Sarrazins „Schwarze Legende“ des Islams stimmt so einfach nicht

Zum Islam gibt es eine „Schwarze Legende“. Sie besagt, dass der Gründer des Islam ein blutrünstiger Kriegsherr war, der rücksichtslos ganze jüdische Völkerschaften abschlachtete. Der Koran rufe zur Tötung der Ungläubigen u.a. schlimmen Dingen auf. Die ganze islamische Geschichte sei eine durchgängige Orgie von Gewalt, Sklaverei und Krieg. Dieser „Schwarzen Legende“ zufolge ist der Islam im Kern böse und nicht reformierbar, denn bereits der Gründer des Islam wäre ein böser Mensch gewesen, und die bösen Dinge stünden unmissverständlich im Koran. Und diese „Schwarze Legende“ macht sich nun auch Thilo Sarrazin zu eigen.

Koran und Mohammed

Sarrazins Koraninterpretation ist denkbar schwarzgemalt. Weniger, weil Sarrazin bewusst schwarz malt, sondern weil er einfach nicht gebildet genug ist, um die Untiefen der Koraninterpretation zu kennen.

Eine historisch-kritische Interpretation nennt Sarrazin zunächst grundsätzlich sinnvoll (S. 24), aber dann wird deutlich, dass das wohl nur eine vorgeschobene Schutzbehauptung gegen Kritiker ist. Denn in Wahrheit hält Sarrazin eine historisch-kritische Deutung für eine FALSCHE Deutung, denn er unterstellt ihr, die Botschaft des Koran in ihr „Gegenteil“ zu verdrehen (S. 205). Wer so denkt, hat die historisch-kritische Methode nicht verstanden! Die Traditionalisten sind es, die die Botschaft im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil verdreht haben! Die historisch-kritische Methode will das Original hinter den Verdrehungen zurückgewinnen.

Die historisch-kritische Methode lehrt uns, dass die Anfänge des Islam anders waren, als es sich die Traditionalisten vorstellen. Der Koran sagt über Mohammed praktisch nichts und enthält viele zusammenhanglos dastehende Sätze, die sehr leicht so oder so interpretierbar sind. Die Prophetenbiographie von Mohammed, in der die eigentlich schlimmen Dinge stehen, wurde jedoch erst 150-200 Jahre nach Mohammed geschrieben und ist in vielen Punkten nachweislich falsch. Davon weiß Sarrazin aber nichts!!! (S. 46 f.). Insbesondere die Judenschlächtereien haben so niemals stattgefunden, sondern sind eine spätere Konstruktion, um die Juden aus der Umma herauszudrängen, zu der sie zu Mohammeds Zeit dazu gehörten. Und anders als der Koran gilt die Prophetenbiographie nicht als von Gott geoffenbart, was ihre Kritik sehr erleichtert. Der Islam kann genauso wie das Christentum mithilfe der historisch-kritischen Methode reformiert werden.

Sarrazin wendet außerdem ein, dass im Zeitalter der Massenmedien nur noch die wörtlichen Interpretationen von Texten gelten würden, nicht mehr die Interpretationen von (Reform-)Gelehrten (S. 56). Und dann sähe es für den Koran schlecht aus. Was für ein Unfug! Die verbreitete Wahrnehmung von Texten wie z.B. Verfassung, Koran oder Bibel (oder Sarrazins Bücher!) wird durch Schule und Medien bestimmt, nicht durch Eigenlektüre Einzelner. Wenn Sarrazin Recht hätte, wie erklärt er dann, dass Christinnen im Zeitalter der Massenmedien nicht mit Kopftuch rumlaufen und sich dem Manne untertan machen? So steht es nämlich im Neuen Testament, wenn man es nur wörtlich liest.

Geschichte des Islam

Im Goldenen Zeitalter des Islam rezipierte die islamische Welt die antiken Denker und schlug einen rationalistischen Weg ein. Zur gleichen Zeit ging es in der christlichen Welt ziemlich barbarisch und ungebildet zu. Später tauschten islamische und christliche Welt die Rollen. Auch die christliche Welt wurde erst modern, als sie die antiken Denker rezipierte, und auch für die christliche Welt gibt es keine Garantie, dass die Moderne von Dauer ist. Es ist falsch zu glauben, dass das Christentum immer top, und der Islam immer flop waren. Diese Dinge sind veränderbar!

