Schlagwort: Depression

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte (2015)

Sensibler, geistreicher Psycho-Thriller mit (Selbst-)Reflexionen über Autoren und Literatur

Die Schriftstellerin Delphine hat Kinder, eine Beziehung und Freundinnen, doch alles eher fern: Die Kinder sind aus dem Haus, der Partner ständig auf Reisen, die Freundinnen wohnen in anderen Städten. Als Delphine in eine Schaffenskrise gerät, begegnet sie L. (im Französischen gesprochen wie „elle“, also ein unkonkretes „sie“). Diese L. kennt Delphine erstaunlich gut, taucht immer im entscheidenden Moment wie zufällig aus dem Nichts auf, und drängt sich immer mehr als vermeintlich beste Freundin in ihr Leben. Schließlich installiert sich L. in Delphines Wohnung, beantwortet ihre e-mails und unterbindet jeden anderen Kontakt soweit wie möglich. Die Atmosphäre ist gedämpft, und L. sorgt dafür, dass Delphine samtweich verpackt vor ihren Mitmenschen und vor ihrem eigenen Denken abgeschirmt wird. Dann beginnt L., sich herrisch zu benehmen.

* * * Spoiler-Warnung * * *

Was hat es mit L. auf sich?

Eine erste Fährte, auf die der Leser gelockt wird, ist der Verdacht eines Identitätsklaus oder vielleicht auch Identitätstauschs. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Delphine und wegen ihrer erstaunlichen Kenntnisse über Delphine und ihr Werk fährt L. anstelle von Delphine auf eine Autorenlesung. Doch das ist es nicht. – Eine weitere Fährte ist, dass L. als Ghostwriterin für berühmte Persönlichkeiten Autobiographien schreibt, und sich bei diesen jeweils vorübergehend „einnistet“, um alle Informationen für das Werk zu bekommen. Genau das tut L. bei Delphine. Und auch Delphine beginnt, heimlich eine Biograhie von L. zu schreiben. Dazu passt, dass L. von Delphine ständig fordert, ein „wahres“ Buch über sich selbst zu schreiben. Doch auch das ist nicht die richtige Spur. – Am Ende laufen die Biographien beider ineinander, und L. versucht, Delphine zu vergiften, scheitert aber damit.

Danach ist L. aus dem Leben Delphines verschwunden, aber L. hat unter dem Namen von Delphine ein Manuskript bei ihrem Verlag eingereicht, das hervorragend ist: Eine Biographie von Delphine und ihrem Leben mit L. Es ist im Grunde das Buch, das der Leser in Händen hält. Es stellt sich heraus, dass L. eine depressive Fiktion von Delphine war, die das im nachhinein alles gar nicht glauben kann. Deshalb stellt sie Nachforschungen an, die ergeben, dass nicht die geringste Spur von L. zu finden ist. Wir erfahren im Verlauf des Buches schrittweise, dass Delphine eine unmöglich gemachte Jugend hatte (die meisten berichteten Traumata entpuppen sich jedoch als Fiktion in der Fiktion, inspiriert durch Delphines Lieblingsbücher).

Die Stärken des Buches sind:

  • Die Sensibilität und Präzision, mit der die Verletzungen von Delphine und L. entfaltet werden. Der „samtweiche“ Schreibstil.
  • Die augenscheinliche Realität von L. und das ungläubige Staunen auch des Lesers, dass es L. gar nicht gibt (gespiegelt im ungläubigen Staunen von Delphines Partner François).
  • Die Genialität der Konstruktion der Beziehung von Delphine und L., die sich dem Leser erst ex post in allen Raffinessen enthüllt. Man blättert wiederholt zurück, und versteht manche Stelle erst dann richtig.
  • Die mehrfache Selbstreflexivität: Das Buch, das der Leser in der Hand hat, ist das Buch, das im Buch geschrieben wird. Die meisten Horrorgeschichten entpuppen sich als Fiktion in der Fiktion. Und die im Buch angestellten Überlegungen über Literatur werden praktisch an diesem selben Buch durchexerziert.

Weitere Themen sind:

  • Das Leben und Leiden eines Schriftstellers, sein Kontakt zu Verlagen und Lesern, ganz unabhängig von Depressionen.
  • Die Frage nach Wahrheit und Fiktion in der Literatur. Dieses Thema wird in vielen Facetten durchgespielt. Von den „Realitätseffekten“ des Roland Barthes, über den Satz von Jules Renard, dass eine Wahrheit, die über fünf Zeilen hinausgeht, bereits ein Roman ist, bis hin zu der sinnlosen Frage nach der „reinen“ Wahrheit (während die ebenso sinnlose Frage nach der „reinen“ Fiktion so gut wie nie gestellt wird). Vorgeführt wird dies an dem Verwirrspiel um Delphine und L. und deren Biographien, gespeist aus ihrer realen Biographie, aus den fiktionalen Gehalten von Delphines letztem Buch, und aus Schlüsselstellen von Delphines Lieblingsbüchern (fast alle traumatischen Erlebnisse entpuppen sich am Ende als Fiktion in der Fiktion, S. 346; die tote Mutter von Delphine soll sogar quicklebendig sein, S. 324).

Im Grunde ist „Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan eine Art Psycho-Thriller, aber er ist nicht auf Action, Horror und Effekt getrimmt, sondern sensibel, intelligent und geistreich.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. März 2019)

Ewald Arenz: Alte Sorten (2019)

Zwei beschädigte Seelen treffen aufeinander und finden aneinander Heilung

Die Jugendliche Sally tut sich schwer damit, sich in die „vernünftige“ Welt einzuordnen, ist wahnsinnig misstrauisch gegen alles und jeden, reagiert hysterisch, ritzt sich, wird deshalb von ihren aalglatten und verständnislosen Eltern von Klinik zu Klinik geschickt, und reißt eines Tages aus – da trifft sie auf Liss, die alleinstehend und schon über 40 einen Bauernhof mit allem drum und dran umtreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf, sagt nicht viel, lässt sie gleichmütig gewähren und an den Arbeiten des Bauernhofes teilhaben. Sally erfährt zum ersten Mal die Freiheit, die sie benötigt, und beginnt Interesse an dem ihr völlig unbekannten Landleben zu zeigen. Aber Liss ist keineswegs die heile Seele, als die sie zunächst erscheint. Nach und nach zeigen sich ihre Beschädigungen, und nun ist es an Sally, Liss vor dem Abgrund zu retten.

Eine wunderschöne Geschichte von zwei Menschen, die aneinander ihr Glück finden und beste Freunde werden. Es sind genau die richtigen zwei aufeinander gestoßen. So ist es auch im richtigen Leben. Wir wollen und sollen alle freundlich und hilfsbereit zueinander sein, aber das alles muss dennoch an der Oberfläche bleiben. Nur in seltenen Fällen geschieht es, dass sich zwei Seelen treffen, die sich mehr zu sagen haben als das. Und manchmal trifft man eben keine. Dann bleibt man allein. So wie Liss, die immer an die Falschen geriet, und sich daraufhin in ihrem Leben durchaus sinnvoll eingerichtet hatte, soweit es ihr möglich war, mit ihrer Arbeit, mit ihren Büchern, und mit ihrem stoischen Gleichmut.

Der Roman wird ruhig erzählt und entfaltet mit einfachen Worten eine eindrucksvolle Geschichte. Neben dem eigentlichen Thema ist der Leser mindestens genauso fasziniert wie Sally von den Einzelheiten des Landlebens. Ein wahres Lesevergnügen, das zum Nachdenken über das Leben anregt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Verfasst Februar 2022.