yasar Nuri Öztürk ist nicht der „Schule von Ankara“ zuzurechnen.]

Wenn Senocak über den Streit um Moscheebauten schreibt, befremdet seine sture Islamophilie besonders. Welche Moschee in Deutschland vertritt denn einen reformierten Islam wie den von Senocak? Bei Menschenrechtsfragen wie z.B. nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau flüchten die Moscheegemeinden sich entweder in verquaste Formulierungen, oder aber sie behaupten einfach, dass sie für Menschenrechte wären, ohne eine nachvollziehbare und von Religionsgelehrten in Fatwas offiziell vertretene theologische Begründung dafür angeben zu können. In keiner Moscheegemeinde werden Koranverse als „Makulatur“ bezeichnet. Auch hier lebt Senocak offenbar in einer Traumwelt.

Verbrechen wie Ehrenmorde möchte Senocak als kriminell motivierte Einzelfälle bestraft wissen. Mit dem Islam hätten sie direkt nichts zu tun, der Problem-Islam sei eine Randerscheinung von einzelnen Extremisten. Wie Senocak schon die Kurden von den Türken getrennt sehen möchte, so möchte er im Zusammenhang mit dem Islam auch die Türken und Araber getrennt sehen. Auch damit verrät sich Senocak einmal mehr und widerspricht sich selbst in allem. Denn hat Senocak nicht selbst gesagt, man dürfe solche Kollektivzuschreibungen nicht vornehmen? Und sind die Araber für die Definition von Islam eine derart unwichtige Gruppe, dass man sie ausklammern dürfte?

Fast schon zum Lachen ist die völlig weltfremde Auffassung von Senocak, dass das islamische Andalusien in Deutschland praktisch totgeschwiegen würde; dabei kommt es uns schon zu den Ohren raus! Den islamischen Philosophen Averroes führt Senocak an und dass die islamische Blütezeit sich auf die antike Kultur gründe. Dass aber Averroes niemals Akzeptanz bei islamischen Religionsgelehrten fand, verschweigt Senocak, und dass diese Blütezeit lange vorbei ist, gibt Senocak selbst zu: Die islamische Kultur habe ihre Neugier und ihre Skepsis längst eingebüßt, schreibt er. Wieder entlarvt sich Senocak selbst als großer Verharmloser, der im Grunde weiß, dass er verharmlost.

Warum Senocak die Islam-Rede von Bundespräsident Wulff lobt, bleibt völlig unklar, denn wie Henryk M. Broder im Berliner Tagesspiegel richtig kommentierte, verschweigt diese Rede ja gerade Aufklärung und Humanismus, und tut so, als ob Deutschland eine Ansammlung von Religionsgemeinschaften sei. Während sich Senocak mit Recht darüber echauffiert, dass die deutsche Islamkonferenz jeden Menschen aus einem islamischen Land als Muslim vereinnahmt, schweigt er völlig von den deutschen islamischen Verbänden, die dort mit am Tisch sitzen und die deutschen Moscheen tragen. Sie kommen in seinem Büchlein schlicht nicht vor. Wie wenn es sie nicht gäbe. Wie wenn sie bei Integrationsfragen keine Rolle spielten. Wie wenn sie einen problemlosen Islam vertreten würden, über den nicht weiter geredet werden müsste.

Linkes und Aufklärung

Eine weitere tiefere Ursache für die fundamentalen Irrtümer von Senocak könnte in dessen Verwurzelung in linken Ideologien liegen. Er führt wiederholt die Frankfurter Schule an und hat sich auch deren sprachliche Diktion zu eigen gemacht, wie der Leser anhand folgenden Satzes schnell bemerken wird: „Stattdessen spricht man nur über andere, die man vom Hörensagen kennt, viel zu oft in einer Form, in der man schon einmal über andere gesprochen hatte, bevor man dazu überging, sie zu liquidieren.“ Aus diesen Worten spricht präzise der Ungeist der Frankfurter Schule, der alles Spießige nicht als etwas typisch Menschliches, sondern als etwas typisch Deutsches interpretiert, das zudem immer und unweigerlich in Auschwitz enden muss. Konsequent vergleicht Senocak die Integration von Muslimen mit der schlussendlich gescheiterten Integration von Juden bis 1933.