Die Reformen des Islam haben bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Aber Sarrazin weiß davon nichts!!! Die Namen Dschamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abdu kommen in seinem Buch nicht vor. Viele islamische Länder waren mittlerweile z.B. sozialistische Länder. In Persien griff der Schah auf die vorislamische Tradition zurück. Heute zeigt man Fotos, wie man in den 1960er Jahren in vielen islamischen Ländern in westlicher Kleidung ohne Kopftuch herumlief. Der Wandel zum Kopftuch geschah nicht vor 1400 Jahren, sondern erst in den letzten Jahrzehnten, und so schnell dieser Wandel gekommen ist, so schnell könnte er auch wieder umgedreht werden, denn die ungebrochene Verwurzelung seit 1400 Jahren gibt es schlicht nicht.

Es ist einfach falsch, dass der Islam ein unveränderlicher, seit 1400 Jahren gleich gebliebener Monolith wäre. Die Anfänge waren anders. Das Goldene Zeitalter war anders. Die 1960er Jahren waren für uns alle erfahrbar anders. Es ist offensichtlich, dass es mit dem Islam auch anders geht.

Um 1900 sprach man vom Katholizismus genauso wie Sarrazin jetzt vom Islam. Der katholische Glaube sei rückständig, behindere den Fortschritt, und sei nicht reformierbar. Die ganze Kirchengeschichte sei eine einzige Orgie von Gewalt gewesen: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Inquisition. Heute würde kein Mensch mehr so von der katholischen Kirche reden, sofern er bei Trost ist. Allerdings gilt: Ohne Reformen geht es nicht.

Reformpotential des Islam

Wie viele radikale Islamkritiker wartet Sarrazin passiv darauf, dass die Islamreformen sich quasi „von selbst“ vollziehen. Wenn dann nichts passiert, fühlt er sich bestätigt. Außerdem verweist Sarrazin darauf, dass Islamreformer unter Polizeischutz stehen, oder nach dem westlichen Staat als Helfer rufen (S. 207). Daraus schließt Sarrazin, dass Reformen derzeit Wunschdenken sind.

Zunächst ist es ganz falsch, dass von Reformern nicht viel zu sehen wäre. Man muss es aber auch sehen wollen, denn westliche Medien berichten davon nicht auf Seite 1. Immer mehr und mehr Politiker, Religionsgelehrte und Intellektuelle tauchen auf, die etwas bewegen wollen. Reformen werden im arabischen Fernsehen offen debattiert. In Marokko wurde sogar das Gebot zur Tötung von Apostaten historisch-kritisch hinterfragt und vom Rat der Religionsgelehrten (also von Theologen mit einer theologischen Argumentation!) für irrig erklärt. Es tut sich sehr wohl etwas.

Auch Martin Luther überlebte nur, weil er unter „Polizeischutz“ stand. Gewirkt haben seine Reformen trotzdem. Weil der Staat ihm half.

Überhaupt ist es eine Illusion zu glauben, religiöse Reformen würden sich praktisch „von selbst“ vollziehen. Das war noch nie so. Erst recht nicht bei jenen Islamverbänden, die vom Ausland her bei uns gerade zu dem Zweck gegründet worden sind, um Reformen und Integration zu verhindern! Schon immer hat die Politik Einfluss auf die Religion genommen, schon immer war es eine Frage von Macht und Geld. Es ist also völlig plausibel und richtig, davon auszugehen, dass die westliche Welt einen ganz erheblichen Beitrag zu Reformen leisten kann, indem sie Reformer aktiv fördert und Traditionalisten aktiv deckelt. Auf ihrem eigenen Territorium kann die westliche Welt das mit Leichtigkeit und mit gutem Recht, denn der islamische Traditionalismus ist schlicht verfassungsfeindlich. Aber auch in Nahost: Angefangen von Wirtschaftsbeziehungen, über Geheimdienstaktionen bis hin zu militärischem Druck.

Es ist eine politische Grundsatzfrage, ob wir als westliche Welt diese Reformen anschieben helfen wollen oder nicht. Es ist in etwa so wie damals, als die ersten Demokratien in Europa den Bürgern in anderen europäischen Staaten halfen, ebenfalls zur Demokratie zu gelangen. Selbstverständlich sollten wir das tun, es ist in unserem eigenen vitalen politischen Interesse!