Senocak erwähnt auch mit keinem Wort jene linke Geistesströmung in Deutschland, die nur scheinbar zuwanderungsfreundlich ist, in Wahrheit aber die Zuwanderung dazu instrumentalisiert, einerseits Zuwanderer als linke Wähler ins Land zu holen und andererseits das deutsche Wesen zu „verdünnen“. Aus deutschem Selbsthass blockiert diese Sorte Linke die Integration wo immer es geht, während bürgerliche Kräfte sich schwer tun, Gegenpositionen zu behaupten, ohne als Nazis verschrieen zu werden. In einer Untersuchung über deutsche Identität und Integration hätte das nicht fehlen dürfen, denn schießlich rührt ein ganz wesentlicher Teil des ganzen Schlamassels von diesem Grund her. Aber Senocak wühlt lieber in den romantischen Untiefen der deutschen Seele als linke Lebenslügen zu entlarven, wie es z.B. Seyran Ates tut.

Die durch Auschwitz gebrochene Identität der Deutschen könnte nach Senocak vielleicht am Ende sogar eine bessere Grundlage für Integration sein als die ungebrochenen Nationalidentitäten von Frankreich oder England. Das erinnert an Joschka Fischer, der die deutsche Nation in Auschwitz begründet sehen möchte. Hier ahnt man einmal mehr, was Senocak unter einem „deutschen Traum“ verstehen könnte.

Senocak sieht in Deutschland „zu viele Türsteher, aber nur wenige Empfangsdamen“ – von der übermäßig entwickelten Integrationsindustrie jedoch schweigt er. Sie kommt bei ihm nicht vor. An keiner Stelle seines Buches.

Lesung

Zur offiziellen Buchpräsentation am Abend des 17.03.2011 in der Alten Nikolaischule in Leipzig: Die Atmosphäre auf der Autorenlesung war vom Geist einer linksliberalen Schickeria geprägt. Senocak riss z.B. den allzu billigen Witz von den Bayern, die selbst nicht richtig Deutsch könnten. Den EU-Beitritt der Türkei sieht Senocak als große Chance für Deutschland. Dass sich dann viele Türken auf den Weg nach Deutschland machen würden, hält Senocak für ein Hirngespinst. Thilo Sarrazin galt auf dieser Lesung als eine Witzfigur, deren äußerst bedenkenswerte Thesen in keiner Weise ernst genommen wurden – dies ist selbst wiederum eine Haltung, die man kaum ernst nehmen kann.

Die Moderatorin sprach das Wort „Migrationshintergrund“ mit betonter Verlegenheit aus: Wie schlimm dieses Wort doch sei, aber sie müsse es doch in den Mund nehmen. Sie echauffierte sich auch, wie schlimm es sei, dass wir Deutschen immer noch nicht gelernt hätten, wie die Namen unserer türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgesprochen werden; über die Unmöglichkeit, sämtliche Schriftsysteme dieser Welt zu beherrschen, sprach sie nicht. Die Grenze des Zumutbaren ist ja bereits bei den Aussprachen der Zeichensysteme der direkten Nachbarländer Deutschlands, Tschechien, Dänemark, Niederlande, Luxemburg, Belgien, Frankreich, Polen usw. überschritten.

Ich weiß bis heute nicht, wie sich der Name „Zafer Senocak“ mit Cedille am großen S ausspricht, denn der anwesende Vertreter der Körber-Stiftung und die Moderatorin sprachen den Namen an diesem Abend … unterschiedlich aus! Da Zafer Senocak ein Deutscher ist, sollte er seinen Namen vielleicht einmal mit Buchstaben schreiben, die auf einer deutschen Tastatur auffindbar sind, ich vermute: „Safer Schenodschak“. Wladimir Kaminer hat auch keine kyrillischen Buchstaben in die deutsche Sprache eingeführt, als er seinen Namen eindeutschen ließ (er hatte mit der deutschen Schreibung seines Namens bekanntlich ganz andere Probleme!).

Zafer Senocaks Buch ist im Verlag der Körber-Stiftung erschienen. Die Körber-Stiftung initiierte u.a. auch das „Netzwerk türkeistämmiger MandatsträgerInnen“ in deutschen Parlamenten.

Fazit

Zafer Senocak hat auf der Grundlage eines schwärmerisch-romantischen Traumbildes von türkischer Staatsideologie und türkischem Islam und auf der Grundlage einer linksradikalen Ideologie von einer kulturfreien Pseudo-Aufklärung, die er „Zivilisation“ nennt, ein Machwerk randvoll mit Irrtümern veröffentlicht. Die Befolgung seiner Vision würde die – ja! – Zivilisation, d.h. die aufgeklärte deutsche Kultur in Deutschland zerstören, dem unaufgeklärten Islam breiten Raum geben und das unaufgeklärte national-islamische Türkentum in Deutschland massiv unterstützen.

Senocak ist ganz offensichtlich Teil jenes irren Völkchens geworden, das man Deutsche nennt, das seit jeher Träume und fixe Ideen ungeachtet der Realität bis zum Exzess durchexerziert. Senocak ist in diesem Sinne ein allzu deutscher Deutscher, weniger Deutschsein wäre bei ihm mehr gewesen. Die individuelle Integrationsgeschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg, die Senocak nebenbei auch noch erzählt, ist übrigens wesentlich „kultureller“, als man angesichts der puristischen Ideen von Senocak meinen könnte, und verdient Respekt.

Senocak unterschlägt konsequent seine ideologische Konkurrenz, so z.B. das Konzept der „Transkulturalität“ von Seyran Ates oder die „Schule von Ankara“. Senocak unterschlägt ebenso konsequent die real existierenden deutschen Islamverbände, die real existierende deutsche Integrationsindustrie und den real existierenden linken deutschen Selbsthass.

Es besteht die Gefahr, dass die aufklärungsfeindlichen, romantischen Träumereien von Zafer Senocak im Sinne des eingangs dargelegten guten äußeren Eindruckes seines Büchleins in der Öffentlichkeit unter dem Stichwort „Aufklärung“ diskutiert werden. So wird ja auch die Vielfalt-Ideologie unter dem Stichwort „Integration“ angepriesen, obwohl sie genau das Gegenteil von Integration anstrebt.

Dem Leser sei als alternative Lektüre folgendes Buch empfohlen: Seyran Ates: „Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“.

Hinweis: Auch Seyran Ates mit Cedille am kleinen s würde gut daran tun, sich kurzerhand deutsch zu schreiben: „Atesch“. Würde diese Eindeutschung der Schreibung denn so weh tun? Sie ändert die Aussprache ja nicht, sondern im Gegenteil, sie schützt die Aussprache vor Veränderung – sonst heißen die Nachfahren eines Tages „Ates“ ohne Cedille am kleinen s! Und wie gesagt: Wir können unmöglich sämtliche Zeichensysteme der Welt bei uns einführen, selbst bei bestem Willen nicht. [PS 25.07.2023: Grundsätzlich ist und bleibt die Schreibung des eigenen Namens natürlich auch eine sehr persönliche Sache. Wir können hier nur zuraten.]

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 25. März 2011)

Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können (2007)

Hört auf diese Frau! – Goldene Worte in Marmor gemeißelt

Die Probleme der Integration lösen sich leider nicht von selbst, wie viele noch vor Jahren gehofft haben. Die Probleme müssen also analysiert und angepackt werden. Aber der gelernte BRD-Bürger weiß: Das Thema Integration ist ein ideologisch hochgradig vermintes Gelände. Und im Stillen ahnt er, dass eine echte Problemlösung bereits an der äußerst mangelhaften öffentlichen Problemanalyse scheitert.