Die Maßnahmen Sarrazins

Bei praktischen Maßnahmen ist Sarrazin wie immer zurückhaltender, als die Analyse vermuten lässt. Hier findet sich auch viel richtiges. Neben bekannten Punkten, wie einer Reform der Sozialsysteme, einer klugen Zuwanderungspolitik, oder einer stärkeren Betonung der Integration in die deutsche Gesellschaft (Sarrazin muss natürlich von „Assimilation“ sprechen), findet sich vor allem auch das hier:

Sarrazin möchte die verbliebenen Staatskirchenprivilegien der christlichen Kirchen abschaffen! Weil sie sich überlebt haben. Das ist im Grundsatz richtig. Damit werden dem Islam automatisch die Schaffung ähnlicher Strukturen verweigert. Insbesondere möchte Sarrazin den konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen abschaffen, und für alle Kinder eine Religionskunde einführen, in der ein liberales Islambild gezeichnet wird (wie passt das mit seiner Analyse des Islam zusammen?). Islamtheologische Lehrstühle an den Universitäten findet Sarrazin im Grundsatz richtig, wenn sie nicht traditionalistisch besetzt sind.

Fazit

Sarrazin gehört jetzt auch zu denen, die die „Schwarze Legende“ des Islam verkünden. Diese besteht vor allem in der Idee, dass es für das Islam-Problem KEINE Lösung gäbe, weil religiöse Reformen nicht möglich wären.

Damit liegt Sarrazin erstens sachlich falsch, und zweitens führt der Ausschluss einer Lösung des Islam-Problems zwangsläufig zu einem ungerechten Pauschalurteil über den Islam. Und das ist für eine Integration der Muslime äußerst schädlich: Sarrazin treibt potentiell liberale Muslime in die Arme der Traditionalisten!

In vielen Einzelfragen und vorgeschlagenen Maßnahmen hat Sarrazin zwar Recht, aber er verdirbt auch die guten Gedanken in seinem Buch durch die alles überwölbende Schwarzmalerei.

Alternative Buchempfehlungen

  • Tom Holland: Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs. (Was wirklich am Anfang des Islam geschah.)
  • Prof. Hans Jansen: Mohammed, eine Biographie. (Jansen geht so weit, die Existenz von Mohammed infrage zu stellen. Davon abgesehen aber ein sehr lehrreiches Buch.)
  • Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum.
  • Ahmad Mansour: Generation Allah, und: Klartext zur Integration.
  • Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion.
  • Wikipedia: „Liberale Bewegungen im Islam“.

Warnung an Sarrazin-Gegner

Man löst die Probleme nicht, indem man die Schwarzmalerei von Sarrazin ablehnt. Der Kuschelkurs gegenüber dem Islam kann nicht fortgesetzt werden. Gerade die falsche Toleranz ist es, die zu dem worst case Scenario im Sinne Sarrazins führt. Das darf nicht geschehen!

Es müssen jetzt Zuckerbrot und Peitsche ausgepackt werden, damit der Islam in Europa eine ähnliche Reformentwicklung nimmt wie das Christentum. Reformer müssen massiv gefördert, Traditionalisten müssen effektiv gedeckelt werden. Und für die islamische Welt muss auf allen Ebenen (Wirtschaft, Kulturaustausch, Diplomatie, Enwicklungshilfe, Geheimdienste, Militärischer Druck) intensiv daran gearbeitet werden, dass sich Reformkräfte durchsetzen.

Kurioses

Sarrazin interpretiert den Koran recht schwarz und lehnt eine historisch-kritische Lesart ab, aber in einer Frage ist er völlig auf der Spur der historisch-kritischen Interpretation: Vom Kopftuch stehe nichts im Koran, meint Sarrazin! (S. 44) Recht hat er.

Selbstwiderspruch: Auf S. 28 meint Sarrazin, der Islam sei keine komplizierte Religion und verlange nicht viel vom Gläubigen. Auf S. 47 wird der Islam als kompliziertes System von Regeln für jede Tätigkeit beschrieben, die sich aus den Hadith ableiten. Dieser Widerspruch steckt bereits im islamischen Traditionalismus drin, und Sarrazin hat ihn wohl einfach übernommen, ohne zu merken, dass dieser Selbstwiderspruch geradezu nach einer religiösen Reform schreit.

In Sarrazins allererstem Buch „Deutschland schafft sich ab“ stand auf S. 268 f. ein ziemlich kluger Satz, dessen Weisheit Sarrazin leider verlassen hat:

„Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert … Der innerislamische Krieg zwischen Okzidentalismus und Antiokzidentalismus ist noch in vollem Gange, sein Ausgang ungewiss.“

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. September 2018)