Und genau hier überrascht das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates: Sie kennt keine ideologischen Scheuklappen und wagt es, sich ihrer Vernunft ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen, um die Dinge so zu beschreiben, wie sie nun einmal sind; darauf aufbauend kann sie intelligente Lösungsansätze entwerfen. Diese Natürlichkeit des Denkens und ihre herzerfrischende Menschlichkeit lassen Seyran Ates alle Sympathien des Lesers zufliegen. Ihre Glaubwürdigkeit baut auf ihrer Lebenserfahrung auf: Selbst eine transkulturelle „Deutschländerin“ – ein Begriff, den Ates positiv besetzt – arbeitet sie in Berlin als Rechtsanwältin für Migrantinnen, wofür sie mitunter mit dem Tod bedroht wird; einen Mordanschlag hat sie bereits mit Müh und Not überlebt. Als Teilnehmerin an der Islamkonferenz des Bundesinnenministers wird sie von den dort vertretenen Islam-Funktionären angefeindet, an deren Verfassungstreue – nach eigenen Angaben – nicht einmal der einladende Innenminister glauben will.

Das Buch ist umfassend und lässt keinen Aspekt aus: Die unumgängliche Notwendigkeit einer Reform und Aufklärung des Islam wird genauso angesprochen wie die „schwere Schuld“ (sic!) der „urdeutschen Multikulti-Fanatiker“ und ihre vollkommen gescheiterte Gesellschaftspolitik. Ohne mit der Wimper zu zucken entlarvt Seyran Ates die politisch korrekten „Lösungen“ als fatale Irrwege: Nicht ein islamischer Religionsunterricht unter der Kontrolle der oben angesprochenen Islam-Funktionäre führt zu Integration und freiheitlicher Gesinnung, sondern z.B. ein gemeinsamer, weltanschaulich orientierender und aufklärender Unterricht für alle Kinder unter demokratischer Kontrolle. Nicht die servile Anbiederung an Migranten in deren Herkunftssprache führt zu einem guten Miteinander und gegenseitigem Respekt, sondern die konsequente Etablierung der deutschen Sprache als der in Deutschland geltenden lingua franca. Nicht die als Toleranz getarnte Akzeptanz einer wie auch immer motivierten Diskriminierung von Frauen und Mädchen bricht die Abschottung von Parallelgesellschaften auf, sondern die kompromisslose Durchsetzung der Gleichberechtigung.

Sehr wertvoll und für den Leser von unschätzbarem Wert sind die Einblicke in das Denken und Fühlen der türkischen Migranten, die uns Seyran Ates als Insiderin vermittelt: Wie verstehen die Zuwanderer den Islam konkret und praktisch, jenseits aller Theorie? Wie definieren sie Ehre, Respekt und Sexualität? Und was denken türkische Migranten über deutsche Behutsamkeiten, wenn gleichzeitig im türkischen Fernsehen eine tabulose Kampagne gegen häusliche Gewalt läuft und hunderttausende Türken in ohnmächtiger Wut gegen die Islamisierung ihres Landes auf die Straße gehen?

Wer das und noch viel mehr erfahren will, der sollte ARD und ZDF abschalten, Frankfurter Rundschau und FAZ in die Tonne treten und statt dessen zum Buch greifen: Zum „Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates, einem Buch, dessen analytische Schärfe und programmatische Kraft von manchen inzwischen mit den Standardwerken der 68er-Bewegung verglichen wird. Es bewegt sich wieder etwas in Deutschland. Es wurde auch Zeit.

PS 11.03.2016

Ein Grundkonzept von Seyran Ates ist die Transkulturalität:

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 4. August 2012)

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